Bayern: Schuldenland bis in die 1980er

Alfons Goppel beim CSU-Parteitag 1975. Bild: Storz / Bundesarchiv, B 145 Bild-F046472-0004 / CC-BY-SA-3.0

Von Alfons Goppel und den Allgemeinen Ortskrankenkassen gerettet? Bayern-Saga: Wie man am eigenen Erfolg scheitert - Teil 7

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Teil 6: Bayern: Nürnberg als Produktions-Virtuose, aber Image-Quasimodo

Zum Gesinnungsgepäck von "Grün" und (Rest-)"Rot" in Bayern gehört, dass diese beiden Parteien es verdrängen oder gar leugnen, dass Bayern in den Nachkriegsjahrzehnten tatsächlich ein politisch-ökonomisches und sozio-demographisches Erfolgsmodell war.

Weil man bei solchen Überzeugungen nicht analysieren kann und muss, worin das Rezept dieses Erfolges bestanden hat, weiß man dann aber auch nicht, ob und wie man dieses Erfolgsmodell fortsetzen könnte oder abändern sollte.

Exzellent ignorant hat das die Fraktion der Partei "Die Grünen im bayerischen Landtag" bereits vor einem Jahrzehnt, zum Beginn der Finanzkrise, vorgemacht. Im Jahr 2008 haben die Bayern-Grünen einen "Strukturatlas Bayern" in die Öffentlichkeit gebracht, dessen Kartenthemen meilenweit an den entscheidenden Bereichen der Entwicklung Bayerns vorbeigegangen sind. Für das Vorreiterland des bundesdeutschen Exportismus hätte man zumindest eine Kartographie der exportabhängigen Regionen in Bayern erwarten dürfen. Die amtliche Statistik enthielt auch damals schon diese Daten und die in dieser Serie wiederholt zitierte Studiengruppe für Sozialforschung e.V. hatte für das Diakonische Werk Bayern u. a. eine derartige Exportregionenkarte für 2006 erstellt.1

Nicht nur die bayerischen Wohlfahrtsverbände, sondern auch die Münchner Boulevardpresse hatten zum damaligen Zeitpunkt sehr viel gültigere Analysen und Kartographien zur Lage in Bayern vorgestellt als "Grün". Themen waren die zunehmenden Negativfolgen der Exyportorientierung, die Zunahme psychischer Erkrankungen in den Wohlstandsgürteln um die bayerischen Großstädte, die Unterversorgung der bayerischen Kinder mit Krankenhausbetten etc.2

Als besonderes Versagen galt und gilt für die "Grünen", schon vor einem Jahrzehnt wie auch immer noch, ihre Unfähigkeit, die überragende Bedeutung der Sozialfinanzströme vor allem der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung für die Finanzausstattung der Regionen und insbesondere für die Kaufkraft in den Regionen zu erkennen und zu bewerten. Die bayerischen "Grünen" hätten dieses Thema beim in Bayern einst tonangebenden Sozialverband VdK nur abschreiben brauchen. Dieser Verband hat hierzu Texte und Kartographien bereits 2003 veröffentlicht.3

Bayerischer Keynesianismus: Aus den Schulden herauswachsen

Angesehene Ökonomen wie das langjährige Mitglied des Sachverständigenrates Peter Bofinger haben schon in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende über die von Rot/Grün und später von Merkel/Schäuble zum Dogma erhobene Sparpolitik als Weg aus den Staatsschulden gespottet. Den Finanzminister von Rot/Grün hat Bofinger als "König der Sparschweine"4 verhöhnt und die Bundeskanzlerin Merkel hat sich selbst als "Schwäbische Hausfrau" abgestempelt. Dabei ist in der seriösen, nicht: neoliberal-ideologischen Wirtschaftswissenschaft unumstritten, dass ein Königsweg aus den Zinsbelastungen hoher Staatsschulden in wachstumssteigernd-investiver Neuverschuldung besteht. Bayern ist hierfür ein Parade-Beispiel.

Nach der Währungsreform 1948 zeigte sich eine besonders niedrige Steuerkraft Bayerns. Gleichzeitig war das Land durch die hohen Sozialausgaben für die dorthin gelangten Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen und die hohen Abführungen an den Bundeshaushalt deutlich überfordert. Im Vergleichsjahr 1959 hatte Bayern daher die höchste absolute und einwohnerbezogene Kreditmarktneuverschuldung unter den westdeutschen Flächenstaaten. In den vier Regierungsperioden des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel während der Jahre 1962 bis 1978 wurde allerdings das Richtige getan: Durch eine weitere Kreditmarktneuverschuldung zugunsten eines Ausbaues der Infrastruktur wurde das Wirtschaftswachstum gefördert und wurden die Steuereinnahmen erhöht.

Zwar stieg die Staatsverschuldung Bayerns zwischen den Krisenphasen 1966/67 und 1973/74/75 weiter an, aber es gelang Bayern im Unterschied zu den anderen Bundesländern auch zwischen diesen Krisen weiteres Wirtschaftswachstum zu generieren. 1973/74 lag der Freistaat Bayern dann zusammen mit Nordrhein-Westfalen am untersten Ende der Skala der Zinsbelastungen der westdeutschen Länderhaushalte.5

Alfons Goppel: "Vater aller Reformen"

Zum eigenartigen Gesinnungsgepäck von "Grün" und (Rest-)"Rot" in Bayern gehört auch die Fiktion, "Strauß", gemeint ist der auch Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß während der Jahre 1978 bis 1988, habe Bayern "gemacht". Mit der Negativperson des Dr. Franz Josef Strauß können sich die Wenigleser aus dem grünroten Milieu daher noch viel entschiedener eine fundamentale Analyse des Erfolgsmodells Bayern und eventuelle Selbstkritik ersparen.

In Wahrheit waren es die vier Kabinette des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel, die in den reichlich eineinhalb Jahrzehnten ihrer Amtszeit eine lange Reihe von Reformen umsetzten, mit denen Bayerns Wirtschaft und Gesellschaft an die Spitze der Bundesländer gelangten. Nicht bewältigt, sondern eher verstärkt wurde allerdings das Auseinanderdriften von München-Oberbayern einerseits und vor allem Nord-Ostbayern andererseits.

Unbestritten bleibt, dass der Industrieumsatz Bayern zwischen 1960-1975 um 240 Prozent anstieg, während der Bundesdurchschnitt nur noch bei 180 Prozent gelegen hat.6 Bei aller üblichen Liebedienerei der "Süddeutschen Zeitung" gegenüber den im Freistaat Bayern und der Landeshauptstadt München jeweils Regierenden: Die posthume Ehrung Goppels als "Vater aller Reformen" durch dieses Medium trifft den Sachverhalt.

"Mittlerer Weg": Arbeitsmobilisierung durch Landesplanung und nicht durch Entrechtung a la Hartz IV

Ohne Zweifel war das im Jahr 1976 erstmals aufgestellte "Landesentwicklungsprogramm Bayern" sozusagen die "Krönung" der bayerischen Reformära. Mit diesem Landesentwicklungsprogramm war die vorherige Praxis einer eher nachsorgenden Ausgleichs- und Förderpolitik für Problemregionen durch eine vorausschauende Entwicklungsplanung für das gesamte Staatsgebiet und seine Regionen abgelöst worden.7

Eine entschieden kritische Analyse dieses Landesentwicklungsprogrammes machte deutlich, dass dieses Reform- und Planungskonzept zwar durchaus die Funktion hatte, Lohnzurückhaltung und Leistungssteigerung einerseits, Einkommens- und Nachfrageersatz durch Daseinsvorsorge andererseits, zusammen also massive Exportkraftförderung, zu betreiben. Zugleich attestiert aber die Neuveröffentlichung dieser Analyse, dass das bayerische Entwicklungskonzept "deutlich mildere Züge" der Mobilisierung des Arbeitspotentials gehabt habe, als das brutale Antreibersystem "Hartz IV" der rot/grünen "Gutmenschen".8

Eine weitere Großreform der Ära Goppel war die "Gebietsreform Bayern". Deren Aufgabe war es, die aus der agrarwirtschaftlichen Vergangenheit Bayerns stammenden ca. 7000 bayerischen Gemeinden auf ca. 2000 Gemeinden zu reduzieren und auch die Zahl der Kreisfreien Städte und der Landkreise zu verringern. Ihre Administrations- und Finanzkraft sollte auf diesem Wege gestärkt werden. Riesenlandkreise wie z.B. in Nordrhein-Westfalen entstanden dabei jedoch nicht.

Markierungspfahl der Transalpinen Pipeline TAL in der Nähe von Burgrain, Oberbayern. Bild: Lucorient / CC-BY-SA-3.0

In den Kranz der bayerischen Goppel-Reformen gehört ohne Zweifel auch die 1967 in Betrieb genommene "Transalpine Ölleitung" (TAL) von Trient nach Ingolstadt und weiter nach Karlsruhe. Ingolstadt wurde durch die Errichtung mehrerer Raffinerien zu einem zusätzlichen Wirtschafts- und Wachstumszentrum in Bayern. Die revierferne bayerische Wirtschaft wurde dadurch von der Energie-, d.h. Kohleversorgung aus dem Ruhrgebiet unabhängig.9

Esso-Raffinerie in Ingolstadt (2003). Bild: User:Frankie80337 / CC-BY-2.5

Nur gegen den heftigen Widerstand vor allem der Münchner Studierenden wurde 1974 ein Bayerisches Hochschulgesetz beschlossen.10 Aus heutiger Sicht wurden damit die Hochschulen zunächst recht autoritär auf das vorbereitet, was sie jetzt neoliberalisiert sind: Bachelor-Klippschulen nach EU-Lissabon-Norm mit unterbezahlten Nebenjob-Dozenten und -Dozentinnen.

Unbestreitbar brachte immerhin die Neugründung der vier Universitäten Bamberg, Bayreuth, Passau und Regensburg eine deutliche Verbesserung der Bildungslage in Bayern.

Noch in den 1960er Jahren konnte nur per Volksentscheid das durch den Vatikanvertrag von 1924 etablierte System tausender winziger katholischer und/oder protestantischer Dorf-Bekenntnisschulen 1968 endlich auf die Deponie der Geschichte entsorgt werden.11

Auch eine Reform der Polizeiorganisation fiel in diese Ära der bayerischen Reformen. Es ist sicherlich nicht unzutreffend, die Zentralisierung der bayerischen Polizei im Zusammenhang der Notstandsgesetzgebung einerseits und der "Außerparlamentarischen Opposition" von 1967/1968 sowie der "Roten-Armee-Fraktion" der 1970er Jahre zu sehen. Jedenfalls wurde die Polizeiorganisation in Bayern damals grundlegend geändert. Bis zu dieser Reform hatten Kommunen mit über 5000 Einwohnern das Recht, ihre eigene Polizei aufzustellen. 1975 wurde die Polizei der Landeshauptstadt München als letzte kommunale Polizei in Bayern verstaatlicht.12

Der Wirtschaftshistoriker Stefan Grüner beschreibt in seinem kenntnisreichen Werk "Geplantes Wirtschaftswunder" die bayerische Industrie- und Strukturpolitik hauptsächlich der Ära Goppel als pragmatische und effiziente Strategie.

Einerseits ging es um eine Abmilderung der Folgen der Randlage, in die Bayern gegenüber dem Welthandel, gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, gegenüber der Bundesregierung in Bonn und gegenüber den nordwestdeutschen Wirtschaftszentren durch die Teilung Europas geraten war. Hier wurden alle nur erreichbaren Hilfen und Vorteile beansprucht und genutzt.

Gleichzeitig war die Politik der Staatsregierung darauf bedacht, sich dem Sog der zunehmenden Machtverlagerung von den Ländern zum Bund zu widersetzen - etwa im Bereich der Anwendung des "Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" von 1967. Bayern beharrte entgegen den Intentionen dieses Gesetzes auf einer prozyklischen Fortsetzung seiner Regionalförderung.

Eine wesentliche Aufgabe der dezentralen Industrialisierung Bayern mit Hilfe von Regionalförderung und Landesplanung war es, den weiten ländlichen Raum und die bäuerliche Landwirtschaft vor der auf Großbetriebe ausgerichteten Agrarpolitik der EWG abzuschirmen, eine "soziale Erosion" des ländlichen Raumes zu verhindern und vor allem das Arbeitskräftepotential des Ländlichen Raumes für Industrie und Dienstleistungswirtschaft zu mobilisieren.

Insgesamt ging es also darum, aus der seit der Krise von 1966/67 und nach dem Beginn der sozialliberalen "Reformen" im Jahr 1969 folgenden Gesetzgebung zum Ausbau der öffentlichen Infrastruktur ein Höchstmaß an Nutzen für Bayern zu ziehen, ohne in zu große Abhängigkeit von der Bonner Bundesregierung zu geraten. Stefan Grüner bezeichnet diese Industrie- und Strukturpolitik als eine des "mittleren Weges".13

Bayern: Empfängerland im Finanzausgleich bis in die 1980er Jahre

Als bayerischer Finanzminister trommelte der jetzige bayerische Ministerpräsident Markus Söder im Jahre 2014 besonders heftig gegen den Länderfinanzausgleich.14 Im Jahr zuvor hatte Bayern zusammen mit Hessen Verfassungsklage gegen diese Ausgleichsregelung zwischen finanzstarken und finanzschwachen Ländern erhoben. Auf diesen Druck hin beschloss der Bundestag 2017 eine Abschaffung der bisherigen Ausgleichsregelung. Ab 2020 wird eine andere Art der Unterstützung für finanzschwache Bundesländer praktiziert werden.

Delikat ist, dass sich Bayern in der verflossenen Debatte als das gepeinigte Opfer der fehlenden Haushaltsdisziplin der unterstützungsbedürftigen Länder aufgespielt hat, aber selbst bis zur Wiedervereinigung nicht Geber- sondern Empfängerland im Länderfinanzausgleich war. Der schon mehrfach zitierte Wirtschaftshistoriker Stefan Grüner zeichnet präzise nach, dass der wirtschaftliche Erfolg Bayerns ohne die stetig steigenden Finanzzuflüsse aus anderen, damals finanzstärkeren Bundesländern nicht möglich gewesen wäre. Die bayerische Politik einer Wachstumsförderung durch Neuverschuldung verzögerte ohne Zweifel den Staatsschuldenabbau Bayerns und "erpresste" quasi über den in der Verfassung verankerten Finanzausgleich eine Mitfinanzierung seiner zunehmenden Überlegenheit durch andere Bundesländer.15

Der jetzige Ministerpräsident und damalige Finanzminister Söder hat aber 2014 mit seinem Lärm in Sachen Länderfinanzausgleich den Blick der Medien auf andere finanzielle Ausgleichsbereiche gelenkt. Dabei wurde die interessante Tatsache bekannt, dass Bayern aus der Umlage des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG-Umlage) allein im Jahre 2013 770 Millionen Euro mehr empfangen hat, als seine Bürger und Firmen selbst in das Umlagesystem einzahlt hatten. Grund hierfür ist der in Bayern besonders hohe Anteil der besonders hoch EEG-geförderten Solarstromerzeugung. Nach Medienberichten liegt das Volumen der EEG-Förderung und -umverteilung zwischen den Ländern insgesamt über dem Volumen des Länderfinanzausgleiches.16

Sozialversicherungen: Enorme Finanzeffekte für die Länder

In der Fachdiskussion hat es lange Jahre gedauert, bis erkannt wurde, dass die Sozialversicherungen in Deutschland neben ihren gesetzlichen Aufgaben der sozialen Sicherung ihrer Versicherten auch noch tatsächliche Wirkungen bezogen auf die finanzielle Stellung der Bundesländer haben.

Als erstes Forschungs- und Beratungsinstitut in West-Deutschland hatte 1982 und 1986 die Studiengruppe für Sozialforschung e.V. die Bedeutung der Gesetzlichen Krankenversicherung für die räumliche Finanzordnung thematisiert17 und im Jahr 1988 im Auftrag der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung ein erstes Gutachten zu diesem Thema erstellt.18 In den Folgejahren beteiligten sich die Bundesanstalt für Arbeit, der Bundesverband der Ortskrankenkassen und der Verband der Rentenversicherungsträger sowie die kommunalpolitische und sozialpolitische Fachpresse an dieser Diskussion.19

Im Jahre 2007 erteilte dann das damalige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung den Auftrag, die finanziellen Zu- und Abflüsse der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung auf regionaler Ebene darzustellen.20

Das erwähnte Gutachten der Studiengruppe konzentrierte sich auf die so genannte Rentner-Krankenversicherung der Gesetzlichen Krankenversicherung. In dieser wurden die bei den einzelnen Krankenkassen durch die Beitragszahlungen der Rentner nicht gedeckten Leistungsausgaben für die Rentner durch einen Finanzausgleich übernommen. Allein dieser Finanzausgleich in der Rentner-Krankenversicherung erreichte bspw. im Jahre 1983 mit ca. 130,- Euro pro Einwohner beinahe den Wert des gesamten Bund/Länder-Finanzausgleiches dieses Jahres mit seinen ca. 150,- Euro pro Einwohner. Das zitierte Gutachten zeigt dabei, dass die süddeutschen Bundesländer über das Finanzausgleichsaufkommen ihrer regionalen Krankenkassen den Finanzausgleichsverbrauch der in den norddeutschen Bundesländern anteilsstarken zentral-bundesweiten Krankenkassen erheblich mitfinanzierten. Insgesamt flossen im Jahr 1983 im Finanzausgleich der Rentner-Krankenversicherung in die süddeutschen Bundesländer lediglich ca. 120,- Euro pro Einwohner, in die norddeutschen Bundesländer jedoch ca. 140,- Euro je Einwohner.21

Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Untersuchung von Wulf-Dietrich Leber und Jürgen Wasem zu den unterschiedlichen Belastungswirkungen gegenüber den Bundesländern durch die länderübergreifenden Finanzströme in der Rentner-Krankenversicherung und innerhalb der zentral-bundesweiten Krankenkassen für das Jahr 1986. Belastet wurden vor allem Baden-Württemberg und Bayern. Aus diesen Ländern wurden von den zentral-bundesweiten Kassen mehr Beiträge herausgezogen als dort verausgabt. Begünstigt wurden vor allem Berlin, Bremen, Schleswig-Holstein, Hamburg und das Saarland. In diese Länder gaben die zentral-bundesweiten Kassen mehr für Leistungen hinein, als sie an Beiträgen herauszogen.22 Die Gewinner-Länder der länderübergreifenden Finanzströme hatten mit Ausnahme von Berlin die höchsten Anteile zentral-bundesweit Versicherter an ihrer Krankenkassen-Gesamtmitgliederschaft.23

Wasem und Leber fanden die Hauptursache für die hohen Finanzabflüsse aus Bayern in den besonders niedrigen Leistungsausgaben der zentral-bundesweiten Kassen für ihre Mitglieder in Bayern. Der besonders hohe Anteil von Mitgliedern regional-gebietszuständiger Kassen, vor allem der Allgemeinen Ortskrankenkassen, an der Krankenkassen-Gesamtmitgliederschaft hat Bayern damals davor bewahrt, noch höhere Beträge über die zentral-bundesweiten Krankenkassen an andere Länder zu verlieren.

Bayern Land: Stabilisierung durch die Ortskrankenkassen

In Bayern, insbesondere in Oberbayern, Niederbayern, der Oberpfalz und Oberfranken hatten die Ortskrankenkassen lange Jahre besonders hohe Anteile an allen Mitgliedern der Gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Anteile lagen nicht selten bei mehr als 65 Prozent.24

Gleichzeitig lagen die Beitragssätze der Ortskrankenkassen in Bayern deutlich unter den Beitragssätzen der Ortskrankenkassen in den anderen Bundesländern und der zentral-bundesweiten Ersatzkassen.25

Allgemeine Beitragssätze der Ortskrankenkassen 1977. Quelle: Bundesverband der Ortskrankenkassen. Bild: Albrecht Goeschel

Die bayerische Strategie der dezentralen Industrialisierung wurde durch diese günstige Neben-Lohnkostensituation vorherrschender niedriger Ortskrankenkassen-Beitragssätze nachhaltig gefördert.

Ein zusätzlicher Vorteil für die dezentrale Industrialisierung in Bayern waren die relativ großen Bezirke der einzelnen Ortskrankenkassen in Bayern. Diese umfassten mehrheitlich neben einer Kreisfreien Stadt oder Kreisstadt auch deren Umlandkreise. Hierdurch war es diesen Ortskrankenkassen möglich, die in den 1950er bis 1970er Jahren in Bayern ausgeprägte Tendenz zur Betriebsstättenauslagerung aus den größeren Städten in die Umlandgebiete oder zur Zweigwerksansiedlung in den Umlandgebieten ohne Mitgliederverluste, d.h. Beitragszahlerverluste an andere Ortskrankenkassen mit zu vollziehen.

Auch das für die Einbeziehung der Landwirtschaftlichen Bevölkerung in die Industriewirtschaft typische steigende Berufspendleraufkommen wurde durch diese Zuständigkeit einer Allgemeinen Ortskrankenkasse für eine Kreisfreie Stadt oder Kreisstadt mit ihren Umlandkreisen, d.h. für Arbeitsorte und Wohnorte angemessen berücksichtigt. Der Wirtschaftshistoriker Kurt Pritzkoleit hat schon Anfang der 1960er Jahre auf dieses starke Anwachsen des Berufspendelns in Bayern hingewiesen. Damals waren ca. 28 Prozent aller nichtlandwirtschaftlichen Beschäftigten in Bayern Berufspendler.26

AOK Bayern: "Fünfte Kolonne" der Krankenhäuserzerstörung

Die Tatsache, dass die Dominanz der Allgemeinen Ortskrankenkassen in Bayern bspw. gegenüber den zentral-bundesweiten Ersatzkassen die Ausstattung Bayerns mit Sozialfinanzen sicherte und vor allem die dezentrale Industrialisierung des ländlichen Raumes in Bayern begünstigte, wurde von der autoritär-bürokratischen Geschäftsführung des Landesverbandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen in Bayern weder gewusst noch verstanden.

Statt dessen kannte der während der meisten Jahre der Goppel-Reformen tätige Geschäftsführer dieses Landesverbandes, Hans Sitzmann, ein in der AOK-Welt Aufgestiegener, eigentlich nur ein Ziel: Kosten sparen. Damit waren Sitzmann und sein Verbandsapparat das ideale Instrument, um die von Brandt-Nachfolger Schmidt 1977 zum Gesetz gemachte Kostendämpfung in der Krankenversicherung auch in Bayern zu exekutieren.

Hauptanwendungsfeld für die Kostendämpfung in der Krankenversicherung sollte die Krankenhausversorgung sein. Die ursprünglich versorgungsorientierte Krankenhausbedarfsplanung sollte in eine kostenorientierte Krankenhausbedarfsplanung umfunktioniert werden. An erster Stelle stand dabei der Abbau wohnortnaher Krankenhäuser. Allerdings war und ist die Krankenhausbedarfsplanung Sache der Bundesländer. Einige Bundesländer, allen voran Baden-Württemberg, hatten dabei wohnortnahe Krankenhäuser als Voraussetzung dezentraler Industrialisierung zu einem Grundsatz gemacht.

Die Bonner Regierung benutzte daher die Krankenkassenverbände, um die Länderkompetenzen zu unterlaufen. Das so genannte Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz von 1977 enthielt deshalb einen Ermächtigungsabschnitt, in dem die Krankenkassenverbände bevollmächtigt wurden, Krankenhäusern, die nicht in die Bedarfspläne der Länder aufgenommen waren, eine weitere Kostenerstattung zu verweigern.

Der Landesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen Bayern verweigerte auf dieser Grundlage erstmals im Jahre 1978 die weitere Kostenerstattung für wohnortnahe Krankenhäuser im Umfang von 1155 Betten. Dieser von der Regierung Schmidt eingefädelte Putsch gegen die Planungshoheit der Länder rief heftige Proteste in West-Deutschland und gerade auch in Bayern hervor. Die Verbandsmedien der Kreise, Gemeinden, Landwirtschaft etc. nahmen sich des Themas der kleineren wohnortnahen Krankenhäuser an.27

Es war dann wieder die Münchener Studiengruppe für Sozialforschung e.V., die zunächst in Bayern und später bundesweit ein Beratungsprogramm für peripher gelegene, wohnortnahe Krankenhäuser durchführte. Ziele waren der Verbleib oder die Aufnahme dieser Krankenhäuser in die Krankenhausbedarfspläne und damit eine Neutralisierung der AOK-Offensive. In Bayern wurde im Zusammenhang dieser Initiative dann zu den üblichen Krankenhauskategorien der Bedarfsplanung die Kategorie "Ergänzungskrankenhaus" geschaffen, in der eine ganze Reihe ansonsten dem Ortskrankenkassen-Landesverband zum Opfer gefallener Krankenhäuser gesichert wurden.

Gerade auch die Arbeitgeberseite nahm Anstoß an der Ahnungslosigkeit und Bedenkenlosigkeit, mit der die Bonner Kostendämpfungspolitik und deren Umsetzung durch die Landesverbände der Allgemeinen Ortskrankenkassen über die Bedeutung wohnortnaher Krankenhäuser für die Standortqualität von Industriebetrieben im ländlichen Raum hinweg ging. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) beauftragte 1979 den Wissenschaftlichen Direktor der Studiengruppe für Sozialforschung e.V. mit einer Veröffentlichung zum Thema "Krankenhausbedarfsplanung und Regionalpolitik", die heute ein Klassiker ist.28

Durch den damaligen Versuch, und spätere ähnliche Versuche, des bayerischen AOK-Landesverbandes, sich als Büttel der Bonner Kostendämpfungspolitik zu betätigen, haben seine Mitglieder, die regionalen Ortskrankenkassen in Bayern, erheblich an Ansehen verloren und wurden nach der in den 1990er Jahren erfolgten Freigabe der Wahl zwischen unterschiedlichen Gesetzlichen Krankenkassen von den Versicherungspflichtigen auch mit Abwanderung zu den zentral-bundesweiten Krankenkassen abgestraft.

Die seit den späten 1970er Jahren von der AOK Bayern übernommene Rolle als "Fünfte Kolonne" der Zerstörung der Krankenhausversorgung vor allem im ländlichen Raum scheint inzwischen in diesem Kassenkonzern "genetisch" verankert zu sein. So wurde 2017 als neue Vorsitzende des Vorstandes der AOK Bayern eine Dr. Irmgard Stippler gewählt. Sie war Aufsichtsratsmitglied der Rhön-Klinikum AG, einer der größten privaten Klinikkonzerne in Deutschland. Im gleichen Aufsichtsrat sitzt Brigitte Mohn. Brigitte Mohn ist Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung. Diese Stiftung hat im Juli 2019 eine Studie vorgelegt, nach der die Qualität der Krankenhausversorgung in Deutschland nur verbessert werden könne, wenn nur noch 600 Großkliniken statt der jetzt 1400 Plankrankenhäuser die Behandlung der Krankenhausfälle durchführen würden.29

Es verwundert wenig, dass in der Medienlandschaft der Verdacht geäußert wurde, die Aufsichtsratstätigkeit der Bertelsmann-Vorständin für einen der größten privaten Klinikkonzerne könne etwas mit der Forderung der Bertelsmann-Studie zu tun haben, mehr als die Hälfte der mittleren und kleineren, häufig kommunalen Krankenhäuser zu eliminieren.30

Und mitten drin: Frau Dr. Stippler von der AOK Bayern.