Das verzerrte Menschenbild im Kapitalismus

Zahllose wissenschaftliche Arbeiten haben der Mär widersprochen, dass der Mensch von Natur aus egoistisch, materialistisch und konkurrenzorientiert sei

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Als der neoliberale Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman von einem Fernsehmoderator gefragt wurde, ob ihm angesichts der Ungleichverteilung des Reichtums manchmal nicht Zweifel am Kapitalismus gekommen seien und ob Habgier wirklich eine gute Basis für die Gesellschaft bilde, fragte Friedman zurück: "Kennen Sie irgendeine Gesellschaft, die nicht über Habgier funktioniert?"

Als Friedrich Hayek, ebenfalls Wirtschaftsnobelpreisträger und eine Ikone des Neoliberalismus, erklärte, der Gesellschaft sei am besten gedient, wenn die Menschen einzig durch das Gewinnstreben geleitet würden, fragte ihn ein Journalist bestürzt: "Ist das nicht eine Philosophie, die hauptsächlich auf Egoismus basiert? Was ist mit Altruismus? Wann kommt Altruismus ins Spiel?" Hayeks Entgegnung lautete schlicht: "Er kommt nicht ins Spiel."

Leben wir in einer Wettbewerbs- und Ellbogengesellschaft, in der jeder seines Glückes Schmied und sich selbst der Nächste ist? Konkurrenz, die niemals schläft, das Geschäft belebt? Der Ich-AG die Welt gehört, denn "the winner takes it all"? Geiz geil ist, und es gilt: Meins. Nicht Deins, denn unterm Strich zähl ich?

Hand aufs Herz:
Ist der Mensch von Natur aus eher egoistisch oder altruistisch?
Ist der Mensch von Natur aus eher auf Konkurrenz oder auf Kooperation gepolt?
Ist der Mensch von Natur aus eher materialistisch oder genügsam?
Hat der Mensch von Natur aus ein natürliches Gefühl für Fairness und Gerechtigkeit oder ist dies vor allem ein Ergebnis der Erziehung?

Sofern Sie davon überzeugt sind, dass der Mensch von Natur aus eher egoistisch und materialistisch ist, Konkurrenzstreben sein Verhalten auszeichnet und Fairness- und Gerechtigkeitsgefühl nicht angeboren sind, sondern erlernt werden müssen, dann gehören Sie sicherlich zur Mehrheit.

Spätestens mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks scheint es eine selbstverständliche Erkenntnis geworden zu sein, dass das kommunistische Menschenbild, welches Gleichheit postuliert, nicht mit der Natur des Menschen übereinstimmt. Aber wie verhält es sich mit dem aktuell herrschenden Kapitalismus, der sich zentral auf mindestens drei menschliche Grundeigenschaften stützt? Nämlich: auf Egoismus, Konkurrenz und Materialismus. Entspricht dieses Menschenbild, das ich der Einfachheit halber - der darin liegenden Reduzierung bin ich mir durchaus bewusst - als "kapitalistisches Menschenbild" bezeichnen möchte, der Natur des Menschen?

Philosophen, Wirtschaftswissenschaftler, Theologen, Psychologen, Soziologen, Biologen und Vertreter vieler Wissenschaften haben seit Jahrhunderten auf abertausenden Seiten ihre Meinungen über die Natur des Menschen geschrieben und ihre jeweiligen Überzeugungen formuliert. Im Zentrum der konkreten wissenschaftlichen Forschung aber steht die Frage nach der menschlichen Natur erst seit relativ kurzer Zeit. Dies Interesse ist umso wichtiger, da die Einschätzung der menschlichen Natur kein Zeitvertreib für ergraute Akademiker ist, sondern ganz konkrete Konsequenzen für die Gesellschaft und das Leben jedes Einzelnen entfaltet.

Eine Frage mit Konsequenzen

Wenn der Mensch von Natur aus egoistisch ist, sollte es das Ziel der Erziehung sein, dem Egoismus Grenzen zu setzen; dem Kind sind dann Schritt für Schritt die gesellschaftlichen Normen für das Zusammenleben zu erklären und anzuerziehen. Wenn der Mensch von Natur aus aber eher altruistisch ist, sollte das Hauptziel der Erziehung darin bestehen, die natürlichen Anlagen des Menschen möglichst frei zur Entfaltung zu bringen.

Ist der Mensch von Natur aus ein Konkurrenzwesen und wird besonders nachhaltig durch Konkurrenz motiviert, dann sind Schulnoten ausgesprochen sinnvoll. Ebenso jede andere Form, die den Vergleich der Schüler untereinander ermöglicht und den Wettbewerb antreibt. Falls aber der Mensch von Natur aus eher kooperativ ist, dann erweist sich gemeinsames Lernen als optimale Lernform und die Notengebung als zweifelhafte, vielleicht sogar destruktive Motivation.

Und nicht zuletzt: Ist der Mensch von Natur aus materialistisch, stellt die Konsumgesellschaft eine Selbstverständlichkeit dar. Ist der Mensch jedoch eher genügsam und teilend, dann erscheint eine nachhaltige Wirtschaft, die sich auf die Produktion zentraler Bedürfnisse konzentriert, anstatt bewusst Überfluss zu erzeugen, nicht nur aus ökologischer Sicht sinnvoll, sondern schlicht der Natur des Menschen angemessen.

Die Antworten der einschlägigen Untersuchungen über die menschliche Natur sind also von fundamentalem Interesse und die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse über unser eigenes Wesen für jeden Menschen von existenzieller Bedeutung.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Die Wiederentdeckung des Menschen" von Andreas von Westphalen. Der Mensch ist von Natur aus egoistisch und faul. Generell ist er darauf aus, den größten Nutzen für sich selbst herauszuschlagen und bringt seine beste Leistung nur unter Konkurrenzdruck. So zumindest die herrschende Meinung in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik - mit weitreichenden Folgen, die wir alle zu spüren bekommen: zum Beispiel in der verfehlten Bildungs- und Sozialpolitik oder in einer zunehmend kontrollierten Arbeitswelt. Das Menschenbild im Kapitalismus ist nichts weiter als eine von der Wirtschaft verbreitete Mär.

Was wäre, wenn der Mensch eine falsche Vorstellung von seiner eigenen Natur hat? Was wäre, wenn wir uns über so etwas Existenzielles täuschen wie unser eigenes Wesen? In diesem Buch werden wir uns nun gemeinsam auf die Reise zu einem weithin unbekannten Wesen aufmachen, einem ebenso faszinierenden wie beeindruckenden Geschöpf: dem Menschen. Die Reise beginnt in Angesicht eines Hurrikans.

Sodom und Gomorra in New Orleans

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Plautus

Als die Medien im Jahre 2005 über die Ereignisse in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina berichteten, brachte die Gouverneurin des US-Bundesstaates Louisiana auf den Punkt, was die Menschen weltweit schockierte: "Am meisten erzürnt mich, dass solche Katastrophen oft die schlechtesten Seiten der Menschen offenbaren." Von Raubüberfällen, Vergewaltigungen, Autodiebstählen und Plünderungen war immer wieder die Rede. Von Schüssen auf Rettungshubschrauber. Und nicht zuletzt von zahlreichen Morden.

Die Bilder der US-amerikanischen Stadt nach dem Hurrikan Katrina und der anschließenden Flut gingen um die Welt. Sie waren ein handfester Beweis, dass eine der verheerendsten Naturkatastrophen der Geschichte der USA einmal mehr die schlimmsten Vorstellungen Wirklichkeit werden ließ, die man vom Menschen haben konnte. New Orleans ähnelte mehr einem Kriegsgebiet als einer modernen amerikanischen Großstadt.

Der Superdome, in dem 30.000 Menschen Unterkunft gefunden hatten, war der Inbegriff des unmenschlichen Schreckens. Ein fassungsloser Bürgermeister der Stadt gestand, dass dort Hunderte von bewaffneten Gangmitgliedern vergewaltigten und mordeten. Die Bewohner seien in einem beinahe animalischen Zustand. Der Polizeichef von New Orleans sprach sogar von vergewaltigten Babys. Berichte bezifferten die Zahl der dortigen Toten auf gut 200.

Um dem Grauen in der Stadt Herr zu werden, befahl der Bürgermeister 1.500 Polizisten, ihre Hilfs- und Rettungsaktionen sofort abzubrechen und gegen die Raubzüge in den Straßen von New Orleans vorzugehen. Die Gouverneurin versprach ihrerseits, "Recht und Ordnung wieder herzustellen", und schickte tausende Soldaten der Nationalgarde ins Krisengebiet, die die ausdrückliche Erlaubnis hatten, auf Plünderer zu schießen.

Tödliche Konsequenzen eines falschen Menschenbildes

Diese Beschreibungen schienen das Menschenbild des britischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes zu bestätigen. Ohne Kontrolle des Staates waren die Menschen nur noch wilde Tiere, deren Brutalität und Mitleidlosigkeit weit mehr Opfer forderte als eine der schlimmsten Naturkatastrophen. "Wäre da nicht eine Kleinigkeit. Diese schrecklichen Beschreibungen sind vollkommen falsch", wie der Psychologe Jacques Lecomte bemerkte, der sich ausführlich mit dieser Katastrophe beschäftigt hat und dem ich die Idee verdanke, mit dieser Geschichte und dem folgenden Kapitel unsere Reise zum Menschen zu beginnen.

"Viele der Medienberichte, insbesondere über zügellose Gewalt im Superdome, erschienen vollkommen unbegründet zu sein", befand der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des US-Repräsentantenhauses im Jahr 2006. Bereits kurze Zeit nach Katrina hatte die renommierte Los Angeles Times kleinlaut zugegeben, dass die Berichte über Vergewaltigungen und Gewalt sowie die Schätzung der Anzahl der Todesopfer falsch gewesen seien. Andere Medien folgten dieser Bewertung. Im Superdome waren tatsächlich nicht 200, sondern sechs Tote zu beklagen. Vier starben an natürlichen Ursachen, einer an einer Überdosis, und ein Mensch hatte Selbstmord begangen.

Viele Berichte waren also maßlos übertrieben oder sogar erfunden, auch wenn einige kriminelle Handlungen, wie etwa die Plünderung eines Walmarts, tatsächlich stattgefunden hatten. Die meisten Plünderungen waren allerdings Taten einzelner, verzweifelter Menschen.

Sicherlich wäre an dieser Stelle eine fundierte Medienkritik gefragt, denn zu oft hatten Journalisten in New Orleans offensichtlich Gerüchte aus zweiter Hand für bare Münze genommen. Sicherlich hat hier auch die Sensationslust über objektiven Journalismus gesiegt, zum Teil schlugen auch rassistische Vorurteile zu Buche. Der entscheidende Punkt für die hier anzustellende Betrachtung ist aber, dass ein Hauptgrund für die vollkommen verzerrte Darstellung das Vorurteil über die Natur des Menschen sein dürfte. Zu eindeutig schienen die Informationen und Bilder zu belegen, dass im Sündenpfuhl von New Orleans Sodom und Gomorra herrschte und sich hier einmal mehr die wahre Natur des Menschen zeigte. Genauso wie es auch die Gouverneurin wortreich beklagt hatte.

Die verdeckte Seite des Menschen

Die Berichterstattung in Politik und Medien, die Zeichen der selbstgefälligen Bestätigung des eigenen Vorurteils war, forderte tragischerweise viele Menschenleben. Denn die Sicherheitskräfte wurden ausdrücklich beauftragt, die Rettung von weiteren Menschen einzustellen, um sich auf die Beherrschung einer völlig aufgebauschten Kriminalität zu konzentrieren.

Die einseitige mediale Präsentation führte aber auch dazu, dass etwas ganz Erstaunliches übersehen wurde. Tatsächlich war ein Großteil der Bürger von New Orleans nicht mitleidlose Egoisten, die über Leichen gingen, sondern spontane Altruisten. Die Geschichten über heldenhafte Helfer sind zahlreich. Stellvertretend sei hier auf das Buch "Heroes of Hurricane Katrina" von Allan Zullo verwiesen. Es präsentiert zehn Menschen, die ihr Leben riskierten, um andere - oftmals ihnen unbekannte Menschen - zu retten. Menschen nutzten ihr Fischerboot oder ihr Kajak, um unbekannte Menschen zu retten. Auch beeindruckend: Ein Großteil der medizinischen Belegschaft blieb in den Krankenhäusern bei den Patienten. Der Polizeichef von New Orleans gestand später, dass "die allgemeine Reaktion der Einwohner von New Orleans überhaupt nicht mit dem von den Medien beschriebenen Bild von allgemeinem Chaos und Gewalt übereinstimmte".

Wenn es also aus New Orleans Lehren über die wahre Natur des Menschen zu ziehen gibt, dann sind es wohl vor allem die überaus bemerkenswerten altruistischen Handlungen, zu denen der Mensch offenbar gerade in Katastrophensituationen fähig ist.

Benutzte Literatur:
Lecomte Jacques: La Bonté humaine. Altruisme, empathie, générosité. Paris 2012.
Ricard, Matthieu: Allumfassende Nächstenliebe. Altruismus - die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit, Hamburg 2017.