Die Ukraine unter dem neuen Präsidenten

Wahlsieger Wolodymyr Selenskyi bedankt sich beim französischen Präsidenten für die Glückwünsche. Bild: Zeteam

Die überwältigende Mehrheit hat sich für ein Experiment mit Wolodymyr Selenskyi entschieden. Was sind die Eckpunkte seines Programms?

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Der Polit-Satiriker hat dem fünf Jahre amtierenden Petro Poroschenko mit 73% zu 24% eine vernichtende Niederlage zugefügt.

Selenskyi hat sich den Sieg gesichert durch Botschaft 1: "Das alte System muss zerschlagen werden, das der Korruption und Selbstbereicherung." Die große Mehrheit sieht ihn hierzu als unbelasteten, ehrlichen und klugen Anti-Establishment-Prominenten in der Lage. Oder setzt zumindest Hoffnungen darauf.

Botschaft 2: "Die russische Sprache und die Minderheiten, etwa die Ungarn, gehören zu unserem geliebten ukrainischen Vaterland." Diese Ansicht wurde und wird von einer breiten Mehrheit geteilt.

Überspitzt formuliert lautete Poroschenkos Botschaft: Stellen wir den Kampf gegen die Korruption zurück, weil der Feind vor den Toren steht und außerdem noch zahllose seiner Agenten in unserer Festung hat. Wir müssen das Land weiter ukrainisieren, um unsere Reihen gegen den äußeren Feind zu schließen.

Selenskyis Botschaft ist: Ja, wir haben einen äußeren Gegner, aber mit dem kann und werde ich reden. Der Feind steht im Innern, aber es ist nicht eine "fünfte Kolonne", sondern die korrupte Elite. Die Ukraine war und ist ein multiethnisch geprägtes Land. Und kann dies bleiben.

Er ist der erste Präsident der Ukraine, der weder dem "pro-westlich"-nationalistischen, noch dem "pro-russischen" Lager angehört. Wie ist es um die Macht des Präsidenten bestellt?

Handlungsspielraum Selenskyis

Das Staatsoberhaupt ist befugt, die Außen- und Verteidigungsminister, den Chef des Geheimdienstes und des Sicherheitsrats zu berufen. Das Parlament wählt die übrigen Minister aus. Es hat mehr Macht als der Präsident. Zudem könnte Selenskyi bis zu den Wahlen zur Volksvertretung Ende Oktober ein besonders schwacher Präsident sein, weil keine Parlamentsfraktion hinter ihm steht.

Andererseits: Ist Selenskyi nicht mit einem so überwältigenden Mandat ausgestattet, dass die Parlamentarier es nicht wagen werden, sich seinen Reformwünschen zu versagen? Zumindest nicht offen. Julija Timoschenko kündigte am 22. April an, den Präsidenten unterstützen zu wollen.

Da der Ministerpräsident vom Parlament gewählt wird muss Selenskyi voraussichtlich für ein halbes Jahr mit dem Amtsinhaber Wolodymyr Hroysman zusammenarbeiten. Hroysman steht Poroschenko nahe. Auch in der Fernsehreihe "Diener des Volkes" musste der neu amtierende Präsident Holoborodko den Ministerpräsidenten (Juri Tschuiko) von seinem abgewählten und korrupten Vorgänger übernehmen. Tschuiko versucht das unerfahrene Staatsoberhaupt unter seinen Einfluss zu bringen, landet aber schließlich im Gefängnis …

Selenskyi und die Handvoll seines engsten Teams vertrauen sich seit vielen Jahren. Nehmen wir Iwan Bakanow, er und der frischgebackene Präsident kennen sich seit ihren Schulzeiten. Bakanow ist der Rechtsanwalt von Selenskyis Produktionsfirma "Kvartal 95" und Chef der Partei "Diener des Volkes". Er könnte neuer Generalstaatsanwalt werden. Weitere langjährige Kvartal 95-Partner werden Selenskyi in die Politik begleiten.

Darüber hinaus haben sich in diesem Winter erfahrene Kämpen auf Selenskyis Seite gestellt: Anti-Korruptionsaktivisten und nicht zuletzt zwei ehemalige Minister: der für Finanzen (Olexandr Danilyuk) bzw. Wirtschaft (Aivaras Abromavičius). Beide hatten sich vor Jahren genervt bis angewidert von Poroschenko abgewendet und sind nunmehr für Ministerposten im Gespräch - und übrigens mit Kolomoyskyi verfeindet. Ein weiteres Argument, dass der Oligarch keinen bestimmenden Einfluss auf Selenskyi ausübt.

Danilyuk und Abromavičius sind Wirtschaftsliberale, und eine entsprechende Politik ist von Selenskyi zu erwarten. Aber das ist keine Überraschung. Es gibt in der Ukraine keine Partei, keinen Politiker von Belang, die von der wirtschaftsliberalen Linie abweichen. Gewerkschaften sind schwach.

Entspannung innerhalb der Ukraine, mit den Rebellengebieten, zwischen dem Westen und Russland …

Selenskyi könnte den Graben zwischen dem stark russisch geprägten Süden bzw. Osten und dem national-ukrainisch dominierten Westen überbrücken. Er versteht und gibt sich als ukrainischer Patriot, hat aber, wie die Mehrheit der Bevölkerung, ein entspanntes Verhältnis zur russischen Sprache. Selbst während des einzigen Rededuells mit Poroschenko am 19. April wechselte Selenskyi mitunter ins Russische. Das war eine starke Botschaft.

Die unaufgeregte Haltung Selenskyis in der Sprachenfrage könnte eine Einigung im Donbaskonflikt erleichtern. Er betrachtet die Bewohner der Rebellengebiete nicht als Feinde. Er will um sie werben. Das wäre neu. Es wäre möglich, dass der 2017 von Kiew unterbrochene Handel mit den Rebellengebieten wieder aufgenommen wird. Selenskyi hat zudem angekündigt, es den dort lebenden Rentnern zu erleichtern, ihre ihnen von der Ukraine zustehenden Pensionen zu beziehen.

Seit Jahren befürworten die Ukraine, Russland und etwa Deutschland die Stationierung von UN-Blauhelm-Soldaten in der Region. Poroschenko bestand jedoch auf ihrer Stationierung im gesamten von den Rebellen kontrollierten Gebiet, um dieses und dessen Grenze mit Russland unter internationale Aufsicht zu stellen. Dies ist für die Gegner Kiews nicht akzeptabel. Selenskyi hingegen hat angedeutet, dass UN-Soldaten zunächst lediglich an der Front stationiert werden könnten, um einen dauerhaften Waffenstillstand durchzusetzen. Dies würde die Aussichten auf die Umsetzung weiterer Vereinbarungen von Minsk substanziell verbessern und könnte eine Spirale der Entspannung in Gang setzen, auch in Bezug auf das westlich-russische Verhältnis.

Auch die teils belasteten Beziehungen Richtung Westen dürften sich verbessern: Ungarn, Rumänien und Polen sahen ihre seit Jahrhunderten in der Ukraine lebenden Landsleute durch die Ukrainisierungspolitik der vergangenen Jahre drangsaliert.

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