AIDS im nachkolonialen Afrika - Auftakt zur Epidemie

Der kongolesische Premier Patrice Lumumba unterzeichnet am 30. Juni 1960 mit dem belgischen Premier Gaston Eyskens die Urkunde zur Unabhängigkeit des Kongo. Nur wenige Tage später leitet Eyskens eine Kabinettsitzung, wo die Ermordung Lumumbas diskutiert wird. Bild: Congopresse / Public Domain

Welche Veränderungen führten in Zentralafrika zur Expansion von AIDS? Eine Fallstudie über Ursachen und Folgen von Massenverelendung und Flucht. AIDS als koloniales Überbleibsel - Teil 5

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Eine Gewebeprobe von 1959 beweist, dass HIV bereits in Léopoldville, der Hauptstadt des damaligen Belgisch-Kongo, existierte. Die Probe einer weiteren Person, 1960 unmittelbar nach der Unabhängigkeit am selben Ort genommen, zeigt bei der Virus-RNA bereits in 12% des genetischen Materials Abweichungen. Bei den bekannten Mutationsraten des Virus zeugt diese Verschiedenheit von einer jahrzehntelangen Evolution während der Kolonialperiode.1

Die untenstehende Tabelle zeigt alle wesentlichen Verbreitungsmöglichkeiten, die im kolonialen Afrika eine Rolle spielten.

Infektionsweg Risiko pro Kontakt
intravenöse Injektion (medizin. Behandlung) 0,60%
perkutane Nadelstiche (medizin. Behandlung) 0,20%
heterosexueller (vaginaler) Geschlechtsverkehr <0,08%
Mittlere Übertragungsrisiken von HIV-1 Gruppe M bei einer infizierten Quelle. Die Werte liegen erheblich höher, wenn sich der Überträger in der hochansteckenden Anfangsphase oder im Spätstadium befindet. Datenquellen: CDC (Centers for Disease Control and Prevention) Online [Stand: 18.4.2019] / Pépin J (2011): The Origins of AIDS. Cambridge University Press, Cambridge.

Angesichts der niedrigen Übertragungswahrscheinlichkeiten und einer geringen Anzahl von Erstinfizierten konnte die Krankheit nur weiterexistieren, wenn Infizierte mit einer größeren Anzahl von Menschen in Kontakt kamen. Eine Schlüsselrolle spielten weitläufige Gesundheitskampagnen mit schlecht sterilisierten Instrumenten sowie die familienfeindlichen Zuzugsbeschränkungen einiger Städte, indem sie unbewusst zur Förderung der Prostitution beitrugen.

Wie auch im Rest der Welt existierte Sex gegen Bezahlung bereits im vorkolonialen Afrika. Durch die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen während der Kolonialperiode erhielt das Gewerbe jedoch einen starken Aufschwung und wurde teilweise sogar gesellschaftsfähig. Innerhalb der Gesellschaft wuchs eine Risikogruppe, welche die Fortexistenz der Seuche sicherte.

Dennoch gibt es während der Kolonialzeit keinen Hinweis auf eine geographische Ausweitung der Infektion über einen beschränkten Teil von Belgisch-Kongo und die angrenzenden französischen Territorien hinaus. Die Expansion auf den ganzen afrikanischen Kontinent und darüber geschah erst in Folge des kongolesischen Bürgerkriegs.

Die Epidemie als Begleiterscheinung neokolonialistischer Machtpolitik

Zum Verständnis des nachkolonialen Entwicklungssprungs der Seuche sind zwei Dinge wesentlich. Der wirtschaftliche Zusammenbruch und die einhergehende Verelendung förderten die Verbreitung von Krankheiten. Das ist wenig überraschend und war auch damals vorhersehbar. Jedoch war der unmittelbare Kollaps des jungen kongolesischen Staates keineswegs dem Unvermögen der Afrikaner geschuldet. Es war auch kein simpler Betriebsunfall in den kongolesisch-belgischen Beziehungen, wie die Historiker Ludo De Witte2 und Hugues Wenkin3 aufgrund von Archivdokumenten nachwiesen.

Stattdessen handelte es sich um zielgerichtete Sabotage des damaligen Brüsseler Machtzirkels aus Politik, Wirtschaft und Militär. Sie schufen den Status Quo, der das Land bis heute beherrscht und neben den Metallen für die Elektronikindustrie ebenso billige Arbeitskräfte nach Europa exportiert. In diesem Sinne waren die 1960er Jahre nur ein kurzer Versuch der kongolesischen Unabhängigkeit, nach dessen blutiger Unterdrückung die wesentlichen ökonomischen Abhängigkeiten unverändert blieben.4

Bis jetzt werden sie mit denselben Methoden aufrechterhalten, die das koloniale Getriebe schmierten: Gewalt und die Korruption einer einheimischen Oberschicht. Die resultierende Verelendung ist genauso unspektakulär wie die daran gekoppelte Elendsprostitution, welche der Seuche den Weg durch den Kontinent bahnte. Doch gegen Ende der 1950er Jahre sah es zunächst optimistischer aus.

Ein Machtsystem zerfällt

Für die kolonialen Völker zeigte der Zweite Weltkrieg ein anschauliches Beispiel der Schwäche ihrer Herren. Frankreich und Belgien wurden im Krieg von Deutschland besetzt und die Exilregierungen mussten sogar in den Kolonien rekrutieren lassen, um ihre Armeen aufzufüllen. Nach Kriegsende traten sowohl die USA als auch die Sowjetunion für eine Dekolonisierung ein, die in Asien begann. Internationale Konventionen forderten die Abschaffung der Zwangsarbeit.5

Wie hoch das Misstrauen der Einheimischen gegenüber der Administration gestiegen war, lässt sich daran ermessen, dass sogar die prophylaktischen Maßnahmen gegen die Schlafkrankheit unpopulär wurden. Eine Reihe von "Betriebsunfällen" mit Dutzenden von Toten, bedingt durch zwangsläufige Hygienemängel bei der Massenabfertigung, trug schließlich zu ihrer Einstellung in den meisten Kolonien bei.6 Politische Reformversuche, wie zumindest im französischen Machtbereich, kamen zu spät, da sie unglaubwürdig wirkten. Die Führungsschicht Belgisch-Kongos, die sich durch eine bemerkenswerte politische Blindheit auszeichnete, führte das Land statt zur Entkolonialisierung in eine humanitäre Katastrophe.

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