Terroranschlag Berlin: Radikale Fussilet-Moschee von ganz oben verschont

Verbotsverfahren wurde ein Jahr lang nicht betrieben, Untersuchungsausschuss kann sich gegen die Exekutive kaum mehr durchsetzen

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19. Dezember 2016: Um etwa 18:30 Uhr betrat Anis Amri die Fussilet-Moschee in der Perleberger Straße in Berlin-Moabit. Eine halbe Stunde später verließ er das Etablissement wieder. Gegen 20 Uhr soll er dann, so die offiziellen Ermittlungen, den 40 Tonnen schweren LKW in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz gesteuert haben. Zwölf Menschen kamen ums Leben, viele wurden verletzt.

Dass Amri in der Moschee war, weiß man durch Kameraüberwachungen der Sicherheitsbehörden. Sowohl das Landeskriminalamt (LKA) als auch das Landesverfassungsschutzamt (LfV) hatten in der Nähe entsprechende Technik installiert. Hinzu kommt - äußerst kurios -, dass sich direkt gegenüber der Moschee eine Polizeiwache befindet. Ein Terroristentreffpunkt vor den Augen der Polizei?

Was Amri in der Moschee in jener halben Stunde wollte, ist bisher nicht bekannt. Dass es auch Polizei und Verfassungsschutz nicht wissen, ist schwer zu glauben, denn die Einrichtung wurde auch von innen überwacht - durch mindestens drei Spitzel.

Hat Amri in der Moschee vielleicht die Pistole geholt, mit der der polnische Speditionsfahrer des gekaperten LKW erschossen wurde?

Der Tunesier ging in der Moschee, die neudeutsch als Hotspot der gewaltbereiten Islamistenszene firmiert, ein und aus. Er übernachtete immer wieder dort. Als er im Februar 2016 im Fernbus aus Nordrhein-Westfalen (NRW) anreiste und kurzzeitig von der Polizei festgenommen und verhört wurde, suchte er nach seiner Freilassung auf direktem Wege das Gebäude in der Perleberger Straße auf, nahm dort ein deponiertes neues Handy entgegen, riefe etliche Bekannte und Freunde an, berichtete von der Polizeikontrolle und forderte die Kontaktleute auf, ihre Handys zu entsorgen.

Das weiß man, weil die SIM-Karte in diesem Handy beim LKA Düsseldorf ebenfalls der Telefonüberwachung unterlag. Wie sie nach Berlin in die Fussilet-Moschee kam, weiß man bisher nicht, trotz offensichtlich guter Überwachung. Wenn SIM-Karten dort gelagert wurden, warum also nicht auch Waffen?

Am Folgetag jenes Ereignisses brachte das LKA übrigens seine Überwachungskamera gegenüber dem Haus an.

Das Personal der Moschee und ihres Vereins Fussilet 33 e.V. verzeichnet ein einschlägiges wie beeindruckendes Strafenregister. Die Vorstandsfiguren Ismet D. und Emin F. wurden schon 2015 festgenommen, vom Generalbundesanwalt angeklagt und wegen Vorbereitung staatsgefährdender Gewalttaten im Ausland verurteilt. Später traf es auch den Imam. Den Fussilet-Mitgliedern Soufiane A., Emrah C., Resul K. und Feysel H., die Anfang Dezember 2016 ins nahöstliche Kriegsgebiet ausreisen wollten, um den Islamischen Staat (IS) zu unterstützen, was misslang, wurde im Februar 2018 in Berlin der Prozess gemacht. Die ersten drei wurden im März 2019 zu Haftstrafen zwischen drei Jahren und drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Feysel H. wurde abgetrennt und in der Psychiatrie untergebracht.

Gegen Magomed-Ali C. beginnt noch im Mai der Staatsschutzprozess in Berlin. Sein Komplize Clement B. erwartet in Frankreich ein Verfahren. Auch der sogenannte IS-Prediger von Deutschland, Abu Walaa, der den Deutschsprachigen Islamkreis (DIK) in Hildesheim anführte und zusammen mit vier Komplizen seit September 2017 in Celle vor Gericht steht, war Gast in der Berliner Fussilet-Moschee.

"Brutstätte des Terrorismus in Berlin" unter den Augen der Sicherheitsbehörden"

Für den Grünen Abgeordneten Benedikt Lux, Mitglied des Untersuchungsausschusses, handelte es sich um eine "Brutstätte des Terrorismus in Berlin", wie er bei der jüngsten Ausschusssitzung erklärte. Das allerdings, wie Lux nicht vergaß anzufügen, "unter den Augen der Sicherheitsbehörden". Denn diese Wahrheit gehört mit zur ganzen Geschichte.

Die Moschee wurde nicht nur mit Kameras von Staatsschutz und Verfassungsschutz kontrolliert, sondern mit mindestens drei Spitzeln unter den Mitgliedern - je einem von LKA Berlin, LfV Berlin sowie dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Ihre Identität kennen bisher nur die Behörden. Bei einer Mitgliederzahl von vielleicht 40 bis 50 Personen eine beeindruckende Informantendichte. Das LKA war aufgrund seiner verdeckten Maßnahmen in der Lage, eine Liste des kompletten Personenpotentials zusammenzustellen. Darauf findet sich auch der Name Anis Amri.

Der Staatsschutz will von einer V-Person auch erfahren haben, allerdings erst nach dem Anschlag, dass Amri gegenüber Feysel H. von seinen Anschlagsplänen gesprochen habe. In den Reihen der Ausschussmitglieder wird nicht für ausgeschlossen gehalten, dass H. selber diese V-Person war.

Ob die Behörden sich bei ihrem Quelleneinsatz koordinierten, ist unklar. Bisher wird der Eindruck erweckt, als ob man nichts voneinander wusste. Von der BfV-Quelle will das LKA erst nach dem Anschlag im Februar 2017 erfahren haben. In seiner hauseigenen Sprachregelung bestreitet das BfV bis heute, dass seine Quelle in der Fussilet-Moschee dem "Umfeld" Amris zuzurechnen sei.

Amri war Teil eines bundesweiten Netzwerkes von radikalen Islamisten und mit Magomed-Ali C. und Clement B. sogar Teil eines europaweiten Netzes mit Verbindungen zu Attentätern in Brüssel oder Paris. Die Frage ist, welche Rolle die Fussilet dabei genau spielte: Anlaufstelle? Stützpunkt? Depot?

Jetzt wollte sich der Amri-Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses in Berlin mit dieser Moschee beschäftigen. Die Akten sind allerdings komplett als geheim eingestuft, was anzunehmender Weise mit den nachrichtendienstlichen Quellen zu tun hat. Eine Herabstufung lehnte die Senatsinnenverwaltung ab. Die Abgeordneten konnten in öffentlicher Sitzung nur einen Zeugen aus der Senatsverwaltung befragen, der mit dem Prozedere des Verbotsverfahrens befasst war. Inhalte konnten nicht erörtert werden. Doch Fragwürdigkeiten und Ungereimtheiten gab es auch so genug.

Wenige Tage nach dem Anschlag, seit 2. Januar 2017, betrieb der Berliner Innensenat mit Hochdruck das Verbotsverfahren gegen den Trägerverein Fussilet 33 sowie die Schließung der Moschee. Am 8. Februar 2017 zeichnete der Innensenator die Verbotsverfügung ab, am 28. Februar 2017 wurde das Verbot mittels Durchsuchungen und Beschlagnahmungen vollzogen, Ende März 2017 war es rechtskräftig.

Das war zwar zügig, aber wohl nicht schnell genug, denn Geld beispielsweise konnte in der Moschee nicht mehr sichergestellt werden, ein Konto wurde nicht gefunden..

Die politischen Versäumnisse im Umgang mit der Moschee reichen ein ganzes Jahr zurück

Anfang Dezember 2016 hatte in Berlin ein Regierungswechsel stattgefunden. Die Große Koalition mit dem CDU-Innensenator Frank Henkel wurde abgelöst von einer Rot-rot-grünen-Regierung und einem SPD-Innensenator namens Andreas Geisel.

Es ist eine wahre Chronik der Seltsamkeiten, auf die man im Zusammenhang mit der Moschee stößt: Das Verbotsverfahren war ursprünglich Ende 2015, Anfang 2016 eröffnet worden. Direkt danach wurde der zuständige Sachbearbeiter im Senat krank. Er blieb arbeitsunfähig bis zu seinem Ausscheiden in den Ruhestand Ende Oktober 2016. Eine Vertretung oder einen Nachfolger gab es nie. Im Februar 2016 erstellte das LfV eine Expertise, nach der mit dem Verbot gewartet werden solle, bis die zwei Vorstandsmitglieder Ismet D. und Emin F., die vom Generalbundesanwalt angeklagt waren, abgeurteilt seien. Im August 2016 wandte sich das LfV mit dieser Empfehlung an den Innensenator Henkel, und der entschied entsprechend: abwarten.

Alles in allem ein Verfahren, das ein Jahr lang nicht betrieben und praktisch verhindert wurde. Warum? Die Verantwortung dafür lag vor allem bei der Bundesanwaltschaft, dem LfV Berlin und dem damalige Innensenator von Berlin.

Die Abgeordneten konnten sich auf diesen Vorgang keinen richtigen Reim machen, zumal das Verfahren auch intern bis zur Vollzugsreife hätte weiterbetrieben werden können. Für den Ausschussvorsitzenden Stephan Lenz (CDU) wäre eine Schließung der Moschee im September 2016 "möglich" gewesen. Für Benedikt Lux ergibt sich daraus die Frage, ob der Anschlag dann überhaupt "in der Form" hätte stattfinden können.

Beim dann durchgezogenen Verbotsverfahren spielte die Frage der Quellen in der Fussilet-Moschee, die den Linken-Abgeordneten Niklas Schrader im Ausschuss interessierte, keine Rolle. Was den Abgeordneten irritierte, da ja das erste NPD-Verbotsverfahren exakt an diesem Problem gescheitert war. Für das Bundesverfassungsgericht war angesichts von Quellen in NPD-Vorständen nicht mehr unterscheidbar, ob für eine verwerfliche Positionierung die Partei verantwortlich gemacht werden könne - oder eben nur die Nachrichtendienste.

Was man sagen kann: Der Ausschuss ist auf die nächste rätselhafte Episode der Anschlagsvorgeschichte gestoßen, für die es bisher keine plausible Erklärung gibt und für die die amtlicherseits gelieferten Erklärungen nichts taugen. Warum ergriff der Berliner Verfassungsschutz die Initiative, das Verbotsverfahren zu stoppen und wandte sich dann an den Innensenator? Ging es um den Schutz nachrichtendienstlicher Quellen in der Einrichtung? Und wenn ja, um welche? Ging es um die Fussilet-Moschee als Mosaikstück eines bundesweiten Netzwerkes potentieller Terroristen? Und wenn ja, welche Interessen verfolgte man auf Seiten des Sicherheitsapparates damit? Warum sollte sie offensichtlich noch weiterexistieren?

Sicher scheint, der Hintergrund des Anschlages vom Breitscheidplatz ist voluminöser und monströser als es die Mär vom spontanen Einzeltäter glauben machen will.

Wie wenig die Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung kooperieren, zeigte sich wieder einmal beim zweiten Zeugen des Tages, einem Vertreter des Berliner Verfassungsschutzes. Er durfte, obwohl er nur Allgemeines zu Strukturen und Arbeitsweisen bekunden sollte, gänzlich in nicht-öffentlicher Sitzung aussagen. Nicht alle Abgeordneten waren damit einverstanden.

Weiterhin verweigern die Bundesministerien für Inneres (Seehofer, CSU) und Justiz (Barley, SPD) die Übersendung der Ermittlungsakten des BKA und der Bundesanwaltschaft zum Anschlag an den Berliner Ausschuss. Ohne diese Unterlagen kann der das Tatgeschehen nicht aufklären. Die Exekutive diktiert die Regeln der Aufarbeitung.

Im Mai will sich Horst Seehofer persönlich mit Anschlagopfern treffen. Man darf gespannt sein, wie er deren Fragen antwortet.