Vertragsverletzungsverfahren: Spanien bekommt kalte Füße?

Eine europäische Bürgerinitiative mobilisiert gegen den Ausschluss Carles Puigdemonts von den EU-Wahlen. Auch die Staatsanwaltschaft wendet sich dagegen. Update

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Da haben in Spanien einige, vor allem in der Regierung, wohl nun doch kalte Füße bekommen. Der Wahlrat (JEC) will katalanische Exilpolitiker von den Europawahlen ausschließen, weshalb nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Spanien angestrengt werden soll.

An dieser Stelle war bereits von dem Ausschlussvorhaben in Spanien berichtet worden. Dabei wurden hochrangige spanische Verfassungsrechtler zitiert. Die hatten unmissverständlich deutlich gemacht, dass der Ausschluss "ohne jede juristische Basis" geschieht und somit gegen alle geltenden Gesetze und internationale Abkommen verstoßen werde.

In einigen deutschen Medien entstand der Eindruck, als seien hier längst schon Fakten geschaffen worden. Dem ist nicht so. Es wurde auch kein Wort dazu verloren, dass in Spanien die Axt an Grundpfeilern der Demokratie und an Grundrechten angesetzt wird. Kritisch ist auch anzumerken, dass Betroffene oder ihre Vertreter in den Leitmedien gar nicht zu Wort kommen.

Ministerium für die Staatsanwaltschaft zieht die Reißleine

Es war abzusehen, dass mit der umstrittenen Entscheidung des JEC weder Fakten geschaffen wurden, noch dass es dabei bleiben würde. Nachdem auch das inoffizielle Verlautbarungsorgan der sozialdemokratischen spanischen Regierung nachgezogen hatte und El País mit Bezug auf andere Verfassungsrechtler getitelt hatte, dass "die Demokratie auf dem Spiel steht", zog das Ministerium für Staatsanwaltschaft am Freitag schließlich die Reißleine.

Die Staatsanwaltschaft erteilte dem Ausschluss des ehemaligen katalanischen Regierungschefs Puigdemonts und seiner früheren Minister Clara Ponsatí und Toni Comín von den EU-Wahlen schließlich eine Absage. In einem Schreiben an das Verwaltungsgericht in Madrid forderte das Ministerium auf, das "Grundrecht" der drei Kandidaten auf ihre Kandidatur anzuerkennen.

Die sind allerdings schon im Gesetzesblatt von den Wahlen ausgeschlossen. Dort finden sich derzeit ihre Vertreter als Kandidaten. Besonders dramatisch ist, dass sich der JEC nicht einmal an die vorgeschriebenen Fristen gehalten hat. Es wurden keine 48 Stunden eingeräumt, um mögliche Probleme zu beseitigen, hat auch El Pais eine weitere Rechtsumgehung festgestellt. Dabei ging es vermutlich darum, die Benennung von provisorischen Ersatzkandidaten zu verhindern, die in nur wenigen Stunden eiligst gefunden und aufgestellt werden mussten.

Juristisch unklar ist, was die Staatsanwaltschaft zu einer Klage vor einem Verwaltungsgericht zu sagen hat, das vermutlich zuständig ist, was in Spanien aber niemand so richtig weiß. Die Rechtsanwälte der Katalanen hatten vorsorglich auch noch Klage am Obersten Gerichtshof und beim Wahlrat selbst eingereicht, um nicht darüber ausgehebelt zu werden.

"Eine politisch heiße Kartoffel"

Beklagt wird auch, dass der JEC mit seiner "Unbestimmtheit" diese Situation provoziert hat. Denn, so hatten Juristen auch erklärt, der Wahlrat sei ohnehin für diese Ausschluss-Entscheidung nicht zuständig. Auch deshalb stellten sich sogar der JEC-Präsident, sein Stellvertreter und zwei weitere Mitglieder gegen diese offensichtliche Amtsanmaßung und Rechtsbeugung.

Anwalt Gonzalo Boye, der "provisorisch" noch Puigdemont als Kandidat vertritt, erklärte: "Wir sind sicher, dass unserem Einspruch stattgegeben wird." Im gegenteiligen Fall kündigte Boye schon den Gang vor das Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg an. "Das ist ein Eilverfahren, denn in Wahlfragen gelten nicht die üblichen Fristen."

Boye hat Spanien auch schon die Peinlichkeit in Aussicht gestellt, dass dort die Europaparlamentswahlen vermutlich wiederholt werden müssten, wenn Gerichte den Ausschluss der Exil-Politiker nicht schnell kassieren.

Daran dürfte kaum ein Zweifel bestehen. Wie unklar die Lage mit den vielen Gummiparagraphen in Spanien in der Frage allerdings ist, zeigt sich auch daran, dass das Verwaltungsgericht die politisch heiße Kartoffel schnellstens zur Entscheidung eilig an den Obersten Gerichtshof weitergeschoben hat, um "mögliche widersprüchliche Entscheidungen zu verhindern".

Damit wird Zeit gewonnen, um Schlimmeres zu verhindern. Hätte zunächst das Verwaltungsgericht geurteilt, wären wieder Einsprüche möglich gewesen, die den Vorgang aller Wahrscheinlichkeit in den Wahlkampf verschoben und die Kandidaturen benachteiligt hätte. Das hätte wieder Auswirkungen auf die Kandidaturen und das angestrebte Vertragsverletzungsverfahren gehabt.

Das merkwürdige Gebaren im Wahlrat

Überdeutlich wurde, dass der Wahlrat die Regeln und Normen nicht großzügig im Zweifel für die Kandidaten oder für demokratische Rechte auslegt, sondern er sich nach politischen oder ideologischen Kriterien eher wie ein "Zensurrat" betätigt. Er hatte zuvor schon zuvor Journalisten "einen Maulkorb verpasst" oder dazu aufgefordert, dass Transparente und gelbe Schleifen zur Unterstützung der politischen Gefangenen abgenommen werden müssen.

Der katalanische Regierungschef Quim Torra wird wegen Ungehorsams angeklagt, weil er den undemokratischen JEC-Forderungen nicht schnell genug nachgekommen ist. Deshalb, unterstützt vom Ministerium für Staatsanwaltschaft, wird Torra am 15. Mai vor Gericht gebracht.

Der JEC hat sich spätestens mit dem Vorgehen gegen Puigdemont über die Maßen diskreditiert, deshalb sollte das absurde Verfahren gegen Torra auch besser beerdigt werden. Der skandalöse Wahlrat sollte nach Auffassung des Autors zudem sofort aufgelöst und neu aufgestellt werden, denn es gibt in Spanien vernünftige Richter.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er von einem Urteil des Obersten Gerichtshof abgewatscht. Auch politisch wird die spanische Regierung kein Interesse daran haben, dass der Vorgang den Konflikt mit den Katalanen noch weiter internationalisiert. Ob die Amtsanmaßung und Rechtsbeugung Konsequenzen für die JEC-Mitglieder hat, ist angesichts der politischen Verhältnisse in Spanien zu bezweifeln.

Beobachter fragen sich, was politisierte Richter, die offen gegen Puigdemont in der Öffentlichkeit auftreten, in einem Wahlrat zu schaffen haben, der dann darüber entscheidet, ob Kandidat sein kann? Boye kündigt Strafanzeigen gegen die JEC-Mitglieder an, die offensichtlich an der Rechtsbeugung mitgewirkt haben.

Der Richter Betancor

Schauen wir uns einen Fall etwas genauer an. Da ist zum Beispiel der Richter Andrés Betancor. Das JEC-Mitglied hatte vor gut einem Jahr nicht nur einem aggressiven spanischen Nationalismus das Wort geredet, sondern in einer bellizistischen Wortwahl, die an Formulierungen von Ultrarechten erinnert, in vorverurteilender Form von "Putschisten" in Katalonien gesprochen.

Denn real bezeichnet Rebellion, die den Katalanen vorgeworfen wird, einen Putsch. Betancor redet gerne von "Schlachten", "Feinden", "Soldaten" und "Kriegen". Dass der Richter den eigenen Gesetzen des Landes nicht folgt, sondern sie als spanischer Nationalist im Sinne seiner Ideologie beugt, gibt er sogar freimütig zu.

Dieser Betancor, der für den Ausschluss der drei Katalanen gestimmt hat, schrieb noch im April 2018, dass es dafür keine gesetzliche Grundlage gibt, weshalb er sich in seinem Blog für eine Reform des Gesetzes eingesetzt hat. "Artikel 8 des LOREG sieht etwas für wegen Verbrechen Verurteilte vor, aber wenn sie vor den Ermittlungen flüchten, ist es ihnen nicht untersagt, Kandidaten bei Wahlen zu sein."

Um, anders als dieser Richter, die Lage korrekt zu beschreiben: Puigdemont ist nicht geflohen, wie dieser behauptet. Er reiste legal aus, bevor überhaupt eine Anklage erhoben worden war. Und es besteht nun einmal kein Haftbefehl gegen die exilierten Politiker, da Spanien sie wegen Aussichtslosigkeit zurückziehen musste.

Letztlich hat Richter Betancor mit seinen Ausführungen zugegeben, dass es keine Unkenntnis war, die ihn kürzlich für den Ausschluss der drei Katalanen stimmen ließ, sondern seine politische Einstellung die Entscheidung bestimmte. "Das LOREG muss reformiert werden", schrieb er nämlich, damit Leute wie Puigdemont, "keine Kandidaten bei Wahlen sein können". Eine Reform gab es seit April 2018 nicht.

Ohnehin quillt viel nationalistischer Aktivismus aus seinen Zeilen. Betancor fordert sogar, die Unschuldsvermutung - ein weiterer Pfeiler des Rechtsstaats - zu beseitigen. Denn ein Ausschluss als Kandidat soll seiner Meinung schon möglich sein, bevor es ein "rechtskräftiges Urteil" gibt. Hier spricht kein unabhängiger Richter, sondern ein nationalistischer Aktivist.

Man darf aber nun davon ausgehen, dass Puigdemont, Ponsatí und Comín als Kandidaten bei den Europaparlamentswahlen tatsächlich antreten und vermutlich auch gewählt werden. Womit dann das nächste Hick-Hack um die Frage der Immunität ansteht. Nach Ansicht vieler Juristen hat sie ein Parlamentarier sofort nach der Wahl zum Europaparlament, weshalb Puigdemont dann auch nach Spanien reisen könnte, um seine Akte als Parlamentarier entgegen zu nehmen.

Oberster Gerichtshof entscheidet heute

Zwar muss nun der Oberste Gerichtshof noch entscheiden - und zwar noch am heutigen Sonntag, wie sich aktuell herausstellt - ob der absurde Ausschluss durch den Wahlrat schon in Spanien wieder rückgängig gemacht wird. Das dürfte aber nur eine Formsache sein. Schaut man sich in der Frage der Katalanen die praktizierte "Gewaltenteilung" an - bzw. deren Mangel -, dann ist eigentlich absehbar, dass der Gerichtshof der Vorgabe der Staatsanwaltschaft und damit der Regierung folgt (siehe dazu das Update am Ende des Beitrags).

Denn so praktiziert er es auch im absurden Verfahren gegen die katalanischen Politiker wegen angeblicher Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung, wo die Verteidiger vor dem Prozess davon ausgingen, dass die Urteile praktisch schon feststehen.

Der Prozessverlauf bestätigt diese Ansicht, denn die Verteidigerrechte werden massiv beschränkt oder ausgehebelt, die Glaubwürdigkeit der Anklagezeugen kann nicht überprüft werden, wie dies auch internationale Beobachter immer wieder kritisiert haben. Es drängt sich der Eindruck auf, einem Schauprozess beizuwohnen, der nur beabsichtigte Urteile festklopfen soll.

Das Schweigen in Brüssel

Im und vor dem Verfahren wurden und werden Recht und Gesetze auf eine ähnlich Art verbogen, wie sie nun dem JEC auf die Füße fällt. Denn nur deshalb kann wegen absurder Anklagen wegen eines angeblich öffentlichen bewaffneten Aufstands (Rebellion) oder tumultartiger Gewalt (Aufruhr) verhandelt werden. Doch die kann kein unabhängiger Zeuge im Prozess bestätigen.

Laut des ehemaligen SPD-Parlamentariers Felix Grünberg konnte auch der Abgeordnete der Linken Andrej Hunko vergangene Woche als Zeuge nur über die massive Gewalt der Sicherheitskräfte gegen friedliche Wähler beim Referendum am 1. Oktober 2017 berichten. Er hatte wie Grünberg die Vorgänge überwacht. Gegenüber Telepolis hatte er auch schon den Einsatz von Gummigeschossen kritisiert, die in Katalonien verboten sind. Er bestätigte die absolute Friedfertigkeit der Katalanen auch während des massiven Generalstreiks nach dem Referendum.

Ähnlich wie beim Vorgehen des JEC hatten hochrangige Verfassungsrechtler auch die "verrückten Strafanträge" gegen die Katalanen angegriffen, denen jede juristische Basis fehlt. In halb Europa hatten es Gerichte ohnehin abgelehnt, wie im deutschen Schleswig-Holstein, Puigdemont, Ponsatí, Comín oder andere Exilierte nach Spanien auszuliefern, da die Anschuldigungen wegen Rebellion und Aufruhr durch nichts gedeckt sind. Ausgeliefert hätte Deutschland nur wegen angeblicher Untreue, weil die Richter diesen Vorwurf nicht prüfen durften.

Angesichts der sich zuspitzenden Vorgänge in Katalonien stellten sich Beobachter die Frage, wie es möglich ist, dass die EU-Kommission zwar immer neue Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen einleitet, aber zum Fall Spanien schweigt. Dabei kann man die Lage in Spanien, was eine politisierte Justiz angeht, durchaus mit Polen oder Ungarn vergleichen.

Das hatte Prof. Dr. Eckart Leiser, Dozent an der Freien Universität Berlin, an den Normverletzungen herausgearbeitet, mit denen die Richter auf ihre Posten kamen, die Schlüsselpositionen auch im Verfahren gegen die Katalanen einnehmen. In Spanien werden Zeitungen auf einer juristisch fragwürdigen Basis geschlossen und es gibt skandalöse Fälle, die von Journalisten und andere Menschen berichten, die gefoltert und misshandelt werden.

Es kam vor, dass ähnlich wie die Katalanen missliebige Politiker für viele Jahre mit erfundenen Anschuldigungen hinter Gitter gebracht wurden, die wie die Katalanen kein faires Verfahren hatten, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bemängelt. Dass Spanien auch wegen Zensur immer wieder vom EGMR angeklagt und verurteilt wird, ist keine Neuigkeit mehr.

Doch in Brüssel deckt man die Vorgänge in Spanien durch eine "Verschwörung des Schweigens", wie es der Schweizer UNO-Experte Alfred de Zayas in Bezug auf Katalonien kritisiert. Allerdings soll sich das nun zwangsweise ändern.