Frauenstolz und Männertränen

Tulia aus Polen. Bild: Grzegorz Gołębiowski

Der Eurovision Song Contest unter dem Iron Dome

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Am kommenden Samstag, den 18. Mai, ist es wieder soweit: Zum 64. Mal geht der Eurovision Song Contest über die Bühne. Übertragen wird er diesmal aus Tel Aviv, und in diesen Stunden werden die letzten Vorbereitungen getroffen. Soweit scheint alles normal zu sein: Die Delegationen aus 41 Ländern justieren noch einmal ihre Auftritte nach, korrigieren Kamerawinkel, Kostümdetails, technische Feinheiten. Die Sängerinnen und Sänger präsentieren sich auf dem orangenen Teppich und geben Interviews, auf den Ranglisten der Wettbüros verschieben sich noch einmal die Favoriten.

Es war jedoch ein steiniger Weg bis hierher, überschattet von Kontroversen und Ereignissen, die das Bild vom bonbonbunten Trash-Spektakel trüben. Zuallererst hängt das damit zusammen, dass Israel - nun ja - Israel ist, ein Staat, zu dem (fast) jeder eine Meinung hat. Schon 2017, als der Song Contest in Kiew stattfand, flammten heftige Debatten darüber auf, ob Länder mit kriegsähnlichen Zuständen überhaupt den Song Contest austragen dürfen sollten. Russland war aus dem Wettbewerb geschasst worden , es fielen nationalistische Sprüche, die so oft beteuerte und angestrebte Neutralität des Wettbewerbs war (einmal mehr) kompromittiert. Es dürfte der EBU nur recht gewesen sein, dass der ESC 2018 in Lissabon in ruhigeren Gewässern segelte.

Mit dem Sieg Israels begann jedoch wieder ein politisches Hickhack unterschiedlichster Interessen. Schon die Ankündigung, den Wettbewerb in Jerusalem auszutragen - ausdrücklich von Ministerpräsident Netanjahu unterstützt -, befeuerte heftige Debatten innerhalb und außerhalb Israels. Die einen sorgten sich um die gestörte Sabbat-Ruhe, die anderen fürchteten die Unvereinbarkeit von regenbogenfarbigen Partybesuchern mit orthodoxen Gläubigen. Mit der Wahl Tel Avivs zum Austragungsort wurde ein Kompromiss gefunden, der von Anfang an naheliegend war. Dennoch konnten dadurch nicht alle kritischen Stimmen besänftigt werden. In einigen Ländern wie Island, Schweden oder Irland wurde rundweg zum Boykott des Wettbewerbs aufgerufen.

Schlussendlich meldeten sich dennoch fast alle letztjährigen Teilnehmer auch für den ESC in Israel an. Einzig Bulgarien verzichtete wie schon 2014 und 2015 auf eine Teilnahme - als Gründe wurden finanzielle Schwierigkeiten genannt. Im Februar zog dann auch der ukrainische Sender UA:Perschyj seine Teilnahme am Wettbewerb zurück: Die designierte Teilnehmerin Maruv hatte sich geweigert, die vom Sender vorgegebenen Bedingungen (darunter: alle Kosten der Reise selbst zu tragen und nicht mehr in Russland aufzutreten) anzuerkennen. Auch vom künstlerischen Standpunkt ist das Ausscheiden der Ukraine bedauerlich: Maruvs Beitrag hätte dem Wettbewerb zweifellos eine pikante Note verliehen.

In den Sozialen Medien unterdessen schwelt der Konflikt weiter: Wo immer über den Song Contest geschrieben wird, poppen Posts mit flatternden palästinensischen Flaggen auf.

Neben der Kritik an Israels Politik waren und sind es aber vor allem Sicherheitsbedenken, die viele Fans bewegen. So wäre es manchen lieber gewesen, Israel hätte freiwillig auf die Austragung des Musikwettbewerbs verzichtet und sie dem zweitplatzierten Zypern überlassen.

Für den ausrichtenden Fernsehsender KAN kam das freilich nicht in Frage. Die Gelegenheit, sich im Rahmen eines friedlichen und fröhlichen Fernsehfests zu profilieren, macht den Song Contest nach wie vor begehrenswert, auch wenn viele vor den beträchtlichen Kosten zurückschrecken. Und auch für die Fans wird es teuer: Obwohl mit der israelischen Online-Genealogie-Plattform MyHeritage dieses Jahr ein offizieller Sponsor gefunden wurde, sind die Ticketpreise für die verschiedenen Semifinal- und Finaldurchläufe exorbitant. Der Verkauf allerdings verläuft nur schleppend. Nicht zuletzt die jüngsten Gewalteskalationen dürften dazu beigetragen haben, dass viele Fans auf die Anreise verzichten und es sich lieber zu Hause vor dem Fernseher bequem machen.

Gesungen wird übrigens auch noch bei diesem Wettbewerb, und hier könnte man sich jetzt wieder mit "Love, Love, Peace, Peace"-Geplätscher ablenken, doch nicht einmal das gelingt in diesem Jahr so recht. Gewiss, Liebeslieder machen auch diesmal wieder das Gros der Beiträge aus, daneben fallen aber auch Lieder über starke Frauen (mit einem solchen hatte Netta Barzilai 2018 den Sieg für Israel eingefahren) und verletzliche Männer auf. Die drei prominentesten Beispiele für letztere tummeln sich sehr weit oben in den aktuellen Wettranglisten.

Der Niederländer Duncan Laurence, diesjähriger Favorit der Wettbüros, singt in "Arcade" noch relativ gängig über den Schmerz einer unmöglichen Liebe. Der Italiener Mahmood verarbeitet in seinem Lied "Soldi" einen Vaterkonflikt, bei dem das Geld die Beziehung zwischen Vater und Sohn zerstört. Nach drei Jahren ist auch Sergej Lazarev wieder zurück auf der Eurovision-Bühne, nachdem er 2016 als haushoher Publikumsfavorit durch umstrittene Jury-Entscheidungen um den Sieg gebracht wurde. Diesmal hat er mit "Scream" eine technisch anspruchsvolle Ballade über den unterdrückten Schrei eines gebrochenen Männerherzens im Gepäck.

Allerdings werden weder seine Stimmgewalt noch die ausgefeilte Inszenierung verhindern können, dass die üblichen Hater auf den Plan treten. Mag sein, dass vielen das Pathos zu dick aufgetragen ist. Aber man darf mutmaßen, dass auch die Tatsache, dass Lazarev für Russland antritt, keine unwesentliche Rolle spielt - denn wer mit emotionalen Auftritten ein Problem hat, ist beim Song Contest ohnehin schlecht aufgehoben.

Leider würde eine vertiefte Auseinandersetzung mit allen Beiträgen des diesjährigen Song Contests den Rahmen dieses Artikels sprengen, aber zumindest diese seien noch erwähnt: Conan Osiris, der für Portugal ein veritables Happening auf die Bühne bringt. Der Franzose Bilal Hassani, der sich mit einer unsichtbaren Krone zum König der Andersartigkeit krönt. Die "antikapitalistische" Band Hatari aus Island, die Bejamin Netanjahu zu einem Ringkampf herausgefordert hat und ihren Beitrag als Protest gegen Israels Politik verstanden wissen will (ihr Lied heißt übrigens übersetzt: Hass wird siegen).

Der subversivste Beitrag für Tel Aviv kommt aber aus Dänemark. Die frühere Eiskunstläuferin und Songwriterin Leonora trällert ein zuckersüßes und scheinbar harmloses (aber immerhin viersprachig vorgetragenes) Chanson über - surprise! - die Liebe: "Love Is Forever". Wenn man sich jedoch den Kontext ihres Auftritts vergegenwärtigt, klingen gewisse Textpassagen allerdings gar nicht mehr so unbedarft: "The world has had enough / Don't get too political / And who are we to judge? / It doesn't take too much / Only just a miracle." Gut möglich, dass da dem einen oder anderen für den Bruchteil einer Sekunde die Good Vibes verrutschen. Und genau das sind die Momente, in denen sie spürbar wird, die seltsame Magie des Song Contests. Shalom, Tel Aviv.