"Nein, im Nahen Osten kämpfen nicht Sunniten gegen Schiiten"

Bild: Japan01/gemeinfrei

Der "schiitische Halbmond" ist eine Legende. Wenn Journalisten Kriege erklären, verweisen sie gern auf den uralten Zwist zwischen den Konfessionen. Die Wirklichkeit sieht anders aus

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Irgendwann im Frühjahr 2004 muss es gewesen sein, als ich zum ersten Mal ein islamisches Land bereiste. Mutmaßlich in einem der vielen Wasserpfeifencafés in der Altstadt von Damaskus mündete damals das Halbwissen eines islamwissenschaftlichen Erstsemesters und die Orient-Klischees eines 20-Jährigen, der gerade mit dem Abi fertig war, erstmals in die Frage: "Schiit oder Sunnit?"

Zu meiner Verwunderung spielte der angebliche Grundkonflikt der islamischen Welt für das reale Leben meines syrischen Gegenübers allerdings gar keine Rolle. Mehr noch: Auch in anderen Ländern der Region schienen viele meiner Gesprächspartner nicht einmal die Antwort auf meine Frage zu wissen.

15 Jahre ist das gerade einmal her. Heute dient die Frage, die sich damals vor allem naiven Nahost-Neulingen wie mir stellte, vielen Nahost-Experten als universelle Antwort auf die Konflikte innerhalb der islamischen Welt: "Schiiten gegen Sunniten".

Die Bombardierung Jemens, der Krieg im Irak, Proteste in Bahrain, Anschläge in Pakistan oder der Kampf um die Macht in Syrien: Alles scheint auch Konsequenz eines innerislamischen Zerwürfnisses zu ein, das vor 1400 Jahren seinen Anfang nahm. Aufstände, Demonstrationen, politische Bündnisse, Krisen und Kriege: Nicht mehr als die Folge eines uralten Streits um die Nachfolge des Propheten?

In vielen Nachrichtentexten verschwindet gar jegliche Auseinandersetzung mit Motiven und Interessen der zahlreichen nahöstlichen Konfliktparteien. Was bleibt sind vermeintlich alles erklärende Attribute: die "schiitische Soundso" kämpft gegen den "sunnitischen Diesundsas". Mehr Erklärung scheint es zum Verständnis der islamischen Welt nicht zu brauchen.

Jahrhunderte friedlicher Koexistenz

In Wahrheit ist der Verweis auf die Glaubensrichtung der Konfliktparteien im Nahen Osten in vielen Fällen so hilfreich, als versuche man Differenzen in der Klimapolitik zwischen der katholischen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und der protestantischen Grünen-Chefin Annalena Baerbock aus Luthers Thesenanschlag von 1517 herzuleiten.

Wobei selbst dieser Vergleich zu kurz gegriffen ist: Denn anders als Protestanten und Katholiken hielten es Schiiten und Sunniten die meiste Zeit erstaunlich gut miteinander aus. Betrachtet man die Geschichte der vermeintlich tief verfeindeten Konfliktparteien, dann stößt man größtenteils auf friedliches Miteinander.

Das liegt nicht nur an der hohen Bereitschaft zu innerislamischen Toleranz. Das liegt auch daran, dass die Identitäten "Schiit" und "Sunnit" über Jahrhunderte für viele Menschen in der Region keine besonders hohe Relevanz hatte. "Schia oder Sunna?" Die Konsequenzen dieser Selbstverortung beschränkten sich für Generationen von Muslimen auf die Frage, welche Körperteile man vor dem Gang in die Moschee zu waschen und wie man die Hände zum Gebet zu falten habe.

Interkonfessionelle Ehen waren und sind in vielen Ländern genauso Normalität wie das gemeinsame Beten in der Moschee. Schiitische und sunnitische Theologen stritten erbittert über die richtige Auslegung des Koran und den Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Mohammad. Aber Ausmaß und Intensität ihrer Debatten war häufig nicht größer als jene, die Gelehrte der vier sunnitischen Rechtsschulen auch untereinander hatten.

Auch Spott, Vorurteile und Anfeindungen findet man in den Geschichten von Schiiten und Sunniten reichlich. Aber größere konfessionell motivierte Gewalttaten blieben die Ausnahme. Und in den wenigen Fällen, wo doch einmal zum Angriff auf die "Ungläubigen" auf der anderen Seite gerufen wurde - wie zum Beispiel bei der Schlacht von Tschaldiran im Jahr 1514, als die Heere von Osmanen-Sultan Selim I. und Safawiden-Schah Ismail I. aufeinander trafen - dann war das die Ausnahme, die die Regel jahrhundertelanger friedlicher Koexistenz nur bestätigt.

Der Irakkrieg machte aus Nachbarn Konfliktparteien

Fragt man heute in Wasserpfeifencafés Bagdads nach der Lage im Land, dann hört man vom "friedlicher Koexistenz" nur noch in Form nostalgischer Erinnerungen oder zaghafter Wünsche an die Zukunft. Selten aber beginnt die anschließende Erzählung über die Wurzeln der Gewalt im Jahr 680, als Umayyaden-Herrscher Yazid mit der Tötung des Prophetenenkel Hussein in der Schlacht von Kerbela das innerislamische Schisma besiegelte.

Stattdessen beginnt die Erzählung meist mit dem Einmarsch der Amerikaner im Jahr 2003. Erst der Irak-Krieg machte aus Nachbarn, die sich neben Dialekt und Automarke eben auch mal im Gebetsritus unterschieden, zu Konfliktparteien. Entlang konfessioneller Linien werden im Irak heute Massaker begangen und Wahlen gewonnen.

Das machtpolitische Prinzip von "Teile und Herrsche" ist allerdings ein sehr viel besserer Schlüssel zum Verständnis dieser Gewalt als theologische Streitigkeiten. Spätestens seit dem Irak-Krieg haben Politiker überall in der islamischen Welt den Konfessionalismus als Mittel der Politik entdeckt.