Der Darien Gap zwischen Panama und Kolumbien

Kuna-Indianer vor den den steilen Händen des Darien. Bild: M. Schostak

Auf der Flüchtlingsroute in die USA in umgekehrter Richtung durch das Dschungelgebiet, in dem Drogenbanden, Reste der Farc und Paramilitärs herrschen - Teil 1

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Malte Schostak ist Politikwissenschaftler und hat die Reise in den Darien Gap von Mai 2018 bis November 2018. Er hat die letzten Jahre vor der Reise als Sozialpädagoge in Berlin in verschiedenen sozialen Projekten parallel gearbeitet. Eines war ein Jugendclub für junge Erwachsene mit einer Drogenproblematik. Ein anderes war eine Unterbringung für junge unbegleitete Geflüchtete. Insofern waren die beiden Themen Migration und Drogenschmuggel für ihn naheliegend.

Dem Thema Migration war er schon einmal in den Jahren 2015 und 2016 nachgegangen, als er jesidische Flüchtlinge aus Syrien über den Irak, die Türkei, Griechenland, Bulgarien und Albanien bis nach Europa hinein begleitet hatte. Außerdem hat Schostak 70 Expeditionen in entlegene Gebiete der Welt organisiert, wie z.B. nach Grönland oder Papua Neu Guinea. Ihn hatte eine Solo-Durchquerung des Darien in der Regenzeit, die generell noch nicht oft gemacht wurde, und die schon öfter tödlich oder mit Entführung geendet hat, aber auch aus einem Abenteueraspekt heraus gereizt.

Das Trinkritual der Kuna Urwaldindianer erinnert akustisch ein wenig an einen Geburtsvorbereitungskurs: Wir Männer stellen uns in einer kleinen Gruppe im Kreis auf und gehen mit gebeugtem Rücken in die Knie. Wir hecheln auf den Vokal O: Ohh, Ohh, Ohh, Ohhh, Ohh und stampfen dabei im Kreis.

Die Kuna haben sich gegenseitig Anwesenheitspflicht für diese Party verordnet. Wer nicht anwesend ist, muss 4 Dollar Strafe an den Saila, den Häuptling, bezahlen, was hier viel Geld ist.

Getrunken wird aus halben Kokosnussschalen, die immer wieder herumgereicht werden und zwischendurch in einem kleinen Becken mit Wasser herumtreiben. Es sind vier Tonkrüge nebeneinander in diesem vollkommen dunklen und riesigen Gemeindehaus im Lehmboden vergraben.

Ein Kuna teilt aus diesen Chicha aus. Chicha sieht aus wie Pfützenwasser, schmeckt wie Pflaumenwein und wird in Wirklichkeit aus Zuckerrohr gewonnen. Zum Glück werden die Tonkrüge, aus denen geschöpft wird, den Abend über immer kleiner. Allerdings wird auch die Chicha darin immer hochprozentiger. Am Ende trinken wir eher Rum als Wein.

Das bleibt nicht ohne Wirkung. Am Anfang des Abends waren Männer und Frauen noch durch Tücher, die über ein durch die Mitte der riesigen Holzhütte gespanntes Seil gehängt waren, züchtig voneinander getrennt. Von unserer Seite konnten wir nur immer wieder oberhalb des Vorhangs im Flammenschein die beiden über dem Kopf herumgeschwenkten kleinen Mädchen sehen, deren Überleben bis zum 6. Lebensmonat hier gefeiert wurde.

Bild: M. Schostak

Dann aber fallen alle Schranken. Auf ein Zeichen hin rennt der ganze Stamm aus dem dunklen Binsenhaus johlend in die noch schwärzere Nacht und Richtung Meer. Die wenigen Kleider fliegen in alle Richtungen. Dann springen wir nackt über die herumliegenden Einbäume ins hochspritzende warme Wasser. Die Kuna haben nur noch wenige traditionelle Tätowierungen am Körper, das fällt selbst im Dunkeln auf. Die historischen Muster wurden im Laufe der Zeit einfach auf die Kleidung übertragen und zieren nun die neongrünen Röcke und als pinke Bestickung die schwarzen Oberteile der Frauen.

Als wir nach willkommener Abkühlung tropfend auf den Strand treten, fehlt meine gesamte und einzige Kleidung. Einfach nicht zu finden. Hier hätten sie liegen müssen. ... Langsam verschwinden die anderen Badenden. Nackt vor den eigenen Schulkameraden zu stehen, ist schlimm genug, aber nackt vor einem fremden Stamm? Was für ein Albtraum.

Zum Glück erkenne ich dann aber doch noch, dass einer der besoffenen Hutzelgreise gerade versucht mit meiner Unterhose über dem Hintern im Tanzhaus zu verschwinden.

Lücke in der Panamericana, die eigentlich Südamerika mit Nordamerika verbindet

Es sollen fast zwei Monate vergehen und ich werde drei Versuche brauchen, bis ich wieder hier in Armila in Panama stehen werde. Ich bin gerade dabei, von Norden nach Süden reisend, die Ostküste von Panama und dann später von Kolumbien zu erkunden. Der Plan: Ich möchte später den Darien Gap im Inland in umgekehrte Richtung durchqueren, um dann hier in Armila erneut Zwischenstation zu machen.

Der Darien Gap ist eines der letzten großen Urwaldgebiete der Welt. Und das Wort "Gap" (Lücke) meint nichts anderes, als dass hier eine Lücke in der Panamericana klafft, der Straße, die eigentlich Südamerika mit Nordamerika verbindet. Aller Verkehr von der Straße muss hier entweder auf Flugzeuge oder Schiffe ausweichen. Durch den Wald geht es eigentlich nicht. Genau das möchte ich aber versuchen.

Darien Gap. Bild: Milenioscuro/CC BY-SA-4.0

Hindernisse gibt es, neben der Natur, dabei viele: Zum einen verläuft quer durch den Dschungel die Grenze zwischen Kolumbien im Süden und Panama im Norden. Und ohne Straße gibt es logischerweise auch keinen Grenzübergang im Inland. Das ganze Unternehmen ist also illegal.

Auf der nördlichen Seite der Grenze gilt es deshalb, der Senafront, der Grenztruppe Panamas, auszuweichen. Hier operieren auch verschiedene kleinere Gangstergruppen, die sich auf das Ausrauben von Flüchtlingen spezialisiert haben und angeblich die Leichen ihrer Opfer einfach im Wald verschwinden lassen. Im Inneren des Waldes soll es auch noch Kräfte der Farc geben, die sich nicht an den Friedensvertrag mit der Regierung halten möchten und ihre Waffen nicht niedergelegt haben. In ihrem jahrzehntelangen Kampf gegen die Regierungstruppen haben sie zudem großflächige Gebiete vermint. Viel präsenter sind aber heute ihre alten Feinde, die Paramilitares.

Die Farc hat sich früher hauptsächlich durch Entführungen von Kindern reicher Kolumbianer finanziert. Reich waren aber damals nur die Drogenbosse. Und die hatten genügend Geld, um sich zu wehren: aus der Portokasse wurden gemeinsam mit den Großgrundbesitzern, denen die linksgerichteten Guerilleros der FARC eh ein Dorn im Auge waren, rechtsgerichtete Todesschwadronen finanziert, um die Farc zu zerschlagen.

Die Farc hat im Jahr 2017 zu großen Teilen ihre Waffen abgegeben und damit meine beabsichtigte Durchquerung überhaupt erst denkbar gemacht: Einer der letzten Europäer, ein rucksackreisender Schwede, der die Durchquerung vor dem Friedensschluss versucht hat, wurde von der Farc als Spion erschossen.

Seit dem Frieden fehlt aber den Paramilitares sowohl die Aufgabe und damit auch die Einnahmequelle. Sie finanzieren sich jetzt über Kokain und Menschenschmuggel und arbeiten dabei mit ihren alten Partnern, den anderen Drogenkartellen und ihren früheren Feinden, den Teilen der Farc, die sich nicht haben demilitarisieren lassen, zusammen. Entstanden ist eine der mächtigsten Gangsterorganisationen der Welt: der 3000 Mitglieder starke Clan del Golfo. Benannt nach dem Golf, der Bucht von Uriba.

Eines Tages richtet diese Gruppe in Capurgana, dem abgelegenen kolumbianischen Grenzort, in dem ich mich zu der Zeit gerade aufhalte, einen Schmuggler hin. Er wird nach Einbruch der Dämmerung mitten im Ort im Haus seiner Familie mit Kopfschuss liquidiert. Warum, das bleibt auch dem ortsansässigen Franzosen, von dem ich mehr zu erfahren versuche, unklar: Hat der Tote auf eigene Faust Menschen geschmuggelt? Und damit unerwünschte Aufmerksamkeit der Regierung auf das Kokaingeschäft des Clans gezogen? Oder ist es nicht wahrscheinlicher, dass er in die eigene Tasche gearbeitet hat und dass der Clan mittlerweile selbst in den Menschenschmuggel verwickelt ist und zudem die Regierung überhaupt nicht mehr fürchten muss?

Letzteres erscheint wahrscheinlicher, denn als ich am nächsten Tag von meinem im Dschungel gelegenen Zeltplatz zum Einkaufen in den Ort bummele, trifft die Vergeltungsexpedition der Regierung ein. Von der anderen Seite der Bucht kommen Militärhubschrauber im Tiefflug herüber gedonnert. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Während die Helikopter niedrig über dem Dorf kreisen, ragen die Maschinenkanonen der Doorgunner drohend aus den Seitentüren. Einer der Hubschrauber landet auf dem Dorfplatz. Der Kommandant in seiner Uniform steigt aus und bleibt mit verschränkten Armen ein paar Sekunden auf dem Dorfplatz stehen.

Dann steigt er wieder ein und fliegt zurück auf die andere Seite des Golfs. Was eigentlich eine Show of force, eine Demonstration der Stärke, sein soll, ähnelt eher einer bewiesenen Ohnmacht. Obwohl auf keiner Karte verzeichnet, ist dies ein riesiges exterritoriales Gebiet, das nicht mehr wirklich zu Kolumbien gehört. Hier herrscht der Clan und die Regierung hat nichts zu melden.

Pfad durch den Regenwald. Bild: M. Schostak

Ich bin bei ähnlichen Expeditionen in abgelegenen Winkeln der Welt früher von meinen Führern überfallen worden. Deshalb will ich es diesmal alleine versuchen. Ein echtes Visum für Panama habe ich mir zuvor bereits auf nicht ganz legalem Weg beschafft. Da die Bevölkerung eingeschüchtert und der Wald deshalb vermutlich leer ist, nutze ich die günstige Gelegenheit und mache mich am nächsten Tag heimlich und hoffentlich unbemerkt auf den Weg.

Es geht immer Treppen steil um 500 Höhenmeter hinauf und dann direkt wieder hinunter durch den Wald. Ganz ohne Pfad ist hier kein Durchkommen. Und genau den verliere ich irgendwo unterwegs. Ich breche also ab, kehre ins Dorf zurück und versuche es später erneut.

Wenigstens habe ich aber Glück gehabt und treffe tatsächlich niemanden im Wald. An derselben Stelle stehe ich aber ein paar Tage beim zweiten Versuch wieder vor dem gleichen Problem: Ich erreiche im rechten Winkel ein Flussbett und stehe bis zur Hüfte in dem schnellfließenden Fluss zwischen zwei steilen Höhenrücken. Und der Pfad, der bisher nicht deutlicher hätte sein können, ist einfach weg. Er führt ins Wasser, aber nicht wieder hinaus.

Hier geht es nur noch im Flussbett weiter. Bild: M. Schostek

Auf der anderen Seite lassen sich nach mehrstündigem Suchen ein paar kaum erkennbare Spuren finden. Sollte dies die Fortsetzung des bisherigen Weges sein? Wo sind dann aber die vielen Menschen lang gelaufen, die den bisherigen Trampelpfad geformt haben? Beunruhigender Weise finde ich auch große Mengen Kleidungsstücke, die an verschiedenen Ästen im Fluss hängen geblieben sind. Es sind Hosen, Jacken und Schuhe von Flüchtlingen, die hier auf ihrem langen Weg in die USA durchgekommen sind. Haben sie hier ihre Kleidung weggeworfen, weil ihnen bei den Strapazen das Gepäck zu schwer wurde oder haben hier tatsächlich Banden Flüchtlinge ausgeraubt, ihre Kleidung nach eingenähtem Geld durchsucht und dann anschließend entsorgt?

Ich will mir einen Überblick verschaffen und ziehe mich auf der anderen Seite an der Vegetation auf einen kleinen Höhenrücken hoch. Aber der Boden besteht jetzt in der Regenzeit aus glitschigem Lehm und so dicht am Fluss aus algenüberwachsenen Felsen, über die der seifige Regen abläuft. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag stürze ich. Diesmal bleibt aber mein Fuß in einer Baumwurzel hängen und während mein Körper mit dem schweren Rucksack den Hang hinunter fällt, bleibt mein Bein bis zum Knie oben. Ich spüre nicht so sehr den Schmerz, als vielmehr im ganzen Körper den Ruck, mit dem das Gewebe im Knie auseinanderreißt.

Ich muss gar nicht auf das unnatürlich verdrehte Bein gucken, um zu wissen: Ich bin alleine im Wald, kein Mensch wird mich vermissen, und ich kann nicht mehr laufen. Ist das das Ende?

Ich bin jedenfalls nicht vollkommen unvorsichtig gewesen und habe einen Notfunksender im Rucksack. Auf einen Knopfdruck würde bei einer Firma in den USA ein Notsignal mit meiner Position eingehen. Und ich habe zusätzlich eine Search und Rescue-Versicherung abgeschlossen, die mir die ersten 50.000 Dollar der Bergungskosten erstatten würde.

Vielleicht sollte ich aber erst einmal versuchen, mir selbst zu helfen: Ich krame im Gepäck nach meinen Schmerzmitteln: Malariastandby, Durchfallmittel, alles da, nur die Schmerzmittel bleiben verschwunden. Jemand in der letzten Herberge muss das Ibuprofen und die Paracetamol geklaut haben, da man sie gut mit Alkohol kombinieren kann. Verdammt!

Das notdürftig geschiente Bein nach dem Miniskusabriss. Bild: M. Schostak

Ich nutze meine Machete um mir genau fast genau am Ort, an dem ich gestürzt bin, zwei Quadratmeter Liegefläche zu roden und die dann übrig bleibenden kleinen Baumstümpfe auszugraben, um mein Zelt gegen die Insekten aufzustellen. Zwei kleine Bäumchen behalte ich als Krücken. Dann lege ich mir einen Verband an und schiene ich mir mit der Machete in der Lederscheide und ein paar Packriemen das Bein. Dann versuche ich probeweise aufzustehen und zum Pinkeln zu humpeln. Aber das Aufrichten ist zu schmerzhaft und dauert zu lange. Ich pinkele der Einfachheit wegen im Liegen, rolle mich dann über die andere Seite ins Zelt hinein und beschließe, erst einmal darüber zu schlafen.

Am nächsten Morgen muss ich mich, Schmerz hin oder her, irgendwie auf den Weg machen, um mich hier rauszubringen. Und das Stehen und Humpeln funktioniert! Ich schaffe es auf dem Rückweg noch, den Fluss auf einem langgezogenen Bergrücken zu verlieren und im Busch fast zu verdursten, stürze auf der Suche nach Wasser in eine 200 Meter tiefe fast senkrechte Schlucht und werde knapp vor dem Grund überkopfhängend dadurch aufgefangen, dass sich mein Rucksack im Geäst verfängt. Fair genug, denke ich noch, einmal reißt mich der Rucksack rein, einmal fängt er mich auf.

Darien Gap (6 Bilder)

Malte Schostak

Ich werde in der Schlucht von Regen und steigendem Wasserstand überrascht, übersehe einen Skorpion im Zelt und eine Lanzenotter auf dem Pfad, die sich aber zum Glück als falsche Lanzenotter erweist, lege mich mit einer meterlangen wütenden Würgeschlange an und brauche schließlich mit kleinen Booten und einem Charterflugzeug insgesamt 5 Tage bis ins Krankenhaus. Dort entzünden sich die vom Kriechen strapazierten Hände und eitern an vielen Stellen über einen Monat lang. Am Ende sprechen die Ärzte schon davon, dass der Daumen möglicherweise amputiert werden müsse.

Aber nach sechs Wochen bin ich, geheilt und an Stöcken gehend, wieder im Ausgangsort und für den nächsten Durchquerungsversuch bereit. Man lernt ja nie aus. Oder muss es heißen: nie dazu?