Moskau: Rekordzahl von Verhaftungen bei regierungskritischen Protesten

Bild: Rabkor.ru

Die Opposition spricht von 1373 festgenommenen Demonstranten, die gegen die Nichtzulassung von oppositionellen Kandidaten demonstrierten

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Seit Wochen gibt es in Moskau Proteste wegen der Nichtzulassung von 13 oppositionellen Kandidaten zu den Moskauer Stadtparlaments-Wahlen, die am 8. September stattfinden werden. Am 20. Juli gab es eine Protestkundgebung auf dem Moskauer Sacharow-Prospekt mit 20.000 Teilnehmern. Die Polizei sprach von 12.000 Teilnehmern.

Am vergangenen Sonnabend gab es eine erneute - diesmal nichtgenehmigte - Aktion wegen der Nichtzulassung der 13 Kandidaten. Diesmal fand die Aktion unter dem Motto "Für ehrliche Wahlen" nicht weit vom Kreml in der Nähe des Bürgermeisteramtes statt. Danach zogen die Demonstranten noch zum Trubnaja Platz und besetzten für kurze Zeit die zehnspurige Moskauer Stadtautobahn "Gartenring".

An der Aktion "Für ehrliche Wahlen" nahmen nach Angaben der Polizei 3500 Menschen teil. Nach der liberalen Zeitung "Kommersant" waren es 6000 Menschen. Es war den Demonstranten nicht gelungen, wie geplant, in die Nähe des Bürgermeisteramtes zu kommen. Rosgwardia- und OMON-Polizisten hatten diese mit einem massiven Aufgebot verhindert. Bereits eine Stunde vor Aktion begann die Polizei Aktivisten festzunehmen.

Während am 20. Juli nur sieben Demonstranten festgenommen wurden, waren es am vergangenen Sonnabend nach Angaben eines Oppositions-Portals 1373 Menschen. Nach Polizeiangaben wurden 1074 Personen festgenommen. Diese große Zahl von Festnahmen ist einmalig im nachsowjetischen Russland.

Das oppositionelle Internet-Portal Meduza nennt die Namen von zehn Verletzten. Als Verletzungen wurden angegeben "Knüppelschläge auf den Kopf", ein gebrochenes Bein, mehrere zerschlagene Nasen, Schürfwunden und Verrenkungen.

Die nichtgenehmigte Aktion am Sonnabend hatten die Organisatoren als "Treffen von Wählern mit Kandidaten" deklariert. Die Moskauer Innenbehörde hatte dazu aufgerufen, nicht an der Aktion teilzunehmen. Einen Tag vor der Kundgebung hatte die Staatsanwaltschaft wegen der geplanten Aktion eine Untersuchung gegen 15 Kandidaten für das Moskauer Stadtparlament eingeleitet.

Bereits am 24. Juli war der Oppositionspolitiker Aleksej Navalny vor seinem Haus festgenommen und zu 30 Tage Haft verurteilt worden. Das Ermittlungskomitee leitete gegen Navalny ein Verfahren nach Paragraph 141 des Strafrechts - "Behinderung bei der Ausübung des Wahlrechts oder der Arbeit der Wahlkommissionen" - ein. Dieses Verfahren bezog sich auf eine spontane Protestkundgebung vor dem Gebäude der Moskauer Wahlkommission.

Menschenrechtler Schablinski: "Einschüchterung und Bestrafung"

Bei Liberalen, aber auch bei Linken stießen die Massenfestnahmen am Sonnabend auf scharfe Kritik.

Ilja Schablinski, der Leiter des Komitees für Wahlrecht im Rat für Menschenrechte beim russischen Präsidenten, meinte gegenüber der Zeitung Kommersant, nach den Ereignissen am Sonnabend werde die Teilnahme an nichtgenehmigten Kundgebungen für viele Menschen "zur Norm", denn die Macht lasse den Menschen "keine andere Wahl". "Ich habe gesehen, dass sich die Menge während der Aktion friedlich verhielt", erklärte Schablinski. Die Sicherheitskräfte hätten aus der Menge zahlreiche Menschen - "oft auch junge Frauen" - verhaftet, die einfach nur "friedlich dastanden" und sie "in Gefangenentransporter geschleppt".

Das Vorgehen der Sicherheitskräfte sei "eine Demonstration der Härte" gewesen. Man habe versucht, die Menschen "einzuschüchtern und zu bestrafen". Mit der Sorge um die öffentliche Sicherheit habe dieses Vorgehen "nichts zu tun" gehabt. Die Aufstellung von Gittern und gestaffelten Reihen von Polizisten sei "rechtmäßig gewesen". Aber die Menge haben sich "nicht aggressiv verhalten".

Der Leiter des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten, Michail Fedotow, erklärte, das Gesetz zur Anmeldung von Kundgebungen und Demonstrationen müsse überarbeitet werden. Der Kreml-nahe Politologe Dmitri Gusew bezeichnete das Vorgehen der Polizei als "gesetzeskonform". Unter den Demonstranten - so der Politologe gegenüber dem Kommersant - , hätten sich "nicht wenige Provokateure" befunden, welche "den Asphalt aufreißen wollten". Der Politologe behauptete auch, an der Aktion am Sonnabend hätten sich sehr viele Menschen aus dem (russischen) Gebiet "Smolensk und aus den baltischen Staaten beteiligt". Die Macht in Russland gehe im Vergleich zu den Demonstrationen in Europa, "wo Knüppel, Wasserwerfer und Plastik-Geschosse eingesetzt werden, noch weich vor".

Der Hinweis auf angebliche Demonstrationsteilnehmer aus den baltischen Staaten soll die Protestaktion vom Sonnabend offenbar in die Nähe des Kiewer Maidan im Jahre 2013 rücken, wo der Einfluss westlicher Staaten auf das Geschehen tatsächlich groß war.

Die Behauptung, Protestbewegungen in Russland würden vom Ausland initiiert und finanziert, wurde von Wladimir Putin schon während der Protestbewegung für "ehrliche Wahlen" in den Jahren 2011 und 2012 vorgetragen.

Dass es in den Eliten des Westens eine starke Fraktion gibt, die daran interessiert ist, Putin als Präsidenten abzulösen und notfalls auch zu stürzen, hat sich in den letzten Jahren während der Medienkampagne gegen den russischen Präsidenten und den Wirtschaftssanktionen gezeigt. Geldzahlung an die russische Opposition konnten die russischen Sicherheitsorgane bisher jedoch nicht nachweisen.

Wie das Internetportal RBK am Freitag, unter Berufung auf eine anonyme Quelle aus dem Umkreis des russischen Inlandgeheimdienstes FSB berichtete, hat der FSB jetzt Ermittlungen wegen der Proteste zu den Moskauer Wahlen aufgenommen. Die "Abteilung 2" des Geheimdienstes - sie ist "für den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung und zum Kampf gegen den Terrorismus" verantwortlich - suche nach "Verbindungen der Opposition mit ausländischen Strukturen". Es solle bewiesen werden, dass die Proteste "aus dem Ausland finanziert werden".

Einiges Russland stellt keine Kandidaten auf

Am 8. September sind 7,3 Millionen Wähler aufgerufen, bei der Moskauer Stadtparlaments-Wahl 45 Direktkandidaten ihre Stimme zu geben.

Das jetzige Stadtparlament setzt sich wie folgt zusammen: 28 Abgeordnete gehören der Regierungspartei Einiges Russland an und fünf der Kommunistischen Partei. Die Liberaldemokraten und die Partei "Heimat" sind mit jeweils einem Abgeordneten vertreten. Außerdem gibt es noch zehn unabhängige Kandidaten, die faktisch aber zum Regierungslager gehören.

Kandidaten, die zur diesjährigen Wahl zugelassen werden wollten, mussten je nach Größe des Wahlreises 4500 bis 5500 Unterschriften unter den Wahlberechtigten sammeln. Kandidaten, die auf Listen von in der Duma vertretenen Parteien kandidieren, brauchten keine Unterschriften zu sammeln.

Ungewöhnlich war, dass die Regierungspartei Einiges Russland keine Kandidaten aufstellte. Mitglieder dieser Partei treten unabhängig von ihrer Partei zu den Wahlen an. So hofft "Einiges Russland" mehr Stimmen zu erhalten und das Stimmreservoir der Liberalen zu begrenzen. Immerhin gibt es in Moskau ein Wählerpotential von etwa 20 Prozent, welches bereit ist, für liberale Kandidaten außerhalb des Regierungslagers zu stimmen.

Dass es wegen der Nichtzulassung von 13 oppositionellen Kandidaten bei den Moskauer Stadtparlamentswahlen keinen Wettbewerb mehr gibt, kann man nicht sagen. Insgesamt stehen 233 Kandidaten zur Wahl, darunter 44 Kandidaten der KPRF, 45 Kandidaten der Liberaldemokraten von Schirinowski, 41 Kandidaten der Partei Gerechtes Russland, 32 Kandidaten der KPRF-Abspaltung "Kommunisten Russlands", zwei Kandidaten der sozialliberalen Partei Jabloko und 62 unabhängige Kandidaten.

Angeblich gefälschte Unterschriften

Wegen angeblich gefälschter Unterschriften waren zahlreiche bekannte Moskauer Oppositionspolitiker nicht zu den Wahlen zugelassen worden. Einige der nichtzugelassenen Kandidaten behaupten, die Wahlkommission habe in den Unterschriftenlisten, welche die Kandidaten vorlegten, nachträglich Änderungen vorgenommen, welche die Listen ungültig machten.

Nicht zu den Wahlen zugelassen wurden Ljubow Sobol und Iwan Schdanow, die als Juristen bei der von Aleksej Navalny 2011 gegründeten "Stiftung zum Kampf gegen Korruption" arbeiten.

Nicht zugelassen wurden außerdem die beiden ehemaligen Duma-Abgeordneten Dmitri und Gennadi Gudkow, der ehemalige Vorsitzende der Partei Jabloko, Sergej Mitrochin, sowie der Leiter der Organisation "Offenes Russland", Aleksandr Solowjow. "Offenes Russland" wurde 2001 auf Initiative des damaligen Yukos-Eigners und Oligarchen, Michail Chodorkowski, gegründet.

Politologe Kagarlitsky: "Die Macht agiert unklug"

Boris Kagarlitsky, Chefredakteur des linken Internet-Portals Rabkor.ru und unabhängiger Kandidat auf der Liste der Partei "Gerechtes Russland" bei den Stadtparlaments-Wahlen, bezeichnete die Nichtzulassung von Kandidaten im russischsprachigen Dienst des US-Senders "Radio Swoboda" (Radio Liberty) als "undemokratisch und in vielen Fällen ungesetzlich".

Das Verhalten der Macht sei "nicht klug". Wenn eine große Zahl von oppositionellen Kandidaten nicht zugelassen wird, führe das dazu, dass die Wähler erst recht oppositionelle Kandidaten wählten und sich die zersplitterte Opposition konsolidiere. Der Linkspolitiker versprach, im Fall seiner Wahl werde er zusammen mit anderen unabhängigen Kandidaten ein Gesetzprojekt in das Moskauer Stadtparlament einbringen, welches die Regeln für die Anmeldung von Kundgebungen und Demonstrationen und das Wahlrecht vereinfacht.

Kagarlitsky erklärte gegenüber Radio Swoboda, Russland befinde sich seit einigen Jahren in einer ökonomischen und politischen Krise. Die Methoden, mit denen die Macht versuche, diese Krise zu lösen, führten "zu Nichts". Während die Regionen verarmten, würden in Moskau irrationale teure Infrastruktur-Projekte gestartet. Dadurch würden in Moskau zwar Arbeitsplätze geschaffen, doch der Graben zwischen Arm und Reich werde auch in Moskau immer größer.

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