Nordsyrien: Hochriskante türkische Sicherheitszone

Wie sehr können sich die Kurden auf die USA verlassen? Handschlag zwischen dem SDF-Kommandanten Mazlum (Kobani) Abdi und dem US-Centcom-Chef General Kenneth McKenzie. Bild: ANF

Geben die USA der Türkei grünes Licht, damit sie mit Islamisten östlich des Euphrat gegen die YPG vorgehen kann?

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Warum die "Sicherheitszone", die die Türkei in Nordostsyrien errichten will, hochgefährlich ist, erklärt die regierungsnahe türkische Publikation Daily Sabah: "Während die Schaffung einer Sicherheitszone einige der Sorgen der Türkei beseitigen würde, wird die Präsenz der YPG in Syrien und ihr Vorhaben, einen Quasi-Staat zu errichten, eine Bedrohung für das Land (die Türkei, Anm. d. A.) bleiben."

Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Sicherheitszone, wie sie derzeit verhandelt wird, nur ein Schritt zur Verwirklichung eines größeren Vorhabens ist, bei der es um die Existenz der YPG geht und um die Behandlung der kurdischen Bewohner der Region östlich des Euphrat.

Was hier auf dem Spiel steht, ist ein "zweiter großer Krieg in Syrien". Den stellte der SDF-Kommandeur Mazlum Kobane (oft auch unter dem Namen Mazlum Abdi oder Ebdi genannt) Ende März dieses Jahres in einem Interview in Aussicht. Angesichts der Erfahrungen, die die kurdische Bevölkerung im Nordwesten Syriens, in Afrin gemacht hat (vgl. dazu Afrin ein Jahr unter türkischer Besatzung), stehen auch ihr Wohl und ihre Kultur auf dem Spiel.

"600 Kilometer lange Front"

Der kurdische Kommandeur der Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF), bei denen die YPG eine Hauptrolle spielen, bekräftigte vor ein paar Tagen erneut, dass seine Truppen vor der Türkei auf der Hut sind und bereit dazu, eine 600 Kilometer lange Front zu eröffnen, falls dies durch Aktionen der Türkei erforderlich würde.

Man würde nicht so handeln wie in Afrin Anfang letzten Jahres, wo man aus strategischen Gründen den Kampf nicht ausgeweitet habe. Jeder Angriff seitens der Türkei östlich des Euphrat würde einen "permanenten Krieg" nach sich ziehen, so die Warnung Mazlum Kobanes, die am Sonntag veröffentlicht wurde.

An den beiden darauf folgenden Tagen war der US-Sondergesandte für Syrien, James Jeffrey, in Ankara um dort über die "legitimen Sicherheitsinteressen" der Türkei zu reden. Die legitimen türkischen Sicherheitsinteressen sind derzeit das diplomatische Synonym (auch bei Centcom-General McKenzie) für die Einrichtung einer safe zone oder buffer zone im Gebiet Nordostsyriens, das von den Kurden verwaltet wird.

Es sind auf jeden Fall türkische Sicherheitsinteressen, deren Legitimität sich aus einem unerbittlichen politischen und militärischen Kampf gegen alles und jeden herleiten, den die Türkei mit der PKK in Verbindung bringt. Übernimmt man diese Position nicht, stellt sich unweigerlich die Frage, wozu Sicherheitszonen in einem Gebiet nötig sind, das friedlich ist und ein dezidiert demokratisches Projekt verfolgt? Von Repression, wie sie aus der Türkei berichtet wird, ist dort nichts zu hören.

Auch Christen fürchten die islamistischen Milizen

Dass auch Christen, die dort leben, große Ängste vor einer Präsenz türkischer Militärs und die mit ihnen verbündeten islamistischen Milizen östlich des Euphrat haben, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Bedrohung von Ortsansässigen in den "Sicherheitsinteressen" der Türkei gesehen wird. Wie die Türkei und ihre islamistischen Besatzungstruppen in Afrin vorgehen, gibt das Exempel dafür vor, was passiert, wenn man die Türkei unter Erdogan in ein von Kurden verwaltetes Gebiet lässt: Es wird über kurz oder lang zu einem türkischen Protektorat, das neu besiedelt wird.

In Afrin hatte Russland den Weg für die mit harter Repression einhergehenden Expansion der Türkei freigemacht - ist es nun an der USA, dies in den Kurdengebieten weiter östlich zu wiederholen? Im Nordwesten Syriens hatte Russland die Lufthoheit und gab "grünes Licht". Im Nordosten Syriens haben die USA die Lufthoheit und es sieht danach aus, als ob die Ampel nicht mehr auf "rot" steht.

Über die Sicherheitszone wird noch verhandelt, dazu wurden nun Arbeitsgruppen geschaffen, so der eingangs genannte englisch-sprachige Bericht der Daily Sabah. Eine Meldung des türkischen Verteidigungsministeriums berichtet ebenfalls davon, dass es Arbeitsgespräche über die Schaffung einer safe zone im Nordosten Syriens gibt.

Diskussionspunkte

Aus einem al-Monitor-Bericht, der zum Besuch des US-Sonderbotschafters James Jeffrey erschien, geht hervor, dass die USA eine "Pufferzone" in einem Dreieck vorschlagen, dass von den Orten Kobane, Tal Abjad und Ain Issa gebildet wird. Laut Informationen des türkischen Autors Metin Gurcan hätten die USA "YPG-Vertreter davon überzeugt, eine solche Pufferzone zu akzeptieren, auch wenn es noch wichtige Diskussionspunkte gibt".

Bislang ist dies aber noch nicht von YPG-Vertretern offiziell bestätigt worden. Das Modell der "Pufferzone", das laut al-Monitor verhandelt wird, nimmt sich Manbidsch als Orientierung. Dort kontrollieren die Türkei und die SDF zwei unterschiedliche, durch den Euphrat getrennte Zonen. Ähnlich soll die Kontrolle über die "Pufferzone" auch aufgeteilt werden.

Allerdings ist nur schwer vorstellbar, dass die SDF/YPG-Kräfte es zulassen, dass aufseiten des türkischen Militärs islamistische Milizen für die Überwachung, Beobachtung oder Kontrolle des Gebietes mitten in der kurdischen Verwaltung zuständig sind - eben jene Milizen, die in Afrin für brutale Menschenrechtsverletzungen unter der kurdischen Bevölkerung sorgen.

Als anderer großer umstrittener Punkt wird angeführt, dass noch nicht klar ist, wie in den Städten verfahren werden soll. Kobane besetzt von türkischen Militärs oder islamistischen Milizen ist aus Sicht der kurdischen Streitkräfte ebenso wenig denkbar wie eine derartige Präsenz in Tal Abjad (auch Tall Abyad oder kurdisch Gire Spi). Dazu braucht man sich nur die Vorgeschichte anzuschauen, die gelinde gesagt darauf hinweist, dass sich der IS, die Islamisten und die Türkei nicht wirklich auf unterschiedlichen Fronten gegenüberstanden.

In Tal Abjad direkt an der Grenze zur Türkei stehen derzeit Menschenketten, um gegen die türkische Bedrohung zu demonstrieren. Auch das verweist auf einen Widerstand gegen eine "Puffer- oder Sicherheitszone", mit dem aufseiten der Kurden zu rechnen ist.

Welche Art von Waffen an welchen Orten erlaubt sind, was als weiterer Hauptstreitpunkt bei den Verhandlungen erwähnt wird, erscheint neben den genannten Punkten als irgendwie lösbar. Für die Sicherheit der Kurden ist übergeordnet, ob die Türkei, wie sie es vorhat, im Luftraum über der safezone ihre Flugzeuge einsetzen darf. Darüber entschieden die USA.

Die US-Strategie

Wie Jeffrey James kürzlich bei einem Auftritt im Aspen Institute erklärte, verfolgt, anders als oft behauptet würde, die USA eine klare Strategie in Syrien. Als Ziele nennt er: die Beendigung der iranischen Präsenz, den Kampf gegen die letzten Reste des IS und Assad das Leben so schwer machen, dass er in einen "politischen Prozess" einwilligen muss. Die Türkei, die mit der Milizen-Opposition gegen Assad zusammenarbeitet, passt gut zum letztgenannten Punkt des Plans.

Dass in der Türkei syrischen Flüchtlingen erheblicher Druck gemacht wird, dass sie Istanbul und andere, weiter von Syrien entfernte Zonen verlassen, um in ihnen zugeordnete Regionen zurückzukehren, wird von Beobachtern als Schritt gewertet, der dazu führen soll, dass die Flüchtlinge in den neuen künftigen "türkischen Protektoraten" im Nordosten Syriens angesiedelt werden.

Die Türkei drängt

Dass die Einrichtung der safe zone in Syrien mit der Rückkehr der Flüchtlinge verbunden ist, daraus wird von Ankara kein Hehl gemacht. 80% der türkischen Bevölkerung ist laut Umfragen dafür, dass die syrischen Flüchtlinge zurückkehren.

Und die auffallende Präsenz der türkischen Militärs an der syrischen Grenze bei Tal Abjad macht kein Hehl daraus, dass man zum Einmarsch bereit steht - möglicherweise auch ohne Einwilligung der USA, die aus genannten Gründen von den Kurden kein Ja zur "Pufferzone" bekommt? Auslöser für den Marschbefehl Rchtung Syrien aus "legitimen Sicherheitsinteressen" lassen sich finden. Ist die Türkei erst mal da, würde aus dem geschaffenen Faktum heraus noch einmal anders verhandelt.

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