Der Aufstand der Web-er

Schickt Deutschland die Bombe nach Brüssel? Update. Brüssel bleibt ohne Bombe

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Nach dem verschnarchten Bundestagswahlkampf 2017 verlief das Rennen um die deutschen Sitze im EU-Parlament in der letzten Woche deutlich amüsanter als erwartet. Hatten Deutschlands Elite-Journalisten seit Monaten hysterisch vor einer offenbar ausgebliebenen Wahlmanipulation durch die fiesen Russen gewarnt, kam zwar wirklich Einfluss durch das Netz – aber von gänzlich unerwarteter Seite.

Ausgerechnet die YouTuber, die man eher unter Beauty-Tipps und Dummschwatz über Superhero-Movies verortete, solidarisierten sich und ihre Generation gegen die Altparteien. Ein einziges virales Video leistete effektivere politische Bildung als die Qualitätsjournalisten, die in den gleichen Restaurants wie ihre Politstars zu speisen pflegen. Die Reaktion der CDU auf das Rezo-Video war mitleiderregend, Christdemokratin AKK blamierte sich mit vermeintlicher Bibelfestigkeit.

Nachdem die CDU das Urheberrecht verschlimmbessert hatte, fiel ausgerechnet die Axel-Voss-Partei durch eigene Urheberrechtskriminalität auf. Völlig absurd geriet die von Medienvertretern versuchte Denunziation von Rezo als jemand, der für seine Inhalte Geld nähme, denn diese "Kritik" erfolgte ausgerechnet hinter einer PayWall. Das Video verfehlte seine Wirkung nicht: Die Lobby-Partei CDU, die noch 2013 das Internet für "Neuland" hielt und diesen März bei 35% gesehen wurde, büßte über 8 % ein, die CSU hingegen gewann leicht.

Im freien Fall befinden sich nach wie vor die Sozialdemokraten, die 12 % verloren. SPD-Spitzenkandidatin Barley hinterließ als Wahlkämpferin keinen besseren Eindruck als im Justizministerium. Nicht einmal die Vorgaben des Pariser Klimaabkommens bekam Barley auf die Reihe, auch im Steuerrecht hat Deutschlands oberste Juristin noch Luft nach oben. Den Zusammenhang mit dem von Heiko Maas geschaffenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz zur Sperrung von Twitteraccounts etwa von SPD-Personal scheint man noch immer nicht erkannt zu haben.

Die GRÜNEN konnten ihre Wählerschaft auf 21 % verdoppeln. Wie schon nach Fukushima profitieren die GRÜNEN von der immer mehr ins Bewusstsein tretenden Klima-Katastrophe. Offenbar halten GRÜNEN-WählerInnen ihre Stimme für eine Art Ablasshandel, denn sie nutzen häufiger als andere das Flugzeug – ebenso das grüne Spitzenpersonal.

Die einst von der SPD betreute Wählerschaft der Arbeiterklasse wanderte nicht etwa zu den Ideologen der Linkspartei, sie scheint eher die AfD für eine Alternative zu halten. Nachdem die klassischen Medienhäuser sich nicht für die Rechtspopulisten erwärmen konnten, ist längst Facebook das wichtigste Parteimedium der AfD. Das Spiel mit viral platzierten Fake News beherrschen die Partei bzw. die von ihr beauftragten Dienstleister inzwischen perfekt. Soweit erkennbar, hat das Straché-Video dem deutschen Pendant nicht geschadet, AfD-Wähler sind offenbar ohnehin schmerzfrei. Die AfD konnte um 3 % auf mehr als 10 % zulegen.

Irgendwer wählte ernsthaft auch die FDP, die Ursachen hierfür sind noch unklar.
Auch die Tierschutzparteien haben ihr Stammpublikum, während Volt einen Achtungserfolg erzielte.

Den Piraten, die seit 2013 nicht mehr aus ihrem Tief herausfanden, gelang es trotz medialer Unsichtbarkeit mit Patrick Breyer einen ausgewiesenen Fachmann für Datenschutz im EU-Parlament zu platzieren. Nach der chaotischen Einführung der juristisch unausgereiften Datenschutzgrundverordnung, die federführend von GRÜNEN zusammengebastelt wurde, kann Sachverstand in Brüssel schwerlich schaden.

Strahlende Wahlsiegerin ist jedoch die PARTEI, die ihr Ergebnis von 0,6 (2014) vervielfachen konnte und nun gleich drei Volkstribunen ins EU-Parlament entsendet. Neben den beiden Satirikern Martin Sonneborn und Nico Semsrott geht auch die bislang gänzlich unbekannte Hamburgerin mit dem schönen Namen Lisa Bombe nach Brüssel. Die Qualifizierung für ein politisches Amt durch den Nachnamen war bislang eher eine Domäne christlicher Politiker (Theodor zu Guttenberg, Alexander Graf Lambsdorff, Strauß-Tochter Monika Hohlmeier). Maßstäbe setzte die PARTEI in Sachen Wahlkampf-Ökonomie: Während die Union für Werbung allein an Facebook 224.256,- € zahlte, schob die PARTEI Milliardär Zuckerberg genau 0,- € in den Rachen. Wenn der Trend anhält, kann die PARTEI 2021 die 5%-Hürde reißen.

Die EU-Wahlen bieten einen Vorgeschmack auf das, was uns 2021 ins Haus steht. Das Medium der Wahl wird das Internet sein. Wahlen kann man im Internet zwar nicht gewinnen, sehr wohl aber verlieren. Union und SPD dürfen sich auf weitere Influencer-Videos gefasst machen, die sich weder durch Sprechblasen noch durch befreundete Medienvertreter wirksam bekämpfen lassen. Menschen werden wie bei der Urheberrechtsreform und Friaday4Future zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, wenn sie sich von den Volksvertretern veräppelt fühlen.