Türkei: Schlagstöcke zum Fastenbrechen

Ein Gegenpol zu Präsident Erdogans Prunkfeiern? Unerwünscht wie kritische Journalisten in der Türkei und die Türkei in der EU

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Wer hoffte, nach der Aufhebung des Besuchsverbots bei dem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Abdullah Öcalan würde sich Erdogan und die AKP zurück auf den Weg zur Rechtsstaatlichkeit und Demokratie machen, wird enttäuscht. Täglich gibt es neue Meldungen über Verhaftungen von Politikern und Journalisten. Auch die Zivilbevölkerung wird drangsaliert. Trotzdem gibt es immer wieder phantasievolle Protestaktionen aus der Zivilbevölkerung.

Eine davon ist ein Treffen zum Fastenbrechen in einem Park in Istanbul. Kurz vor Sonnenuntergang kamen dort junge Menschen, "Männer in Arbeitskluft oder im Anzug, Frauen mit Kopftuch oder ohne, Studenten mit Rucksäcken ..." zusammen und packten auf ausgebreiteten Teppichen und Tüchern mitgebrachte Speisen aus, um diese mit den Anwesenden zu teilen. Sie sollen einen Gegenpol zu den von Präsident Erdogan "mit Prunk und Pomp zelebrierten" abendlichen Fastenbrechen-Tafeln setzen.

Protest gegen Luxus der präsidentiellen Empfänge

Mit ihrer "Tafel auf der Erde" protestieren sie gegen den Luxus, der mit der eigentlichen Tradition des Fastenbrechens nichts zu tun hat. Der wahre Geist des Fastenbrechens sei "Teilen, Toleranz und Bescheidenheit", Erdogans Iftar-Empfänge, "bei denen ein Gedeck mehr koste, als ein Arbeiter im Monat verdiene", hätte mit der islamischen Kultur nichts mehr zu tun, berichtet ein Teilnehmer des Picknicks. Iftar-Picknicks dieser Art gibt es schon seit 2011, so der islamische Theologe Ihsan Eliacik.

Seit den Gezi-Protesten 2013 begann der Ramadan jedes Jahr einer Tafel auf dem Galatasaray-Platz unweit vom Gezi-Park in Istanbul. Doch dieses Jahr wurde das Iftar-Treffen von der Polizei mit Schlagstöcken auseinander geprügelt. Eliacik wurde verhaftet.

Dabei wäre auch für Erdogan und die AKP Bescheidenheit angesagt, denn die Rezession verschärft sich immer weiter. Im ersten Quartal sank die Wirtschaftsleistung im Vergleich zum Vorjahr um 2,6 Prozent, der Verfall der Lira schreitet voran, es herrscht Flaute in der Bau- und Industriebranche.

Spenden bitte nur an den Präsidenten!

Einer jungen Frau wurden drei Euro Spende für den Istanbuler Bürgermeisterkandidaten der CHP, Imamoglu, fast zum Verhängnis. Weil sie die Quittung auf Twitter mit den Worten "Alles wird sehr schön" veröffentlichte, erntete sie Bedrohungen im sozialen Netzwerk. Dieser Satz ist das Wahlkampfmotto von Imamoglu und kursiert derzeit millionenfach in den sozialen Netzwerken. Einer machte die Drohungen gegen die junge Frau wahr und stach Göknur Damat auf offener Straße in der Kleinstadt Tekirdag nieder.

Aus Solidarität veröffentlichten nun andere Spender ebenfalls ihre Zahlungen. Damat überlebte die Messerattacke. Mittlerweile hat sie wegen der fortdauernden Pöbeleien ihren Twitter-Account gelöscht. Die öffentliche Spendenaktion für den eigentlich schon gewählten Bürgermeister von Istanbul ist auch eine Form des Protestes. Bis Ende letzter Woche haben die Leute landesweit umgerechnet etwa 2,3 Millionen Euro gespendet.

Bekannte Künstler veröffentlichten ihre Quittungen wie Göknur Damat im Internet und stellten sich öffentlich auf die Seite der CHP. Am 31. März dieses Jahres gewann der CHP-Kandidat knapp die Wahl zum Istanbuler Bürgermeister. Anfang Mai erklärte die Wahlkommission die Wahl für ungültig. Nun soll gewählt werden, bis das Ergebnis stimmt.

Die HDP verzichtet auch bei der Neuwahl in wenigen Tagen auf einen eigenen Kandidaten - wohl wissend, dass die kemalistische CHP nicht durch Kurden-Freundlichkeit hervorsticht und wenig Interesse an einem erneuten Friedensprozess zeigt.

Kein Amt dem Feind des Präsidenten!

Wer Interesse an der Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden zeigt, läuft Gefahr, im Gefängnis wegen Terrorpropaganda zu landen. Weil die Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Pervin Buldan, und die HDP - Abgeordnete Feleknas Uca im Mai vergangenen Jahres in der kurdischen Metropole Diyarbakir die "Roadmap für die Lösung der kurdischen Frage" vorgetragen haben, wurden nun Verfahren zur Aberkennung ihrer parlamentarischen Immunität eingeleitet.

In der sogenannten Roadmap geht es um rechtliche und demokratische Garantien, um die Frauenfrage, um kulturelle und ökologische Fragen sowie um die gleichberechtigte Anerkennung aller Minderheiten in der Türkei. Die parlamentarische Immunität der HDP-Abgeordneten Leyla Güven soll ebenfalls aufgehoben werden, weil sie im Gefängnis kurdische Lieder gesungen haben soll.

In Van-Edremit darf die mit 54 Prozent gewählte HDP- Bürgermeisterin Gülcan Kaçmaz ihr Amt nicht antreten. Zwei Wochen nach der Wahl im März liest sie in den Nachrichten, dass ihr das Mandat aberkannt wurde. Die türkische Wahlkommission begründete dies damit, dass sie im Sommer 2016 nach dem Putschversuch im Zuge der Notstandsdekrete ihres Amtes enthoben wurde - wie 140.000 weitere Staatsbedienstete.

Fragt sich, was hat die HDP mit dem Putschversuch zu tun, wo Erdogan doch die Gülen-Bewegung als vermeintliche Drahtzieher des Putsches ausgemacht hat? Und noch merkwürdiger ist, dass die Wahlbehörde ihre Kandidatur für die März-Wahl ja zugelassen hatte. Also kandidieren darf man, aber nicht gewählt werden?

Stattdessen sitzt nun der Zweitgewählte, ein AKP-Kandidat auf dem Bürgermeistersessel, wie auch in fünf weiteren Gemeinden im Südosten der Türkei. Die HDP forderte Neuwahlen in den betroffenen Gemeinden, die aber von der Wahlbehörde - im Gegensatz zu Istanbul - abgelehnt wurden. Demokratie geht anders.

Deutsche Journalistin im Visier der türkischen Staatsanwaltschaft

Weil sie Erdogan-kritische Beiträgen in den sozialen Netzwerken geteilt hat, hat die Staatsanwaltschaft in Ankara Ermittlungen gegen eine deutsche Journalistin mit türkischen Wurzeln aufgenommen. Die in Hamburg lebende Reporterin soll eine Zeichnung des mittlerweile inhaftierten ehemaligen Karikaturisten der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet verbreitet und an türkeikritischen Demonstrationen in Deutschland teilgenommen haben. Wie soll eine Reporterin über eine Demonstration berichten, ohne daran teilzunehmen?

Die Reporterin arbeitet für den regierungskritischen Sender Arti TV, der auch in der Türkei empfangen wird. Der frühere Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar sprach denn auch auf dem Global Media Forum der Deutschen Welle in Bonn von einer "globalen Attacke auf die Presse- und Meinungsfreiheit".

"Ich komme aus dem weltweit größten Gefängnis für Journalisten", erklärt der türkische Journalist, der in Deutschland im Exil lebt. "Wir haben unsere Freiheit innerhalb weniger Jahre verloren. Deshalb sollten wir unsere Rechte sehr leidenschaftlich verteidigen, heute mehr denn je."

Erdogan sei heute der "wichtigste Medienmogul" der Türkei. Die sozialen Medien spielen in der Türkei eine wichtige Rolle, sie seien überlebenswichtig, weil es keine unabhängige Presse mehr gebe, so Dündar. Er mahnte die deutsche Bundesregierung, die Politik der Türkei nicht einfach als gegeben hinzunehmen, denn wer ein autokratisch geführtes Land wie die Türkei unterstütze, mache sich indirekt "auch mitschuldig an Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit".

Ende der EU-Mitgliedsgespräche?

Allmählich scheint die Botschaft von Dündar und anderen Kritikern der Türkei anzukommen. Vergangenen Mittwoch kündigte die Europäische Kommission das Ende der EU-Mitgliedsgespräche für die Türkei an. Es gäbe schwerwiegende Mängel in ihrer Rechts- und Justizkultur, begründete die Kommission ihre Entscheidung. Alle Gespräche mit der Türkei seien wegen "schwerer Rückschläge in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte" beendet worden, berichtete die griechische Zeitung Greek City Times.

Die Türkei habe sich trotz anhaltenden Dialogs und Zusammenarbeit weiter von der Europäischen Union entfernt, wobei in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte erhebliche Rückschläge zu verzeichnen seien. Auch bei Migration und Unterstützung von Flüchtlingen sowie bei den Menschenrechten habe die Türkei versagt. Die Empfehlungen der Kommission werden nun dem Europäischen Rat zur Prüfung und zur Einleitung weiterer Schritte vorgelegt.