EuGH: Unabhängigkeit der Justiz kann auch durch Richterruhestandsregeln beeinträchtigt werden

Grafik: TP

Die polnische Regierung hatte diesen Teil ihrer Reform bereits vor dem Urteil zurückgenommen

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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat gestern unter dem Aktenzeichen C-619/18 entschieden, dass ein Teil der polnischen Justizreform nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Dabei handelt es sich um die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts von 70 Jahren auf 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen. Die polnische Regierung hatte diese Änderung mit dem Ziel begründet, das Richterruhestandsalter dem in anderen Berufen gültigen Renteneintrittsalter anzugleichen.

Die EU-Kommission hatte gegen diese Änderung am 2.Oktober 2018 beim EuGH Klage eingelegt, worauf hin sie die polnische Staatsführung mit einem Gesetz vom 21. November 2018 zurücknahm. Der Aufforderung des polnischen Außenministers Jacek Czaputwicz, nach dieser Rücknahme der Änderung auch die Klage zurückzunehmen, wollte die EU-Kommission jedoch nicht nachkommen. Sie argumentierte mit einer grundsätzlichen "Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit in der Unionsrechtsordnung", wegen der "weiterhin ein Interesse an der Entscheidung dieser Rechtssache" bestehe.

Ausnahmen vom Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter möglich

Diesem Klärungswunsch kamen die Richter gestern nach und entschieden, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter verstoßen hätte. Ausnahmen von diesem Grundsatz dürfen nämlich "nur unter der Voraussetzung gemacht werden, dass dies durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt ist und dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird". Das kann ihnen zufolge der Fall sein, wenn sich der Gesundheitszustand eines Richters so verschlechtert hat, dass Zweifel an der Fähigkeit zum Ausüben des Amtes bestehen. Kein ausreichender Grund für eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist dagegen das Ziel, das Ruhestandsalter in verschiedenen Berufsgruppen anzugleichen.

Außerdem hätte die Änderung den Luxemburger Richtern nach auch gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter verstoßen, weil es im Ermessen des polnischen Staatspräsidenten gelegen hätte, Richter am Obersten Gericht, die das Ruhestandsalter erreicht hatten, auf Antrag bis zum 71. Lebensjahr weiter tätig sein zu lassen. "Objektive und nachprüfbare Kriterien" für diese nicht anfechtbare Präsidentenentscheidung über die Verlängerung oder Nichtverlängerung fehlten dem Eindruck des EuGH nach, weshalb er diese Befugnis als "geeignet" ansah, "bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der betroffenen Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen".

Überprüfung der Richterernennung könnte auch Folgen für Deutschland haben

Das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages, das Brüssel wegen der polnischen Justizreform eingeleitet hat, soll auch nach dem EuGH-Urteil vorerst weiter laufen. Für einen daraus resultierenden Stimmrechtsentzug müssten sich jedoch alle EU-Mitgliedsländer außer Polen einig sein, dass ein "schwerwiegender und anhaltender Verstoß" gegen EU-Grundwerte vorliegt. Die Staatsführungen Ungarns und mehrerer anderer Länder haben aber bereits durchblicken lassen, dass sie solch einen Verstoß nicht vorliegen sehen.

Ohne Einstimmigkeit könnte die EU die aufrechterhaltenen Elemente der polnischen Justizreform lediglich prüfen lassen, was - je nach Ergebnis - eventuell auch ungeplante Folgen für die Justizsysteme anderer Länder haben könnte. Dabei geht es nämlich darum, dass nicht die Richterschaft, sondern der Sejm über die personelle Bestückung eines Landesrichterrats entscheidet, der Richter ernennt. Dass sich die Judikative nicht ausschließlich selbst verwaltet, sondern von Entscheidungen der Ministerien und Parlamente abhängt, wäre jedoch keine polnische Besonderheit, sondern ist auch in Deutschland geltende Rechtslage (vgl. Kritik an polnischer Justizreform: Sitzt Deutschland im Glashaus?).

Insofern lässt sich der Teil des gestrigen EuGH-Urteils, in dem sich die Luxemburger Richter feststellen, dass sich "jeder Mitgliedstaat" gemäß Artikel 19 Absatz 1 Unterabsatz 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) eine Prüfung der Unabhängigkeit seiner Justiz gefallen lassen muss, auch als indirekte Warnung verstehen.

Gegen die vor allem von der deutschen Regierungspartei CDU durchgesetzte Uploadfilterpflicht hat die polnische Regierung bereits Klage eingelegt (vgl. Polen zieht gegen EU-Richtlinie zum Urheberrecht vor EuGH). Wie die Luxemburger Richter hier entscheiden werden, ist offen - immerhin erklärten sie 2014 und 2016 auch die Vorratsdatenspeicherung für grundrechtswidrig (was die Justizminister im EU-Rat nicht davon abhält, ihre Wiedereinführung zu planen).

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