Das Gesicht der Bundesrepublik

Emmertsgrundpassage in Heidelberg. Bild: ChJ95 / CC-BY-SA-3.0

Welche Lehren lassen sich aus der "Neuen Heimat" und ihrer Architektur ziehen?

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Im Alter, erklärte einmal der Schriftsteller William Somerset Maugham, bereue man gewöhnlich die Sünden, die man nicht begangen hat. Nun, die Neue Heimat muss das posthum nicht bedauern, hat sie doch so gut wie keinen Frevel ausgelassen. Der Konzern schrieb im Wortsinne Geschichte: als Institution, die Anfang des 20. Jahrhunderts so hoffnungsvoll als Fanal eines neuen Denkens und Bauens begann - und nach etwa einer halben Million gebauter Wohnungen, von Skandalen und mafiösem Finanzgebaren lauthals orchestriert, im Debakel endete.

Die Neue Heimat stellte das Flaggschiff der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft dar, die als Alternative zu einer strikt auf Profit bezogenen kapitalistischen Ökonomie gedacht war. Ihr Konzept war an sich durchaus plausibel: Man bot sich als Generalunternehmer an, lieferte Komplettangebote und versprach niedrige Preise.

In der Wiederaufbauzeit nach dem Krieg und im "goldenen Zeitalter" zwischen 1957 und 1973 verkörperte die Firma die Hoffnung auf ein besseres Leben für breite Bevölkerungsschichten. Fast folgerichtig entwickelte sie sich zum größten und bedeutendsten nicht-staatliche Wohnungsbaukonzern in Europa. Sie stellte so etwas wie den Hoffnungsträger für die Teilhabe am Wirtschaftswunder dar - bis die sozialdemokratische Utopie ins Wanken geriet und die Firma in den 1980er Jahren für die sprichwörtliche "Eine D-Mark" abgewickelt wurde. Entsprechend groß war der Schock in der Öffentlichkeit.

Nun, im zeitlichen Abstand von einer Generation, widmen sich drei Bücher und eine Ausstellung einem historischen Phänomen, über das nachzudenken unbedingt lohnt. Zumal es die Frage aufwirft, was aus dem bis heute angestrebten "Wohnen für Alle" geworden ist.

Die Neue Heimat erweist sich als Spiegelbild der bundesdeutschen Sozialgeschichte, und zugleich lassen sich ihre Hervorbringungen als Geschichtsatlas des Städtebaus im 20. Jahrhunderts lesen. Tatsächlich waren viele Projekte zu ihrer (jeweiligen) Zeit durchaus beispielgebend.

Für die Planung der Gartenstadt Hohnerkamp in Hamburg-Bramfeld etwa beauftragte die Neue Heimat in den 50er Jahren Hans Bernhard Reichow, der nach seinem Aufstieg im Dritten Reich zum Verfechter eines "organischen Städtebaus" wurde, dessen Ideen er nun mustergültig realisieren konnte. Er entwarf Gebäude im Nierentischstil, in Pastelltönen verputzt, und legte geschwungene Straßen an, die jede Kreuzung vermeiden. Insgesamt ein denkmalwürdiges, nahezu einmaliges Ensemble.

Ernst May und erneut Reichow zeichneten verantwortlich für die Neue Vahr im Bremer Osten; hier entstand 1957-62 nach den Prinzipien der aufgelockerten, gegliederten Stadt ein ganzer Stadtteil mit 10.000 Wohnungen. Es sollte der Prototyp einer modernen Stadt werden, dessen entscheidende Merkmale lauteten: eigenes Zentrum, Grünzüge, getrenntes Fußwegesystem, gemischte Bauweise vom Hochhaus bis zum zweigeschossigen Reihenhaus und Entmischung der Funktionen. Und als Krönung des Ganzen war das von Alvar Aalto konzipierte das Wohnhochaus an der Berliner Freiheit gedacht. Leider hat das mit dem Modellhaften am Ende nicht so gut geklappt - die Neue Vahr ist nicht entscheidend über eine "Schlafstadt" hinaus gekommen.

Neue Heimat (15 Bilder)

Nürnberg-Langwasser (1961). Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F010856-0009 / CC-BY-SA-3.0

Mit industriellen Methoden für die moderne Massengesellschaft.

Dessen ungeachtet verstand sich die Neue Heimat als eine Art Avantgarde: Die neuen, großen Bauten, die sie landauf, landab errichtete, wurden rational organisiert und streng im Raster konstruiert (nicht zu Unrecht werden sie heute gerne unter dem Begriff "Megastrukturen" subsummiert). Zugleich hatten sie einen gewissen utopischen Gehalt, denn die ausgeführten Gebäude wurden zumeist als Prototypen verstanden - als Beginn einer neuen, umwälzenden Architekturentwicklung. Man erwartete, dass Großstrukturen die traditionelle Stadt mit ihrem Straßennetz und ihren Plätzen, den parzellierten Blöcken und Einzelhäusern in naher Zukunft ablösen würden. Großstrukturen waren das architektonische Resultat des modernen technischen Fortschrittsglaubens. Man baute mit industriellen Methoden für die moderne Massengesellschaft.

Manche Bauten wollten tatsächlich eine "Stadt in einem Haus" sein, zum Beispiel das von der Neuen Heimat getragene Nordwestzentrum in Frankfurt am Main, das Otto Apel, Hannsgeorg Beckert und Gilbert Becker 1962-68 als neue Mitte einer großen Neubausiedlung errichteten. Ein einziges großes Gebäude sollte die Funktionen eines ganzen Stadtzentrums aufnehmen. Integriert wurden ein Einkaufszentrum, Wohnungen und Büros, Schwimmbad, Kindergarten, eine Fachhochschule mit Studentenheim, Bücherei und öffentliche Plätze.

Der burgartige Komplex sitzt auf einem riesigen Parkhaussockel mit Busbahnhof und U-Bahnanschluss. Er ist für Fußgänger nur über Brücken zu erreichen, da er von einer mehrspurigen Verkehrsspange umflossen wird. Von Zeitgenossen wurde das Nordwestzentrum wegen seiner inneren Qualitäten als "Stadt der Zukunft" gepriesen.

Das war einmal. Denn heute gilt die Alltagsarchitektur der 70er Jahre Vielen als Tiefpunkt der Baugeschichte. Während die Bauten der 50er Jahre noch mit handwerklichen Details und charmanter Sparsamkeit aufwarten und die der 60er mit formaler Stringenz für sich einzunehmen wissen, scheint dem Gros der zehn Jahre später entstandenen Gebäude die gestalterische Qualität abhandengekommen: unverständlich ihre Volumetrien, grob gefügt die Fertigteile ihrer Fassaden, plump die Profile von Fenstern und Türen, ohne jede Eleganz die Abschlüsse von Trauf- und Mauerkanten, keine Materialien an Wand, Boden und Decke, deren Oberfläche auch nur den geringsten Reiz in punkto Haptik oder Textur verströmt.

Wohl gemerkt: Hier ist es nicht um die Glanzpunkte jener Epoche zu tun, die es zweifellos auch gibt; es geht um jene anonymen Gebäude, aus denen die die Städte außerhalb ihre Zentren landauf, landab bestehen: um Schulen und Kindergärten, um Bürohäuser und Einkaufszentren, um Ein- und Mehrfamilienhäuser; um die Gebäude also, die jene diffusen Stadtbereiche bilden, die wenig zur Identität einer Stadt beitragen, stark aber das tägliche Leben ihrer Bewohner bestimmen.

Und weil die Neue Heimat der größte Produzent war, steht sie pars pro toto für diesen "Heimatverlust". Doch dieses Bild ist möglicherweise schief, wie die berühmte Studie "Learning from Las Vegas" der Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown lehrt (1971 erschienen, aber ganz klar ein 68er-Projekt). Sie prägte die Wahrnehmung der modernen, kommerzialisierten Stadt und beeinflusste viele urbanistische Entwicklungen weltweit.

Mit einer Mischung aus Faszination und Befremden blickt man heute auf die visionären Stadtentwürfe der Nachkriegsmoderne, für deren namhafteste die Neue Heimat verantwortlich war. Ob nun Mannheim-Vogelstang, der Emmertsgrund in Heidelberg, Nürnberg-Langwasser, Osterholz-Tenever, Neuperlach in München, Hamburg-Mümmelmannsberg oder Darmstadt Kranichstein: Bei aller Unterschiedlichkeit in Konzeption und Formensprache erscheinen sie vom gleichen, ungebrochen optimistischen Geist getragen, der für das Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 so bezeichnend war: technologieaffin, fortschrittsgläubig und megaloman.

Heute muten die Bauten und Siedlungen, aber auch die Modelle und Zeichnungen wie Relikte einer fernen Zeit an, die man halb skeptisch, halb neidisch um ihre von Fragen nach Maßstäblichkeit, Nachhaltigkeit oder sogar Realisierbarkeit unbeschwerte Kreativität bestaunt.

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