Individuelle Selbstüberschätzung und gesellschaftliche Ideologien

Aspekte einer Theorie der Ignoranz

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Die Ignoranz nährt sich bisweilen aus sich selbst, da mit dem persönlichen Unvermögen die Selbstüberschätzung wächst: Der Dunning-Kruger-Effekt

Trumps Auftritt in Großbritannien war wieder einmal von Zeugnissen atemberaubender Inkompetenz gekrönt; so betonte er gegenüber Prinz Charles, dass die USA "eines der saubersten Klimata der Welt", hätten, das zudem immer besser würde. Über die Reaktion des britischen "Royals" ist nichts bekannt …

Warum wächst ausgerechnet mit dem offensichtlichen Unwissen, der persönlichen Inkompetenz bezüglich einer Sache die Bereitschaft, sich als profunder Kenner oder herausragender Praktiker der jeweiligen Materie kundzutun - und zwar umso lautstärker und selbstbewusster, je geringer die offensichtlichen Fachkenntnisse oder Fähigkeiten sind? Trump ist da ja beileibe kein Einzelfall.

Es geschah 1995 in Pittsburgh. Damals überfiel ein 1,68 Meter großer, fast zweieinhalb Zentner schwerer Mann zwei Banken - und das am helllichten Tag und ohne maskiert zu sein. Noch am selben Tag ging er der Polizei ins Netz, denn die Überwachungskameras der Banken lieferten präzise Bilder von seinen Gesichtszügen. Als der Täter festgenommen wurde, war er fassungslos. Wie sich später herausstellte, war er fest davon überzeugt, für Kameras unsichtbar zu sein, weil er sein Gesicht vorher gründlich mit Zitronensaft eingerieben hatte. Denn, das wusste er aus seinen Kindertagen: Verwendet man Zitronensaft zum Schreiben, wirkt er wie Zaubertinte, und vom Geschriebenen ist nichts zu erkennen. Als der Sozialpsychologe David Dunning von dieser bizarren Geschichte erfuhr, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Könnte es sein, dass ein Unvermögen, wenn es ein bestimmtes Ausmaß erreicht, wie eine Sperre wirkt und verhindert, dass man sich dieses Unvermögens bewusst wird?

Frank Ufen

David Dunning und sein Assistent Justin Kruger versuchten daraufhin, diese Hypothese empirisch zu untersuchen; mit folgendem Resultat:

Je weniger jemand von einer Sache versteht, desto weniger ist er imstande, seine eigene Inkompetenz zu erkennen und zu beurteilen, wie viel oder wie wenig andere von dieser Sache verstehen.

Frank Ufen

Ein interessantes Phänomen, mit dem man in den verschiedensten Lebensbereichen immer wieder konfrontiert ist: Wer kennt sie nicht, die Kandidaten in irgendwelchen Contests, die keinen richtigen Ton herausbringen und dennoch voller Inbrunst daran glauben, der Welt ihr außergewöhnliches Talent vorführen zu müssen? Die Politiker, die davon überzeugt sind, mit einfachsten Rezepten die Menschheit beglücken zu können, obwohl jeder halbwegs gebildete Mensch merkt, dass die Betreffenden von nichts eine Ahnung haben? Die Hobby-Physiker, die ständig und überall Belege für Außerirdische finden oder die beweisen zu können glauben, dass Einstein unrecht hatte, obwohl sie ihn offensichtlich nicht verstanden, ja nicht einmal gelesen haben? Die unwiderstehlichen Finanzgenies, die ein todsicheres Investmentrezept kennen, obwohl sie offensichtlich weder etwas vom Finanzkapital und seinen komplexen Zusammenhängen wissen, noch das Geringste von Ökonomie im allgemeinen verstehen?

Je weniger manche Leute - eben durchaus auch Führungskräfte! - über eine Sache wissen, desto weniger sind sie in der Lage zu erkennen bzw. zu beurteilen, dass sie wenig bis nichts darüber wissen und desto beharrlicher halten sie an ihrem Selbstbild bzw. an ihren unrealistischen Beurteilungen bzw. Erwartungen fest. Theoretisch formuliert:

These 1: Die umfassende Unwissenheit zeigt sich als ihre eigene, zirkuläre Existenzbedingung - sie nährt sich aus sich selbst, da gerade die Unwissenden ihr Unwissen und die Unvermögenden ihr Unvermögen nicht erkennen können - genau wegen dieses Unwissens bzw. Unvermögens. Denn wenn sie sich ihrer eigenen Inkompetenz, der Grenzen ihres Wissens bewusst wären, würden sie ihr Wissen als ergebnisoffenen Analyseprozess wahrnehmen, der des Lernens bedarf - wer im Sinne Platons "weiß, dass er nichts weiß", weiß gerade von dieser Beschränktheit seiner Erkenntnis und weiß damit auch vom Lernen, vom kontinuierlichen Studium der Welt als Mittel der Abhilfe.

Die wirklich Inkompetenten wollen daher auch nichts lernen, da sie wegen ihrer völligen Unfähigkeit, die Sache, um die es geht zu beurteilen, von der Fehlerhaftigkeit, Beschränktheit oder Fragwürdigkeit ihres Urteils nichts mitbekommen. Systematisch formuliert:

These 2: Das Unvermögen, die Grenzen des eigenen Wissens zu erkennen, geht in der Regel mit einer unerschütterlichen Selbstgewissheit als Moment, Resultat und Ausdruck der Ignoranz einher: Die Inkompetenten stechen gerade durch ihr gegen alle Fakten unerschütterliches, von jeglichen Selbstzweifeln unbelecktes Selbstbewusstsein hervor, da sie ihre eigene Inkompetenz genau wegen derselben nicht zu erkennen vermögen. Die Ignoranz ist insofern ein in sich geschlossenes, tragisches Universum, das sich selbst stets von neuem hervorbringt.

Daraus resultieren "schwierige", da beratungsresistente Gesprächspartner, Vorgesetzte, Diskussionsgegner; manchmal aber auch besonders "durchsetzungsfähige" Politiker und unzählige unbeirrbare Selbstdarsteller des Medien-, Politik- und Kulturbetriebs.

Wichtig ist allerdings anzumerken, dass diese Thesen mit keinem naturalistischen Intelligenzbegriff verwechselt werden dürfen: Vermutungen über ein in der angeblichen Intelligenz des Betreffenden wurzelndes, von daher prinzipiell unüberwindbares Unvermögen liegen den empirischen Untersuchungen von Dunning und Krüger nicht zugrunde, wie Susanne Kretschmann in einem kritischen Beitrag1 anmerkt.

Zudem gilt: Irren über das eigene Unvermögen können sich auch kompetentere Leute; es gilt nicht der Umkehrschluss, dass nur Inkompetente die Grenzen ihres Wissens falsch einschätzen. Bemerkenswert an der beschriebenen umfassenden Unkenntnis bzw. Inkompetenz ist allerdings das gegen jegliche Kritik immunisierte Selbstbewusstsein, das ein geschlossenes Universum des Glaubens konstituiert.

Die dem zugrunde liegenden psychologischen Bedürfnisse und eventuellen Persönlichkeitsmerkmale sind nicht Gegenstand der vorliegenden Betrachtungen. Hier geht es nicht um die persönlichen Entstehungsbedingungen der charakterisierten Grundhaltung, sondern um das ihr immanente zirkuläre Selbstbild und das daran geknüpfte geschlossene System der Gegenstandswahrnehmung.