Macron: Regieren mit Fake News

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Innenminister Christophe Castaner werden offenkundige Falschaussagen zur Gewalttätigkeit von Demonstranten vorgeworfen

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Der französische Innenminister Christophe Castaner wird der Lüge bezichtigt. Vorwürfe, dass Innenminister die Wirklichkeit verzerren, sind an sich nichts Ungewöhnliches, aber in dem Fall, um den es hier geht, hat das eine ganz eigene Höhe. Weil Macron den Fake News den Kampf angesagt hat (Frankreich: Nationalversammlung stimmt für Gesetzentwürfe gegen "Fake News") und seiner Regierung nun genau dies vorgehalten wird - mit einer Begründung, die derart solide ist, dass Castaner bereits zurückrudern musste. Die Anklage hat sich gedreht.

Am 1. Mai gab der Innenminister via Twitter eine Erklärung ab, wonach die Gewalt der Demonstranten eine Schwelle überschritten hat, die man nicht überschreiten darf. Ein Krankenhaus sei angegriffen worden, mit Gewalt sollten die Übeltäter versucht haben, in die Pariser Pitié-Salpêtrière einzudringen. Nur durch den Einsatz der Polizei sei Schlimmes verhindert worden, da auch Krankenhausangestellte Ziel der Attacken waren. Außerdem, so hieß es in späteren Erklärungen seien Dinge entwendet worden. Die Aussagen des Innenministers waren Vorwürfe, die sich letztlich gegen die Demonstranten des 1. Mai und gegen Gelbwesten richteten.

Dem folgten zahlreiche, nicht selten mit Wut über diese ungeheure Tat befeuerten Erklärungen aus der Regierung, von der Leitung des Krankenhauses und in Medien, die das aggressive Vorgehen scharf verurteilten. Die Vorgänge passten gut zum Image der Gelbwesten, zu den Gewalttaten, die bei ihren Demonstrationen bereits begangen wurden und ihren Kompagnons aus den Black Blocks.

Die Demontage

Dann war es ausgerechnet das Video eines Krankenhausangestellten, der auch schon mal bei RT, einem Hauptadressaten bei Macrons Kampf gegen Fake News, aufgetreten war, das den Anfang der Demontage der Regierungsstory machte. Es zeigt, aufgenommen aus dem Inneren des Krankenhauses, wie eine Gruppe von Menschen in einen Hof oder ein Gelände strömt und dann eine Außentreppe hochlauft, die zum Ort des Filmers führt, der aus einem Krankenhaus heraus aufnimmt, wohin die Gruppe will.

Aber sie kamen erstens nicht hinein und unternahmen zweitens keinen ernsthaften Versuch, sich den Eintritt mit Gewalt zu verschaffen.

Es ging laut zu, ja. Die Verriegelung der Tür funktionierte nicht. So mussten die Angestellten den Riegel hochhalten, um die Tür gegen eine sichtlich aufgeregte Menge, die auf sie zukam, geschlossen zu halten. Auf dem Video hört man Rufe aus der Gruppe, aber vor allem die Erklärung der Angestellten, dass hier niemand reingelassen werden könne, weil dies die Intensivstation sei und man die Patienten schützen müsse. Um sich verständlich zu machen, mussten die Angestellten die Türe öffnen, hätten die Personen draußen die unbedingte Absicht gehabt, mit Gewalt einzudringen, so hätten sie diese Gelegenheit nutzen können.

Flucht vor der Polizei

Zu diesem Video kamen dann noch andere hinzu, die das Geschehen aus anderen Perspektiven zeigten und mit der Vorgeschichte. Daraus ergab sich eine andere Geschichte als die, die Castaner erzählt hatte. Die Gruppe war auf der Flucht vor der Polizei, die im Hof des Krankenhauses mit Motorrädern vorgefahren war und im Begriff war, ihrem Ruf, nicht gerade zimperlich mit Demonstranten umzugehen, gerecht zu werden. Ein panikhafte Fluchtreaktion war die Folge.

Eine Aufnahme zeigt, wie auf mindestens eine Person eingeschlagen wurde. (Der Vollständigkeit halber kann man ergänzen, dass die Polizisten, die einige Minuten später die Leute auf der Treppe zum Zurückgehen aufforderten, dies in einer zivilen, ruhigen Form taten. Allerdings zeichnet die Aktion, bei der Polizeikräfte Demonstranten dazu zwangen, sich bäuchlings vor ihnen hinzulegen, wiederum ein anderes Bild).

Dass die Demonstranten überhaupt auf das Krankenhausgelände gelangt waren, das mit einem Gittertor abgeschlossen war, hing ebenfalls mit dem Vorgehen der Polizei zusammen. Die hatte nämlich auf den Demonstrationszug auf der Straße, die am Krankenhaus vorbeiführt, eine derartige Menge an Tränengas versprüht, dass es die Leute in die Flucht trieb, eine Auflösung der Demonstration, was genau die Absicht des Tränengaseinsatzes ist. Die Flüchtenden waren aber derart in der Falle, dass sich ihnen nur der Ausweg bot, das Gittertor gewaltsam zu öffnen, um wenigstens diesen Fluchtweg zu haben.

Dass sie sich dann auf dem Gelände des berühmten Krankenhauses Pitié-Salpêtrière befanden, dürfte vielen nicht sofort klar gewesen sein, wie die Aussage von Einzelnen andeuten. Auch dieser Punkt spricht gegen eine geplante Attacke. Dass das Gittertor mit Gewalt geöffnet wurde, habe in dieser Situation Schlimmeres verhindert, meinen andere, die an Massenpaniken erinnern, wo Menschen schwerste Verletzungen davongetragen haben oder Schlimmeres passierte.

Nach und nach wurden auch weitere Vorwürfe demontiert: Trotz der Insistenz mancher Medien, die offenbar lieber Anderes gehört hätten, erklärten Angestellte des Krankenhauses, dass sie nicht unter Schock gestanden seien und auch nicht angegriffen worden seien. Auch der Vorwurf des Diebstahls wurde in eine andere Richtung gelenkt. Das fragliche Gerät habe sich in einem abgeschlossenen Raum befunden, es sie angeschafft worden, weil das vorige Gerät vor Wochen gestohlen worden war. Und die Schmierereien der Vandalen? Die würden nicht vom 1. Mai stammen. Die habe man schon vor den Ereignissen gesehen.

Dem Innenminister blieb kein anderer Weg mehr offen, als zurückzurudern. Er "aktualisierte" seine Aussagen, nachdem durch diesen Informationsstand die Rede von einem Angriff nicht mehr zu halten war. Es sei vorschnell gewesen, von einem Angriff zu sprechen, sagte er. Der Premierminister und andere assistierten ihm mit Aussagen zur Schadensbegrenzung.

Die Fallhöhe

Wie groß der Schaden ist, ist noch Verhandlungssache. Es gibt Rücktrittsforderungen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht umgesetzt werden und es gibt ein wahres Gewitter an empörten Reaktionen auf Castaners Beschuldigung, die sich gegen Demonstranten und Gelbwesten im Besonderen richtet. Castaners Aussage, die sich mit keinem Fakt begründen lässt - außer vielleicht dem Niederreißen des Gittertors, das allerdings bei weitem nicht der Dimension eines ungeheuren Übergriffs entspricht, mit der er politisch agierte - gilt nun als Beweis einer grundsätzlichen Verzerrung der Wirklichkeit durch die Regierung, wenn es um die Opposition auf der Straße geht.

Seit zwei Tagen bestimmt das Thema "Die Regierung, Macht, Lügen und Fake News" die Debatte in den französischen Medien. Es wird von allen, die von Macrons Höhenhunger auf unterschiedliche Weisen verärgert sind, ausgekostet wie ein mehrgängiges Menü. Es machen alle mit, die traditionellen großen Blätter wie auch die politisch wichtigen Internetseiten, querfeldein, vom konservativen Figaro, von La Croix, bis zu den Twitterauftritten von Le Media, die mit der linken Partei La France insoumise verbunden wird (sich aber als unabhängig bezeichnet), und natürlich alle Webauftritte, die mit den Gilets jaunes sympathisieren.

Die Fallhöhe hat Macron aufgezogen mit seinem Gesetzesvorhaben gegen Fake News, den Unterstellungen, dass die Opposition der Gelbwesten von Russland oder anderen Mächten unterwandert sei, mit der kategorischen Einkesselung der Gelbwesten-Demonstrationen in die Gewaltfrage und seiner Überheblichkeit, mit der er seinen Mangel an politischer Erfahrung zu kaschieren versucht. Man ist gespannt, wie der Präsident, der so viel auf Kommunikation setzt, diese Situation managen wird. Durch Schweigen?

In Le Monde erklärte ein Soziologe, dass sich Politiker durch einen gewissen Informationszeitgeist anstecken lassen, der auf schnelle Reaktionen setzt und auf Emotionen, die Nachrichten ganz anders in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit treiben als Informationen. Genau darin sieht er den relevanten politischen Fehler von Castaner: Politiker sollten in Ruhe abwägen und nach vernünftiger Einschätzung der Lage urteilen und entscheiden.

Allerdings ist auch der hochhitzige Einsatz des Medienorchesters zu diesem Vorkommnis beachtlich. Zu den Vorwürfen, die nun erhoben werden, gehört auch der Vergleich von Frankreich mit autoritären Regimen.

Jeder, der in Frankreich unterwegs ist und andere Länder kennt, die unter die Rubrik "autoritär" fallen, weiß, wie sehr der Vergleich an den Haaren herbeigezogen ist - bis er es mit einer Polizei zu tun bekommt, deren Nerven blank liegen. Dann differenziert sich die Sicht etwas. Ein autoritärer Staat ist aber eine ganz andere Welt. Nur: Wer sich mit Vorwürfen gegen seine politischen Gegner so hochmütig erhebt wie die derzeitige Regierung (à la "Wir haben mit Gewalt nichts zu tun"), muss seinerseits mit diesem Echo an Vorwürfen rechnen. Bildmaterial dafür, dass Menschenrechte bei der Polizeiarbeit nicht die Maßgaben sind, die sie sein sollten, gibt es genug.