Umherschweifen bei den Gelbwesten

Unterstützerbotschaft von den Protesten in Hong Kong. Bild: MonsieurLacroix/ CC BY-SA 4.0

Die Gruppe translib nähert sich den Gilets jaunes in der Art der Situationisten

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In den letzten Wochen war es ruhig geworden um die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich. Doch am 14. Juli, dem französischen Feiertag zum Jahrestag der Revolution von 1789, haben sie sich mit ihren Protesten wieder bemerkbar gemacht. Sie haben dafür die offiziellen Reden des französischen Präsidenten genutzt, was ihnen die größtmögliche Aufmerksamkeit garantierte. Ein Grund mehr, die kleine Textsammlung zu lesen, die die Gruppe translib unter dem Titel "Beiträge zu den Klassenauseinandersetzungen in Frankreich" kürzlich herausgebracht hat.

Translib versteht sich als Teil der außerparlamentarischen Linken mit Bezügen zur Situationistischen Bewegung. Die ist in den letzten Jahren zum Lieblingsbezugspunkt einer akademischen Linken geworden, weil man sich dort gesellschaftlich gut aufgehoben fühlt. Auch die Situationisten waren akademisch geprägt, grenzen sich aber vom bürgerlichen Universitätsbetrieb genauso ab, wie sie sich, anders als die Traditionskommunisten, nicht einfach mit den Arbeitern in der Fabrik gemein machten wollten.

Der Begriff des Umherschweifens zwischen den verschiedenen Kämpfen und ihren Milieus wurde von ihnen mit geprägt und war auch eine Herausforderung für eine Traditionslinke, die erst einmal von linken Aktivisten einforderte, sie sollen sich selber an die Maschine stellen und die Hände schmutzig machen, bevor sie über proletarische Politik reden wollen. Gegen eine solche Arbeitertümelei, die nicht selten mit Ressentiments gegen die Intellektuellen gespickt war, grenzten sich die Situationisten mit Recht ab.

Kritik ist Teil der Solidarität

Mit einem ähnlichen Ansatz gehen die Translib-Leute auch an die Bewegung der Gelbwesten ran. Sie sind nicht die, die ständig am Kreisverkehr gestanden haben, aber sie sind auch nicht bürgerliche Akademiker, die die Bewegung erforschen wollen, um sie besser handhabbar zu machen. Sowohl bei den Herausgebern wie bei den Autoren der Texte der Broschüre ist eine Grundsympathie mit den Gilets jaunes herauszulesen.

Kritik, die sich nicht mit dem Adjektiv solidarisch schon selber zurücknimmt, ist für sie nicht ein Angriff auf die Bewegung, sondern ein Zeichen von Solidarität. Und Kritik am realen Erscheinungsbild ist reichlich vorhanden in den Texten. So schreibt die Sozialwissenschaftlerin Rona Larimer in ihrem Tagebuch beim Umherschweifen an den im Winter 2018 besetzten Kreisverkehren der Peripherie, dass sie dort mit rechtslastigen Männern in einen Disput geriet, die der Akademikerin die Welt erklären wollten.

Das führte nun bei ihr nicht dazu, die Bewegung rechts liegen zu lassen, sondern die Kräfte zu stärken, die einen ganz anderen Ansatz haben. Denn ein Großteil der Gilets jaunes sind Frauen und auch migrantische Kämpfe spielten regional eine wichtige Rolle.

Die Herausgeber betonten, dass sie eben kein einheitliches Bild der Gilets jaunes malen, sondern die Bewegung in ihrer Widersprüchlichkeit zeigen. Seit die Gelbwesten im Herbst 2018 das erste Mal in Erscheinung getreten sind, streiten sich Linke in Frankreich und Deutschland, ob es sich um eine rechte oder linke Bewegung handelt. Für translib ist die Frage schon falsch gestellt.

Sie sehen das Auftreten der Gilets jaunes als Folge der Niederlagen der Gewerkschaftsbewegung auch in Frankreich. In den letzten Jahren war es bei den großen Streiks nicht gelungen, den Angriff auf die sozialen Rechte zu stoppen. Bei den Protagonisten der Gelbwesten handelt es sich um Menschen, die oft nie gewerkschaftlich organisiert waren und keine Hoffnungen in die politischen Parteien von links bis rechts haben.

Gewerkschaftsdistanz überhöht

In den dokumentierten Beiträgen der Broschüre wird die Ablehnung der Gewerkschaften allerdings oft etwas überhöht. Darin zeigt sich eben auch die Sicht der Autoren mit ihrer biographischen und politischen Gewerkschaftsferne. So wird öfter der Begriff der "rituellen Gewerkschaftsaktionen" verwendet, von denen sich die Gilets jaunes verabschieden hätten.

Nur waren auch in der Vergangenheit die von französischen Basisgewerkschaften getragenen Kämpfe längst nicht so rituell, sondern haben teilweise das Land mit Blockadeaktionen lahmgelegt. Die betonte Distanz zu gewerkschaftlichen Kämpfen wird von den Autoren dann selbst in Frage gestellt, wenn sie beklagen, dass die Gelbwesten wenig Macht und Einfluss haben, weil sie eben nicht ihre Arbeitsplätze besetzen können. Die Kreisverkehre, eigentlich unwirtliche Orte, wurden dann zum Ort der Begegnung und der Treffen.

Dort lernten sich unterschiedliche Milieus, die vorher wenig Gemeinsamkeiten hatten, oft erstmals kennen. Gerade, wenn es um eine Verstetigung der Gelbwesten geht, ist eine Kooperation mit den Basisgewerkschaften dafür eine wichtige Voraussetzung.

Samuel Hayat zeigt in seinem Aufsatz "Die Gelbwesten und die Frage der Demokratie" wie wichtig eine solche Konvergenz der Kämpfe auch auf ideologischen Gebiet ist. Er beschreibt, dass sich viele Gelbwesten noch immer als Bürger bzw. Citoyen begreifen. Hayat zeigt auch auf, wo ein solches Bewusstsein für den modernen Kapitalismus kompatibel wird:

Die citoyennistische Politik zehrt vom gerechtfertigten Überdruss an der Parteipolitik und von der langen Geschichte des demokratischen Verlangens; sie zehrt aber auch von den Paradigmas der Expertenregierung, durch all jene, die Politik (politics) durch eine Reihe technischer Maßnahmen ersetzen wollen, die Neoliberalen an vorderster Front.

Samuel Hayat

Ähnlich hatte schon der Soziologe Thomas Wagner vor mehr als 10 Jahren den Hang zu Expertenrunden und Technokratenregierungen kritisiert. Auch die Vorliebe für Volksbefragungen und Referenden wurde von Wagner bereits als durchaus mit den Kapitalinteressen kompatibel erkannt. Wenn Hayat am Ende seines Aufsatzes daran erinnert, dass die Linken 1848 nicht den Einzug der Massen in die Politik gefordert haben, um "über diese oder jene Maßnahme abstimmen zu lassen, sondern um eine Klassenpolitik, den Sozialismus zu verwirklichen: im Interesse der Proletarierinnen und gegen die Bourgeoisie", dann benennt er Fragen, die sich im Jahr 2019 neu stellen.

Der US-Soziologe Joshua Clover will in seinem Aufsatz aufzeigen, dass die Auseinandersetzungen in Frankreich wie aus dem Bilderbuch seiner These entsprechen, dass die Zeit der Riots mit dem Ende der fordistischen Arbeiterbewegung gekommen ist. Allerdings ist Clover auch so ehrlich, gleich am Beginn seines Textes den Leser darüber zu informieren, dass er wenig Ahnung über die konkreten Auseinandersetzungen in Frankreich dieser Tage hat.