Überwachungskapitalismus und Wissenschaftssteuerung

Die Metamorphose des Wissenschaftsverlags Elsevier zum Research Intelligence Dienstleister ist paradigmatisch für die neuen Möglichkeiten der Protokollierung und Steuerung von Wissenschaft

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Schon seit der Mitte der 1920er Jahre wurden Daten genutzt, um die Leistung eines Wissenschaftlers zu protokollieren und zwar durch Nutzung bibliometrischer Informationen, wenn etwa die Zahl der Publikationen oder Zitationen dieser gezählt wurden. Heute stehen zur Steuerung von Wissenschaft ungeahnte Möglichkeiten bereit, Daten zu produzierten und genutzten Informationen zu sammeln und zu kombinieren, so dass die einst so wichtigen Zitationen eine nur noch untergeordnete Rolle spielen.

Zur Illustration dieses Wandels bietet sich ein Blick in die Historie des Verlags Elsevier und dessen Metamorphose zum Research Intelligence Dienstleister an, spiegelt dessen strategische Umgestaltung die neuen Möglichkeiten der Protokollierung und Steuerung von Wissenschaft doch nahezu idealtypisch wider.

Der Informationsanbieter Elsevier wurde im Jahr 1880 als Verlag gegründet, das Geschäftsmodell bestand im Verkauf und Vertrieb wissenschaftlicher Publikationen. Laut Outsell Report war Elsevier 2013/2014 mit 2525 Journalen der Verlag, der nach Springer inkl. BioMed Central (BMC) die zweitmeisten Zeitschriften publizierte, Springer und BMC kamen zusammen auf 2984 Journale. Aktuell legt Elsevier mehr als 2700 wissenschaftliche Zeitschriften auf, Springer Nature etwas über 3000, Wiley circa 2.500.

Geschäftsfeld Bibliometrie (2004)

Seit 2004 ist Elsevier nicht mehr nur ein Verlag, denn in diesem Jahr brachte man die Datenbank Scopus auf den Markt. Scopus ist eine Recherche- und Zitationsdatenbank und folglich ist für Herausgeber und Verlage eine Indexierung ihrer Journale in Scopus attraktiv. Allein schon die Aufnahme einer Zeitschrift in eine Recherche-Datenbank wird als Gütekriterium wahrgenommen, dies gilt noch viel mehr, wenn diese Datenbank Auskunft über den Impact, die meist (und umstrittener Weise) als Qualität interpretierte quantitative und durch Zitationszählungen ermittelte Resonanz einer Publikation gibt.

Aus der Perspektive des Scopus-Anbieters bedeutet dies, dass fremde Verlage ihm Content geradezu zur Auswertung aufdrängen und Elsevier selbst Daten über das Geflecht wissenschaftlicher Informationen nicht nur als Zitationsdatenbank teuer verkaufen, sondern auch für eigene Zwecke auswerten kann. Mit Scopus schaffte Elsevier, neben der eigenen Verlagsdatenbank ScienceDirect, einen zweiten Datenpool, gefüllt mit Informationen fremder Anbieter, gespickt mit Daten über die Kommunikation in wissenschaftlichen Journalen und mit Meta-Informationen dazu, wer (als Person oder Organisation) wieviel mit wem worüber publiziert und wer wie häufig von wem zitiert wird.

Geschäftsfeld Benchmarking (2009)

2009 schuf Elsevier mit SciVal ein weiteres, ganz neuartiges Angebot, dessen Zweck weder Recherche nach Publikationen noch Zitationszahlen dient, sondern vielmehr dem Benchmarking von Wissenschaftseinrichtungen. Dieser Dienst wird später noch detaillierter diskutiert.

Geschäftsfeld Forschungsinformation (2012)

Die Entwicklung weg vom traditionellen Verlagsgeschäft wurde immer offensichtlicher, als man 2012 den Anbieter Atira und dessen Forschungsinformationssystem PURE erwarb.

Forschungsinformationssysteme dienen nach außen der Darstellung der Leistungsfähigkeit einer Einrichtung, intern zu Benchmarking und Protokollierung der Forschungsleistung dieser. Unter anderem werden solche Systeme üblicher Weise mit Projektdaten, Finanzdaten, Publikationsinformation und Impactziffern gespeist.

Geschäftsfeld Reference Management (2013)

2013 hielt die Shopping Tour Elseviers weiter an und man erwarb die Literaturverwaltung Mendeley. Mendeley dient der Verwaltung wissenschaftlicher Literatur und hat überdiese eine Social-Network-Komponente zur Kontaktpflege mit Fachkollegen. Es erleichtert die Textproduktion und erlaubt das bequeme Einfügen von Referenzen in Publikationen. Ob Mendeley dem wirtschaftlich gut aufgestellten Anbieter Elsevier wirklich nennenswerte Einnahmen beschert, mag fraglich erscheinen: Die kostenfreie Endnutzer-Version bietet kaum beachtenswerte Unterschiede zur kostenpflichtigen Variante und auch die Campus-Lizenzen dürften finanziell nicht sonderlich ins Gewicht fallen.

Interessanter könnte Mendeley als Datenquelle sein, denn daraus lassen sich Informationen über die Relevanz publizierter Texte gewinnen, die noch zu jung sind, als dass sie hätten zitiert werden können. Weiterhin lässt sich die Wichtigkeit von Texten erfassen, die zwar sehr von großem Interesse zu sein scheinen, da viele Wissenschaftler sie sich in Mendeley merken, die jedoch nicht oder selten zitiert werden (z.B. weil sie eher für die Lehre oder Methodik als die Forschung relevant sind) oder deren Zitationen von klassischen Zitationsdatenbanken nicht erfasst werden, weil die zitierenden Quellen nicht von diesen indexiert sind.

Die Möglichkeit, Dokumente in Mendeley als Favorit zu markieren, ermöglicht sogar eine noch exaktere Bewertung deren Inhalts. Besser noch: Es ließen sich gar Informationen über zukünftige Forschung gewinnen, man müsste dazu nur auslesen, welche Themen in den Bibliotheken der Literaturverwaltungsnutzer gerade Konjunktur haben. Da Mendeley Nutzern auch Online-Profile bietet, sind diese geneigt hier akademischen Status (z.B. Student, Promovierender, Post Doc, Professor), Affiliation und fachliche Zuordnung zu hinterlegen, was noch treffsichere Einschätzungen zu thematischen Moden ermöglicht. Noch feinere Daten fallen an, wenn Mendeley-Nutzer ihren Account mit ihrer Autoren-ID in Scopus verknüpfen.

Geschäftsfeld Medienmonitoring (2015)

2015 kaufte Elsevier den Service Newsflo, der die Wirkung von Wissenschaft, Publikationen und Forschungsergebnissen in Medienberichten analysiert. Der Dienst wertet laut Website 45.000 News Outlets in über 20 Ländern aus (darunter die USA, Indien, China, Brasilien und mehrere europäische Länder) und wirbt mit einer hochpräzisen Suche nach Autoren-IDs und Affiliation durch eine Verbindung mit Scopus. Genauso betont man an gleicher Stelle die Verknüpfung

• mit Mendeley zur Bestimmung des gesellschaftlichen Einflusses von Forschung,

• mit SciVal zur Visualisierung der Resonanz einer Einrichtung und ihrer Forscher sowie

• mit PURE, für das ein Media Showcase mit Live-Feeds existiert, um aggregierte Daten der Presseberichterstattung über Forscher einer Institution zu erhalten und anzuzeigen.

Geschäftsfeld Forschungsdaten-Management (2015)

2015 launchte Elsevier schließlich den Forschungsdaten-Dienst Mendeley Data. Mendeley Data stellt kostenlosen Speicherplatz zum Ablegen von Forschungsdaten bereit. Naheliegender Weise nutzen manche Elsevier-Journale oder von Elsevier aufgelegte Society Journals (z.B. CELL Press) den Dienst, um Artikeln zugrundeliegende Forschungsdaten verfügbar zu machen. Solche mit Publikationen verbundene Datensätze werden auch in ScienceDirect mit dem entsprechenden Artikel nachgewiesen und verlinkt.

Geschäftsfeld Disziplinäre Open Access Repositories (2016)

2016 erstand Elsevier den Open-Access-Dienst Social Science Research Network (SSRN), eine Publikationsplattform für die Sozial- und Geisteswissenschaften, auf der vor allem Preprints und Discussion Papers erscheinen. Der Clou: Man hielt eine Technik in Händen, die sich auf andere Fachbereiche ausrollen lassen sollte (und die sich perspektivisch als Plattform vermarkten lassen würde) und hatte Zugriff auf Informationen aus noch nicht formal publizierter Forschung, die also z.B. noch nicht in Scopus oder Mendeley hinterlegt war.

Das Ausrollen der SSRN-Technik ließ auch nicht lange auf sich warten, noch 2016 startete Elsevier zwei Publikationsdienste für Working Papers aus den Naturwissenschaften, ChemRN und BioRN. Zwar ist die Nutzung SSRNs nach wie vor kostenlos möglich, allerdings versucht Elsevier Leser des Archivs mittlerweile verstärkt zur Registrierung zu bewegen.

Geschäftsfeld Elektronische Labordaten (2016)

Ebenfalls 2016 erwarb man einen Dienst, der in erster Linie Natur- und Lebenswissenschaftlern nützlich ist, Hivebench. Die Software erlaubt die Verwaltung von Experimenten, Protokollen, Analysen und Daten. Man wirbt mit den Möglichkeiten der umfassenden, konsistenten und strukturierten Datenerfassung mittels Hivebench, das eine einfache und sichere Möglichkeit zur Verwaltung und Aufbewahrung von Protokollen und Forschungsdaten biete.

Als Anreiz zur Nutzung von Hivebench in Kombination mit anderen Elsevier-Diensten sprechen Komfort und einfache Datenhaltung, exemplarisch werden auf der Website die Integration von Hivebench und Mendeley Data empfohlen, u.a. zur Sicherung der Langzeitarchivierung von Forschungsdaten.

Geschäftsfeld Institutionelle Open Access Repositories (2017)

2017 bediente sich Elsevier nochmals im Open-Access-Segment und übernahm den Repository-Anbieter Bepress. Anders als SSRN, BioRN oder ChemRN, die zentrale fachliche Publikationsserver sind und nicht als Hosting-Lösungen angeboten werden, ist Bepress eine Software, die Forschungseinrichtungen selbst betreiben, um Wissenschaftlern eine Plattform zur Open-Access-Publikation zu bieten. Elsevier bewirbt Bepress mit den bekannten Lockmitteln Showcase und Impact: "Campuses can promote faculty and their expertise with scholarly profiles and expert galleries. And administrators can use industry-leading readership analytics to track impact and share it with stakeholders."

Die Pressemitteilung Elseviers anlässlich des Erwerbs von Bepress zitiert Bepress CEO Jean-Gabriel Bankier mit den Worten "Now with Elsevier we'll be stronger and better by applying more technologies and data and analytics capabilities to help more institutions achieve their research goals." Ein Kommentar, der vermitteln soll, wie unerlässlich Datenanalysen für eine Wissenschaftseinrichtung sind, die nicht scheitern, sondern ihre Ziele erreichen will.

Geschäftsfeld Altmetrics (2017)

Im Februar 2017 akquirierte Elsevier schließlich den Altmetrics-Anbieter PLUM Analytics, dessen Service PLUM X, wie andere Altmetrics-Dienste auch, Impact wissenschaftlicher Objekte zu erfassen sucht, der sich nicht (nur) in Zitationen manifestiert, sondern z.B. in der Anzahl der Tweets, der Likes, des Vorkommens in Mendeley-Bibliotheken.

PLUM X unterscheidet sich von vergleichbaren Angeboten wie Impactstory oder Altmetric.com durch den offenkundig kompetitiven Anspruch und seine Benchmarking-Funktionalitäten und bringt eine Fülle an Informationen über die Verbreitung wissenschaftlicher Objekte in Social Media, Nachrichten, Literaturverwaltungssystemen und einer Vielzahl anderer Kommunikationskanäle wissenschaftlicher wie nicht-wissenschaftlicher Natur mit sich. Die Liste der Objektarten (oder in der PLUM-Terminologie: Artefakte), die PLUM X trackt, umfasst derzeit 67 Typen, unter anderem auch Audio-Dateien, Blogs, Broschüren, Software Code, Datensätze, Designs, Expertenmeinungen, Regierungsdokumente - eine für Thinktanks interessante Perspektive.