"Wenn ich sehe, wie mit Sahra Wagenknecht umgegangen wird, dann erfasst mich das nackte Grauen"

Thomas Metscher. Bild: Mangroven-Verlag

Der Philosoph Thomas Metscher über den Marxismus als Philosophie, Teil 1

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Das hätte man bereits bei Hegel lernen können: Eine gegnerische Position kritisiert man am wirkungsvollsten nicht, indem man den Kontrahenten moralisch denunziert, seine Argumentation verkürzt und verkleinert und anschließend mit der moralischen Fliegenpatsche draufhaut, sondern im Gegenteil, indem man ihn voll zur Kenntnis nimmt, um daraus die eigene Gegenposition zu entwickeln. Man muss sich in den Umkreis der Stärke dessen stellen, was man kritisiert, man muss den Gegner voll begriffen haben, ihn richtig stark machen, um dann nach seinen blinden Flecken forschen.

Von außen kritisieren kann der Volldepp auch. Leider hat sich bei der Linken Letzteres durchgesetzt. So lässt sich bis auf wenige Ausnahmen auch für die sich marxistisch verstehende Linke konstatieren: Die Linke ist zu blöd für ihre eigene Theorie geworden. Einen Ausweg aus diesem absoluten Degenerationsfiasko präsentiert der Philosoph Thomas Metscher mit seinem Buch "Integrativer Marxismus".

Herr Metscher - Sie haben Ihr Buch "Integrativer Marxismus" genannt. Was hat es damit auf sich?

Thomas Metscher: Die Grundhypothese des vorliegenden Buchs ist von der Vermutung getragen, dass der Marxismus noch über unausgelotete Möglichkeiten der Entwicklung verfügt, die ihn befähigen, in der Zukunft erneut eine weltgestaltende Rolle zu spielen. Er wird dies freilich nicht in jeder beliebigen, sondern allein in einer gegenüber den heute gängigen Marxismen veränderten Gestalt tun können. Zudem ist nicht von oben herab zu deklarieren, wie die "neue" Gestalt des Marxismus verfasst sein soll, vielmehr ist dies argumentativ zu erkunden. Solche Erkundungen versucht das vorliegende Buch zu leisten. In diesem Sinn stellen sie Überlegungen zum Marxismus - seiner Restauration, seiner Weiterentwicklung, seiner zukünftigen Gestalt - zur Diskussion.

Der Begriff des Integrativen zeigt die Richtlinie der vorgenommenen Erkundung an. Mit dem Begriff ist keine neue Form des Marxismus gemeint - an Marxismen haben wir schon übergenug -, vielmehr will er, in Erinnerung an die Klassiker, das Gemeinsame der oft sektenförmig zerstrittenen Marxismusformen in Erinnerung rufen. Dieses Gemeinsame, die Kernkategorie des von Marx und Engels begründeten "neuen" Materialismus, ist die Dialektik - und ihr zugeordnet die Geschichte. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu denken, beide stehen in dialektischer Relation. Es gibt keine Geschichte, die nicht durch Gegensätze strukturiert wäre (der Klassenkampf ist ein solcher Gegensatz) - wie es keine Dialektik gibt, die nicht auf die eine oder andere Art geschichtlich wäre: Teil eines prozessualen Geschehens.

Wenn, nach Wittgenstein, die Welt alles ist, "was der Fall ist", das heißt "die Gesamtheit der Tatsachen", so ist alles, was der Fall ist, dialektisch verfasst und kann in dieser Dialektik auch nur dialektisch erfasst werden. Die Tatsachen selbst sind werdend-gewordene, dialektisch-prozessual. In diesem Sinn ist Dialektik eine Seins-Kategorie, zugleich aber ist sie eine Kategorie der Methode, also des Verfahrens, Seinsverhältnisse theoretisch zu erfassen.

Dialektik ist, mit Lenin4 , Weg des Denkens und Bewegung des Seins, eine zugleich logische und ontologische Kategorie. Hinzugefügt sei, dass hier die logisch-methodologische und die ontologische Kategorie - Subjekt und Objekt - selbst ein dialektisches Verhältnis bilden. Für uns (den menschlichen Geist) gibt es keine Welt ohne Subjekt, wie es ohne Welt kein Subjekt gibt. Subjekt und Objekt bilden eine dialektische Relation. Welt als menschliche ist nur als vielschichtig vermittelte prozessuale Subjekt-Objekt-Struktur. Es ist dies die Grundstruktur eines vielschichtigen In-der-Welt-Seins, und diese Struktur gilt für den Raum wie sie für die Zeit gilt. Menschliches Dasein ist Sein in der Zeit wie es Sein im Raum ist- diese Einsicht gilt unterscheidet die marxistische Humanontologie von jeder existentialen.

Was ist der Kern dieser Dialektik?

Thomas Metscher: In dem hier zugrunde gelegten Verständnis ist der Widerspruch (beziehungsweise Gegensatz) als Relation und Prozesszusammenhang. Relation bedeutet, dass die gegensätzlichen Glieder aufeinander bezogen sind. Kernkategorien der Dialektik sind bestimmte Negation und Synthesis. Wenn hier vom Integrativen innerhalb des Marxismus gesprochen wird, so ist das Vermögen der Synthesis - die Kraft der Synthesis - gemeint, welche die dialektische Bewegung über die Negation hinaus treibt: die "Negation der Negation" als Fähigkeit, den Gegensatz, beziehungsweise Widerspruch im positiven Sinn aufzulösen ("aufzuheben"), dies schließt ein, das in der Negation Negierte in seinem positiven Sinn zu bewahren. Auf diese Weise wird gegenüber der Ausgangslage "Neues" konstituiert, das zugleich das Wahre des Alten dem neuen Zustand einverleibt, im Sinne des Satzes: "Prüfet alles, das Gute behaltet."

Bestimmte Negation, beziehungsweise Kritik gehört also wesensmäßig zum Materialismus, wie ihn Marx und Engels begründeten...

Thomas Metscher: Ja, aber als Prozesszusammenhang, in der Totalität aller Glieder, ist Dialektik erst als umgreifendes Allgemeines erfasst: also dann, wenn der Gegensatz in der Form der Synthesis aufgehoben ist. Es ist davon auszugehen, dass in dieser Gesamtbewegung Dialektik bereits im Denken von Marx und Engels präsent war. Bei Lenin war sie es sicherlich - wie ein Blick auf seine "Konspekte zur Hegelschen Logik" belehren kann.

"Integrativer Marxismus" meint dann jede Form des Marxismus, die auf der methodologischen Ebene über die Kritik hinaus die Wahrheitsmomente des Kritisierten in ein neues Konzept integriert, dem Körper der neuen Theorie einverleibt; in der Weise, dass so die neue Theorie eine Bereicherung erfährt, ein theoretischer oder praktischer Fortschritt möglich wird.

Dieser Gesichtpunkt gilt für alle drei konzeptiven Bereiche des Marxismus: Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Er gilt für marxistisches wie nichtmarxistisches Denken, wo immer solches Denken Momente von Wahrheit besitzt. Dies mag nicht in jedem gegebenen Fall zutreffen; ein Wahrheitsprivileg gibt es nirgendwo. In jedem Fall ist es das Ziel des integrativen Denkens, Getrenntes zusammenzuführen, das Herstellen von Zusammenhängen, das Schaffen von Einheit, wo immer sie möglich ist. Solches Verfahren bedeutet freilich keinen Verzicht auf Kritik, sondern allein, auch das Kritisierte in seinen Wahrheitsmomenten (wenn solche denn vorliegen) dem marxistischen Denken einzufügen.

"Was zu konstatieren ist, ist ein sektenartiger Zerfall"

Wird diese Form des Marxismus irgendwo praktiziert? Ich habe eher das Gefühl, die gesamte Linke hat sich auf das Moralisieren und die Denunziation des Gegners verlegt...

Thomas Metscher: Ihr Gefühl, fürchte ich, ist der Wahrheit nicht gar so fern - im theoretischen Bereich wie in dem praktischer Politik. Wenn ich sehe, wie mit einer Person wie Sarah Wagenknecht, der sicher stärksten Gestalt der politischen Linken in Deutschland, umgegangen wird, nicht zuletzt auch in einem publizistischen Medium wie der Jungen Welt, dann erfasst einen das nackte Grauen. Ohne den geringsten Skrupel und bar jeder argumentativen Auseinandersetzung, die den Namen verdient, wird diese hochverdiente Genossin mir nichts, dir nichts der AfD zugeordnet.

Und dieser "Umgang" betrifft nicht allein die politische Praxis, er betrifft auch die Theorie. Hier erinnere ich an den Umgang von Hans Heinz Holz mit Wolfgang Fritz Haug und umgekehrt - doch sind solche Defizite nicht auf die großen Namen beschränkt. Sie sind weitgehend normal für den Umgang der Linken untereinander. Was zu konstatieren ist, ist ein sektenartiger Zerfall und kaum mehr das Bewusstsein, dass man damit das politische Geschäft des Gegners betreibt. Dank sei allen Heiligen in unserem philosophischen Kalender, dass es Ausnahmen gibt, doch sind sie sich oft des Problems gar nicht voll bewusst; doch ohne solche Ausnahmen wäre der Krieg verloren, bevor die Schlachten geschlagen sind, und wir könnten unsere eigenen Köpfe zum Richtblock tragen.

Mein eigener Versuch, die integrative Kraft des Marxismus in den Mittelpunkt eines sowohl theoretischen wie praktischen Projekts zu stellen, ist von solchen Gedanken inspiriert - im negativen wie im positiven Sinn.

In Teil 2 des Gesprächs äußert sich Thomas Metscher unter anderem über das Integrationspotential postmoderner Philosopheme in den Marxismus.

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