Das Manko der marxistischen Theorie

Hat die Gesellschaftsanalyse des Kapitalismus von Marx eine Perspektive?

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In der spontanen FFF-Bewegung, zunächst als Generationenkonflikt erklärt, etablierte sich die Gruppierung "Change for Future", die die Ursachen der von ihr befürchteten apokalyptischen Gefahr nicht als Problem zwischen den Generationen, sondern als systembedingt aus dem Kapitalismus erkennt. Das Interview von Tomasz Konicz mit Change for Future lässt hier Einblick nehmen: "Ein Wirtschaftssystem, das auf Wachstum und Profit ausgelegt ist, kann nicht nachhaltig sein". Die Aussagen können auch als Aufforderung verstanden werden, mehr Klarheit über diese Zusammenhänge zu schaffen. Der vorliegende Artikel soll dazu beitragen, die richtigen Fragen zu finden.

Zum 200. Geburtstag von Karl Marx fühlten sich alle "Marxisten" dazu berufen, einen Beitrag zu leisten - ob sinnvoll oder nicht. Selbst bürgerliche Blätter, Autoren und sogar das Fernsehen hielten mit. Ähnliches ist für den 201. Geburtstag nicht zu erwarten. Der Hype war als endgültiges Marxbegräbnis (lasst doch den alten Mann ruhen!) angelegt. Der Schwerpunkt der publizistischen Ausführungen lag dabei - wie schon in den letzten 160 Jahren - auf der These, dass Marx einen großen Beitrag zur Geschichte des 19. Jahrhunderts geleistet habe, aber zur Geschichte des 20. Jahrhunderts und besonders zum Geschehen des 21. Jahrhunderts nichts mehr beisteuern könne.

Es spricht schon für sich, dass über Marx und seine Theorie, auch 136 Jahre nach seinem Tod, immer noch und immer wieder gesprochen wird. Seine theoretischen Aussagen finden kaum noch Erwähnung, seine aktuelle Bedeutung nun schon gar nicht. Bestenfalls verweist man mit mahnendem Unterton auf das "Manifest" und rein formal auf das "Kapital", verzichtet hier jedoch wohlweislich auf dessen inhaltliche Darstellung.

Marx hat, besonders im "Kapital", die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise verfasst, die, trotz aller gesellschaftlichen Entwicklung und Veränderung, in ihren Grundlagen immer noch aktuell ist. Er hat die kapitalistische Gesellschaft nach den ihr zugrunde liegenden Gesetzen der Warenproduktion und Zirkulation dargestellt.

Diese Gesellschaft funktioniert an der Oberfläche nach dem bewussten Willen und Handeln der Menschen, unter der Oberfläche verbergen sich aber Gesetzmäßigkeiten der Waren- und Geldwirtschaft, die den Menschen nicht bewusst sind, die sie aber unbewusst vollziehen; wie Marx sagt: naturwüchsig. Denn das Wertgesetz ist der heimliche Lenker und Steuermann des Systems. Nur wenn die produzierten Waren am Markt mit Profit verkauft werden, funktioniert das System bis zur Krise reibungslos, egal ob die Menschen Arbeit haben oder satt werden. Die Krise selbst ist aber systembedingte zeitweilige Korrektur, also systemisch notwendig.

Der Kapitalismus ist - in wesentlichen Zusammenhängen - keine von den Menschen nach ihren Bedürfnissen kreativ gestaltete Gesellschaft, sondern ein z. T. hinter ihrem Rücken funktionierendes Selbstorganisationssystem auf welches die Menschen nur bedingt Einfluss haben.

Diese Gesellschaft misst ihren Reichtum an ihren Werten in Geldformen, und dieses wert- und geldgesteuerte System erzeugt aus sich heraus immer wieder wirtschaftliche Krisen, die es nicht lösen kann. Denn Geld vermehrt sich nicht von allein, sondern nur über Arbeit. Und Profit kann auch nur über gewinnbringenden Absatz von Waren erzielt werden; das Geld von sich aus Geld heckt, diese Illusion ist seit der Krise von 2008 auch Schall und Rauch, denn selbst der Zins läuft gegen null und mittlerweile ins Minus.

Einen Ausweg kann die menschliche Gesellschaft nur finden, wenn die gesellschaftliche Arbeit nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Menschen neu und grundlegend anders verteilt wird und der Maßstab der Verteilung nicht mehr der Wert und seine Geldformen sind. Reformen innerhalb des Systems, ohne Aufhebung des Wertes und seiner Erscheinungsformen, ändern da nichts.

Wenn ein Artikel zu diesem Thema z.B. im ND erscheint, wird er nicht weiter beachtet. So geschehen mit der Besprechung von Heinrich Harbach zum Erscheinen der Taschenbuchausgabe "Das Kapital 1.1-1.5" im Besonderen des Teiles "Das Kapital 1.5 Die Wertform".

Der Autor stellte darin eine "Kapital"-Interpretationsrichtung mit neuem Ansatz vor. Die Herausgeber Rolf Hecker und Ingo Stützle, renommierte Kapitalkenner, kompensierten in dieser Ausgabe aus Marxens Werk, aus verschiedenen Ausarbeitungen zum "Kapital", dem Band I, "Theorien über den Mehrwert", dem "Zur Kritik der Politischen Ökonomie", der MEGA Bd. II.6 und der Schrift "Kapital und Arbeit" ganz nach Engels Methode Auffassungen von Marx zu den Wertformen, die überhaupt nicht mit den bisherigen marxistischen Interpretationen übereinstimmen und damit das gesamte marxistische Theoriegebäude grundsätzlich in Frage stellen.

Hier wären Reaktionen zu erwarten, aber die alten Theoretiker schweigen, können ihren möglicherweise lebenslangen Irrtum nicht eingestehen bzw. sich auf diese Diskussion einlassen, und es wirkt unter den Linken der Mechanismus des Aussitzens. Sie tun so, als sei nichts passiert, und alles läuft wieder mal seinen sozialistischen Gang. Das wäre bei jeder bürgerlichen Partei normal, jedoch nicht in einer Bewegung, die sich auf Marx bezieht, dessen Motto je bekanntlich darin bestand, alles, auch eigene Erkenntnisse, ständig neu in Frage zu stellen. Dabei tun Autor und Herausgeber nichts anderes als die Mahnung von Eric Hobsbawm, auch er als Säulenheiliger, jedoch nicht wirklich ernst genommen, zu realisieren, Marx, besonders "Das Kapital" Band I Kapitel 1-3 nochmals von Anfang an zu hinterfragen (Eric Hobsbawm, Wie man die Welt verändert).

Ein gleiches Schicksal widerfährt Dieter Wolf, der Grundlagen zur Marx gerechter werdenden Werttheorie erarbeitete (Von den allgemeinen Eigenschaften, Arbeitsprodukt und abstrakt menschliche Arbeit zu sein, zum Wert und zum "Doppelcharakter der Arbeit") Wolf weist auf ein wichtiges Moment hin, dass die marxistische Theorie auf einem Wertbegriff sein Fundament errichtet, der den Wert "als Vergegenständlichung einer in der Luft schwebenden abstrakt menschlichen Arbeit" begreift, der die jeder menschlichen Arbeit innewohnenden allgemeinen quasi ahistorischen Eigenschaften, sowohl konkret nützliche Arbeit als auch abstrakt menschliche Arbeit zu sein, ignoriert. Hier beginnt die Abweichung des Marxismus von Marx und führt zu illusionären Strategien, die zu den bekannten Fehlinterpretationen führen mußten.

Wolf interpretiert die Werttheorie von Marx als hauptsächlich aus der Analyse der Wertform bestehend, im Gegensatz zum Marxismus, der mehr oder weniger vorrangig eine Analyse auf Basis der Wertgröße anstellt und so mit einem mystischen Wertbegriff operiert. Er hält es für unbedingt erforderlich, dass die Gesellschaftswissenschaften diese Frage aufnehmen und zumindest diskutieren. Nach bisheriger Kenntnis griffen zwar einige Wissenschaftler Wolfs Arbeit auf (besser: an), jedoch nur im geschlossenen Zirkel und ausschließlich zu marginalen bzw. formalen, nicht zu inhaltlichen Fragen; bezeichnend. Es ist aber notwendig, dass sich alle Linken damit auseinander setzen.

Ein anderes Scheintod-Symptom ist die völlige Abstinenz realer Nicht-Warenproduktions-Gesellschaftsformen bzw. Ansätzen dazu in der linken Nabelschau. Da existiert z.B. in Barcelona die "Cooperativa Integral Catalana", die völlig neue Formen der Produktion und der Gesellschaft erfolgreich praktiziert und ausbaut, mit tausenden Mitgliedern, auf völlig basisdemokratischer und Bedürfnisgrundlage. Ähnliche Organisationen gibt es auch im Baskenland.

Diese nichtwarenproduktionsorientierten Einrichtungen sind nicht neu, sie bestehen zum Teil in verschiedenen Formen seit ca. 100 Jahren, haben sich bewährt und erhalten. Sie waren auch ein wichtiges Element der Verteidigung der Republik 1936-1939, jedoch auch ein ausgewähltes Ziel von Repressalien der Komintern, was zum völligen Verschweigen dieses Aspektes im Realsozialismus bis zur Nichtanerkennung von Teilnehmern am Widerstand gegen Franco auf Seiten dieser "Anarchisten" führte.

Es wäre höchste Zeit, diesen beispielhaften Einrichtungen Aufmerksamkeit zu schenken, vielleicht bieten sie einen Weg der Aufhebung des Kapitalismus, allerdings nicht den der allseits favorisierten Barrikaden-Revolutionsvorstellungen. Dieser Weg würde eher dem entsprechen, was den Grundlagen der Marxschen Analyse nahe käme.

Die Entwicklung der Produktivkräfte zur Automatisierung mittels IT-Technik bietet vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte die realistische Perspektive einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft. Es gibt Ansätze in Rojava, in griechischen Städten, in Commons in der ganzen Welt, die die Notwendigkeit und Möglichkeit belegen. Sie ergeben den Trend einer produktivkraftbasierten "Revolution".