Eine Verkehrswende von unten

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren kein Interesse an verkehrspolitischer Gestaltung gezeigt - es wird daher höchste Zeit für eine Wende von unten

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Dabei gehört der Verkehrsministerium, wie auch das Agrarministerium, zu den Fachressorts mit dem größten Gestaltungsspielraum nicht nur für den Alltag der jetzigen Bevölkerung, sondern auch für die Zukunft. Merkwürdigerweise gelten als Schwergewichte oder Glanzposten aber eher das Außen-, das Wirtschafts- oder das Finanzministerium. Und so ist das Verkehrsressort eine Spielwiese für gut gekleidete CSU-Youngsters, die um den Titel als Krawattenmann des Jahres kämpfen.

Dabei könnte der Bund so viel: Er könnte einen CO2-Preis einführen, die Bahn endlich ausreichend finanzieren und überkommene Subventionen wie etwa die für den Diesel streichen. Der Bund müsste auch für Tempolimits sorgen und so für die freie und sichere Fahrt der Bürger sorgen, die nicht im Auto unterwegs sind, sondern zu Fuß oder per Fahrrad.

Doch derzeit zeigt sich folgendes Handlungsmuster: Die Bundesregierung lässt die Konzerne so lange wie irgend möglich Autos mit Verbrennungsmotoren bauen, verzichtet sowohl auf schnelle Ausstiegsdaten für Benziner und Diesel als auch auf eine ambitionierte Besteuerung von Kohlendioxid. Die Konzerne steuern mit Macht auf Elektromobilität für den chinesischen Markt um, damit sie ihr derzeitiges erfolgreiches Geschäftsmodell - hohe Gewinnmargen mit wuchtigen Autos - auch im Batteriezeitalter aufrechterhalten können. Verkehrspolitik findet unter diesen Vorzeichen nicht statt. Die Bahn schrumpelt dahin, Fahrradfahrer und Fußgänger sind weiter vor allem auf engagierte Kommunen angewiesen. Das Konzept der "Neuen Mobilitätskultur" der Forschertruppe aus Baden-Württemberg könnte ihnen dabei als Leitbild dienen und sehr konkrete Vorgaben für die kommunale Verkehrspolitik von heute liefern.

Doch die Kommunen können eine Menge bewegen, das zeigen Städte wie Berlin oder Wien. In der österreichischen Hauptstadt locken die gut ausgebauten Straßen- und U-Bahnen mit dem 365-Euro-Ticket. Für umgerechnet einen Euro am Tag können die Wienerinnen und Wiener den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Ergebnis: Inzwischen gibt es mehr 365-Euro-Abos als Autos in Wien. Die Stadt kann sich mit ersten Preisen in verschiedenen Städterankings schmücken, beispielsweise mit dem der "lebenswertesten Städte" der britischen Zeitschrift Economist. Dass sie in dem weltweiten Vergleich 2018 Melbourne von Platz eins verdrängen konnte, lag unter anderem auch an ihrer guten öffentlichen Infrastruktur.

Auch Berlin hat sich auf den Weg gemacht: Erst liefen rund 100 000 Berliner los und gaben dem "Volksentscheid Fahrrad" ihre Stimme. Der rot-grüne Senat machte sich ihre Forderungen zu eigen und goss sie in ein "Mobilitätsgesetz". Nun entwickelt sich die Hauptstadt laut ihrer Verkehrssenatorin zu einer "Fahrradstadt".

Momentan ist Fahrradfahren dort zwar immer noch vor allem furchteinflößend und potentiell lebensgefährlich. Auch die Aktivisten des Vereins "Changing Cities", der den Volksentscheid und das Mobilitätsgesetz angestoßen hatte, bemängeln, eine Fahrradstadt sei Berlin bislang hauptsächlich in den Berliner Stadtmarketingbroschüren. Viele Fahrradwege stecken im Planungsstau fest, und die Finanzierung neuer Straßenbahn- oder gar U-Bahn-Strecken ist völlig unklar. Aber kleine Fortschritte gibt es doch: Radwege werden mit Pollern vor Autos geschützt; Fußgänger sollen längere Ampelphasen bekommen.

Und das Berliner Beispiel hat inzwischen Schule gemacht. Radfahrer fordern mehr Platz und Sicherheit auf den Straßen der Städte. Bundesweit vernetzen sie sich in Bürgerinitiativen, die den Fahrradverkehr in ihren Städten befördern wollen. Von Neustadt an der Weinstraße über Köln und Hamburg bis Eberswalde und Esslingen sind große und kleine Kommunen darunter. In einigen Gemeinden nehmen sie sich Berlin zum Vorbild und initiieren Volksentscheide zum Thema Fahrradverkehr.

Die Aktivisten hinter "Aufbruch Fahrrad" wollen etwa durchsetzen, dass in Nordrhein-Westfalen 2025 immerhin 20 Prozent der Verkehrswege mit dem Rad zurückgelegt werden statt bisher acht Prozent. Angemeldet von einem Fahrradverein in Köln und dem ADFC NRW, läuft der Entscheid noch bis zum Sommer 2019. Auch die Rostocker haben sich im Sommer 2018 zusammengetan, um sich für eine bessere Radinfrastruktur einzusetzen. Kinder und Senioren sollen sicher und entspannt Rad fahren können, lautet eine ihrer Forderungen. Die Ziele einer fahrradfreundlichen Stadt wollen sie per Radentscheid durchsetzen.

Letztes Beispiel: München. Ende 2018 gründeten über dreihundert Bürger und rund zwanzig Institutionen und Parteien den "Radentscheid München", weil sie die "jahrelangen Radlhauptstadt- Versprechungen" satt hatten. Per Bürgerbegehren wollen sie die Situation für Fahrradfahrer "massiv verbessern" und ihnen einen "gerechten Platz bei der Verteilung der Verkehrsflächen" verschaffen. "Elegant am Stau vorbeiradeln und dabei etwas für die eigene Gesundheit tun - gute Gründe für das Fahrrad gibt es viele", formuliert der Radentscheid auf seiner Website, nennt aber auch Gründe, das Fahrrad im Keller stehen zu lassen. Die ohnehin lückenhafte Fahrradinfrastruktur Münchens weist erhebliche Mängel auf: Radwege enden im Nichts oder mitten im Autoverkehr. Fahrradstreifen sind zu eng und oftmals zugeparkt, unübersichtliche Kreuzungen sorgen für Gefahrensituationen. Hinzu kommen schlechte oder fehlende Abstellmöglichkeiten für Fahrräder."

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Uns stinkt's!" Was jetzt für eine zweite ökologische Wende zu tun ist von Heike Holdinghausen. Sie macht darin Schluss mit dem Märchen von Deutschlands Vorreiterrolle beim Klimaschutz, legt die Fakten offen und zieht eine ernüchternde Bilanz: Deutschland produziert und konsumiert, als gäbe es kein Morgen. Es wird höchste Zeit für eine zweite ökologische Wende!

Der gerechte Platz bei der Verteilung der Verkehrsflächen - darum geht es. Autofahrer haben zu viel Raum, alle anderen zu wenig. Das zeigt sich sogar in der europäischen Vorzeigestadt in Sachen Fahrradverkehr, in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete über Staus auf den zahllosen Fahrradschnellstraßen, -brücken und -spuren. Zur Hauptverkehrszeit schöben sich die Radler "Reifen an Reifen" durch die Innenstadt, wie auf der Autobahn. An manchen Kreuzungen stünden die Fahrradfahrer Schlange.

Der Fahrradverkehr Kopenhagens leidet unter seinem Erfolg, auf besonders beliebten Radstrecken werden täglich 48.800 Räder gezählt. Deshalb fordert der dänische Radfahrerverband nun noch mehr und noch breitere Radwege. Außerdem müssten die Ampelphasen an die Bedürfnisse der Fahrradfahrer angepasst werden, weil die Radler nun eben in der Mehrheit seien.

Die selbstbewussten Forderungen der Fahrradfahrer sind immens wichtig und können auf der kommunalen Ebene eine enorme Durchschlagskraft entwickeln. Sobald der Radverkehr eine kritische Masse erreicht, müssen die Autos weichen. Das wäre dann die Verkehrswende von unten.

Wenn man das ein bisschen weiterspinnt, dann könnte diese Verkehrswende von unten weitreichende Folgen haben. Mehr ÖPNV, mehr Fahrradfahrer und Fußgänger, weniger Autos und Lkw: Wenn das in vielen Städten Schule macht, nicht nur in Europa, sondern weltweit in den Metropolen, dann zwingt es auch die Autokonzerne dazu, neu zu denken. Sie würden schrumpfen, sie müssten sich neue Geschäftsmodelle suchen. Sie würden Menschen weniger Arbeit geben, und sie wären weniger einflussreich. Das wäre gut. Diese gesund geschrumpften Autofirmen wären Teil einer Wirtschaft, die weniger abhängig vom globalen Markt ist, und, irgendwann einmal, auch weniger abhängig vom Wachstum.

Es ist zu riskant, das Wohlergehen der heimischen Wirtschaft coolen Kerlen anzuvertrauen, die von PS-starken Kisten in wilden Landschaften träumen - ob mit oder ohne Schnauzbart. Der letzte Typ, der durch eine wilde Landschaft dem Sonnenuntergang am Horizont entgegensauste, saß auf einem Pferd und war der Marlboro-Mann. Sie wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist? Rauchen ist inzwischen völlig aus der Mode. Und der Mann ist tot, er ist an Lungenkrebs gestorben.

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