"Man wird einem anderen Islam begegnen"

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Thomas Metscher über den Marxismus als Philosophie, Teil 2

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Es ist auch im Marxismus common sense einen konträren Standpunkt moralisch zu verwerfen, während eine dialektische Kritik sie insofern richtig stellt, indem sie verzerrten Positionen korrigiert und die richtigen Einsichten vertieft, erweitert, verallgemeinert und die sie in einen systematischen Zusammenhang stellt und sie integriert. So bei Aristoteles, Hegel und Marx selber. Ein Gespräch mit dem Philosophen Thomas Metscher zu seinem Buch "Integrativer Marxismus".

Zu Teil 1: "Wenn ich sehe, wie mit Sahra Wagenknecht umgegangen wird, dann erfasst mich das nackte Grauen"

Herr Metscher, Karl Marx hat in seine Methode und sein System Erkenntnisse aus der Philosophie von Aristoteles bis Hegel und aus der klassischen bürgerlichen Ökonomie von Adam Smith bis David Ricardo integriert und gleichzeitig diese Denker auch grundlegend kritisiert. Marx war also integrativer Marxist. Warum sind diese Ansätze im 20. Jahrhundert nicht weiter geführt worden?

Thomas Metscher: Was Sie zu Marx, seiner Methode und seinem System sagen, entspricht sehr genau meiner eigenen Einsicht und Überzeugung. Man könnte zu den von Ihnen Genannten eher noch weitere Namen hinzufügen, denkt man nur an seine Dissertation über die frühen Materialisten und seine lebenslange Beschäftigung mit Literatur. Ich erinnere hier allein an das große Werk von S.S. Prawer, Karl Marx und die Weltliteratur.

Marx' Konzept war fraglos integrativ, gerade auch in methodischer Hinsicht (ich erinnere an seinen Umgang mit dem alten Materialismus und dem Idealismus in den Feuerbach-Thesen), ohne dass er das Wort dafür gebrauchte - aber die Terminologie ist hier ohne Bedeutung. Er verfuhr integrativ der Sache nach. Gleiches gilt für Engels, Lenin, Labriola, Gramsci, Luxemburg, Brecht, Weiss, Lukács, Bloch, Ngugi - man nenne die Namen. Das integrative Denken, so lässt es sich mit einem Worte sagen, bildet die Hauptlinie des marxistischen Konzepts. Dieses war zudem von Beginn an internationalistisch orientiert - ohne die kulturellen Besonderheiten des Demokratisch-Nationalen drüber zu vergessen, wie es heute geschieht.

In diesen Zusammenhang gehört auch Lenins Konzept der Zwei Kulturen, die Einsicht, dass in der gesamten Geschichte der Klassengesellschaft der herrschenden Kultur eine Kultur der Beherrschten gegenüber steht (zumindest Elemente einer solchen Kultur), die sich als plebejisch, demokratisch, sozialistisch charakterisieren lassen. Es ist ein Konzept, von dem auch auf der Seite der Linken kaum Gebrauch gemacht wird.

Sicher stehen in Konzepten integrativer Kultur nicht immer die gleichen Personen im Kernbereich - mit der Ausnahme wohl der Klassiker erster Ordnung. Hier sind kulturelle und historische Differenzen ins Spiel zu bringen. Sie haben nicht zuletzt damit zu tun, dass der Marxismus plural ist, was freilich nicht dasselbe ist wie integrativ. Plural bezieht sich auf Unterschiede, integrativ auf Gemeinsamkeiten. So gibt es Formen des pluralen Marxismus, die sich von anderen abgrenzen, gerade auch von Formen bürgerlichen Denkens, im Charakter des Integrativen liegt, dass dieser das Gemeinsame sucht - auch und gerade im Pluralen der theoretischen und praktischen Formen.

Warum hat sich das integrative Konzept des Marxismus nicht durchgesetzt?

Thomas Metscher: Das ist nicht leicht zu beantworten. Das hat, meine ich, mit dem Niedergang des Marxismus zu tun, der gerade in dem Zeitraum erfolgte, in der er politisch seine größten Triumphe feierte, nach dem Sieg über den Faschismus. Sie hat mit dem Tatbestand zu tun, dass der Marxismus als politische und philosophisch fundierte Weltanschauung in vielen der sich sozialistisch nennenden Länder unentwickelt war - der integrative Marxismus aber eine hohe politische und theoretische Kultur voraussetzt, die nirgendwo in den sozialistischen Ländern zu finden war.

Dem Dogmatismus der Stalinära war dialektisch-integratives Denken so fremd wie dem Revisionismus der nach Stalin folgenden Epoche. Solche historischen Entwicklungen sind in Rechnung zu stellen, wenn über die Vergangenheit wie die Zukunft des Marxismus gehandelt werden soll.

Inwiefern würden Sie sagen, dass der Marxismus eine Philosophie darstellt? Was sind bislang seine Grenzen? Hier gab und gibt es immer wieder Bestrebungen, die Gedankenwelt von Immanuel Kant in den Marxismus zu integrieren. Welche Ansätze hat Marx von Kant übernommen, was können Marxisten von ihm lernen und was gilt es, an ihm grundlegend zu kritisieren?

Thomas Metscher: Es ist meine Grundüberzeugung, und sie liegt meinen Überlegungen zu einem integrativen, zukunftsfähigen Marxismus zugrunde, dass im Denken von Marx und Engels die Philosophie eine konstitutive Rolle spielt, zukünftig aber noch im hohen Masse ausgebaut werden muss. Dabei aber kann es nicht darum gehen, den Marxismus durch konzeptionelle Motive von Kant anzureichern - alle bislang vorgenommenen Versuche dieser Art sind gescheitert -, die Ausarbeitung der Philosophie muss vielmehr auf dem eigenen Grund und Boden des Marxismus erfolgen. Anzuknüpfen ist dabei an die Theoretiker, die selbst mit gültigen Ergebnissen an einer marxistischen Philosophie gearbeitet haben, so Lenin, Gramsci, Lukács, Bloch, Weiss, Haug, Holz.

Können Sie das konkretisieren?

Thomas Metscher: Was die Position der Philosophie im dialektischen Denken von Marx und Engels betrifft, so bedeutet sie nicht ihre Abschaffung, doch ihre Veränderung. Der Standpunktwechsel vom "alten" zum "neuen" Materialismus, von der "bürgerlichen" zur "menschlichen Gesellschaft", die dadurch errungene Position der "gesellschaftlichen Menschheit", verändert, so sehr auch Verbindungslinien bleiben, Funktion und Bedeutung der Philosophie von Grund auf. Auch diese ist jetzt neu zu konzipieren. Die Zeiten, in denen sie als metaphysisches Separatum über den Dingen schwebte, nur zugänglich den wenigen Auserwählten, die sich Philosophen nannten, sind endgültig vorüber.

Was in der Vergangenheit Metaphysik hieß, verfiel der kritischen Analyse: seit den Empiristen, seit Kant, endgültig dann mit Wittgenstein und der analytischen Philosophie. Was in der metaphysischen Frage als Positivum überlebte, wurde im dialektischen Materialismus, ich nenne hier Hans Heinz Holz, als Dialektik weitergeführt. Auch das Theorie-Praxis-Verhältnis hat bereits die alte Philosophie, in ihren besten Vertretern, als Frage der Philosophie gestellt - doch nicht als Grundfrage. Mit Hegels Tod aber geht die alte Philosophie zuende. Das Gerüst des überkommenen Denkens zerbricht. Vieles davon ist verbraucht, doch Einiges bleibt, das der weiteren Bearbeitung bedarf, Manches tritt jetzt erst in seiner vollen Bedeutung hervor.

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