Hongkong: Beijings Angst vor einem Gesichtsverlust

Streik in Hongkong, am Montag, den 5. August 2019. Foto: VOA Cantonese, Iris Tong/gemeinfrei

Die Stadt kommt nicht zur Ruhe: Erneute Demonstrationen, Warnungen aus Chinas Zentrale und die Angst der Jugend

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Hongkong kommt nicht zur Ruhe. Seit Wochen wird in der chinesischen Sonderverwaltungszone mit eigener Miniverfassung, Währung und Wirtschaftspolitik gegen einen Gesetzentwurf demonstriert, der die Auslieferung von Menschen erleichtern soll, die im chinesischen Mutterland gesucht werden. Die Stadtregierung hat ihren Entwurf inzwischen zurückgezogen, aber das scheint viele Hongkonger nicht wirklich zu beruhigen.

Am Montag kam es in der 7,4-Millionen-Einwohner-Stadt zu erneuten Demonstrationen und zu einem Streik. Zahlreiche U-Bahnhöfe wurden blockiert und der Flugverkehr war stark eingeschränkt, da sich ein Teil des Personals krankgemeldet oder direkt am Streik beteiligt hatte. Banken schlossen einen Teil ihrer Filialen und vielfach wurden Beschäftigte früher nach Hause geschickt. Die Hong Kong Free Press schreibt über Straßenschlachten in verschiedenen Stadtteilen und den Einsatz von Gummigeschossen seitens der Polizei aus belagerten Polizeiwachen.

Geplant sei gewesen, den Streik mit acht Demonstrationen zu begleiten. Diese seien allerdings schon bald zu Straßenblockaden geworden, woraus sich dann Straßenschlachten mit der Polizei entwickelten. Fotos zeigen Tränengasschwaden durch diverse Straßen ziehend. Demonstranten tragen oft Bauarbeiterhelme und Atemschutz, zum Teil auch Gasmasken.

In den 1970er Jahren war das auch in Europa ein häufiger Anblick auf Demonstrationen, bis diese in Westdeutschland und anderen Ländern als "passive Bewaffnung" kriminalisiert wurden. Heute reicht bei linken Demonstrationen, insbesondere, wenn sie sich gegen Nazimärsche richten, oft schon ein Schal oder Tuch vor dem Gesicht für rabiate Festnahmen und massive Knüppelangriffe auf Umstehende.

Proteste und Zusammenstöße mit der Polizei über die ganze Stadt verteilt

Die in der Stadt erscheinende South China Morning Post berichtet von mindestens neun Polizeiwachen die angegriffen wurden. Fotos zeigen eine brennende Barrikade vor dem Eingang einer Wache im Stadtteil Sha Tin. Mehr als ein Dutzend der wichtigsten Straßen und drei Tunnel seien blockiert worden. Demnach waren die Proteste und Zusammenstöße mit der Polizei über die ganze Stadt verteilt.

Betroffen waren unter anderem auch Admirality, das Geschäfts- und Börsenzentrum der Metropole auf Hong Kong Island, sowie das bei Touristen beliebte Tsim Sha Tsui an der Südspitze des Festlandes, wo sich unter anderem der Walk of Fame der traditionsreichen Hongkonger Filmindustrie befindet.

Insgesamt seien 80 Personen festgenommen worden. Ein Foto zeigt eine Gruppe in Zivil gekleideter Männer, die in North Point auf Hong Kong Island die mit Bauarbeiterhelmen ausgerüsteten Protestierenden mit langen, dicken Bambusknüppeln angreifen. Die Demonstranten hätten mit Steinen und Stahlruten geantwortet und die Angreifer schließlich vertrieben.

Die Hong Kong Free Press schreibt in ihrem oben verlinkten Beitrag ebenfalls über diesen Vorfall und meint, dass er an einen ähnlichen bei einer anderen Demonstration im Juli erinnere. 45 Personen seien seinerzeit verletzt worden. Von den 23 in diesem Zusammenhang festgenommenen mutmaßlichen Tätern hätten nach Polizeiangaben einige nachweislich Verbindung zu den Triaden, das heißt, der örtlichen Mafia, gehabt.

Diesen wie auch der übrigen Geschäftswelt sind die Proteste keineswegs recht. Die enge Verbindung zu China ist seit langem sehr einträglich für die Unternehmen des autonomen Stadtstaats, der unmittelbar an eine der seit langem am stärksten prosperierenden Provinzen der Volksrepublik, an Guangdon, grenzt.

Unter anderem ist der Hongkonger Hafen der wichtigste Umschlagplatz der Region. 2017 betrug das Bruttosozialprodukt der Stadt 320 Milliarden US-Dollar oder gut 46.000 US-Dollar pro Einwohner. Damit war sie etwas wohlhabender als Deutschland, wo das Pro-Kopf-BSP 2017 knapp 44.000 US-Dollar betrug.

Die Interessen der Wirtschaft

Im Juni hat Hongkongs Wirtschaft bereits zu schrumpfen begonnen, woran aber nicht nur die Proteste Schuld haben dürften. Die örtliche Wirtschaft und die Börse - einer der wichtigsten Umschlagplätze des globalen Finanzkapitals - sind wegen des eskalierenden Handelsstreits zwischen den USA und China besorgt.

Der örtliche Aktienindex Hang Seng hatte von Anfang 2016 eine zwei Jahre währende Ralley hingelegt, über 60 Prozent zugenommen und schließlich Anfang 2018 seinen bisherigen Höchststand von über 32500 Zählern erreicht. Seitdem ist er jedoch - mit erheblichen Schwankungen - wieder um ein Sechstel abgesackt. Insbesondere in den letzten zwei Wochen ging es im raschen Tempo nach unten.

Entsprechend um die Wirtschaft besorgt zeigt sich die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam, die auf eine lange Karriere in der erst britischen und dann von Beijing kontrollierten Verwaltung der Stadt zurück schauen kann. In dieser Zeit hat sie sich als Hardlinerin für die Interessen der Wirtschaft und der Immobilienunternehmen einen Namen gemacht und war bei der Wahl 2017 die Wunschkandidatin der chinesischen Führung gewesen.

Lam zeigte sich laut South China Morning Post und Hong Kong Free Press unnachgiebig und sprach von einem Angriff auf die Souveränität Chinas über die Stadt. Sie bezog sich dabei auf den bei den Protestierenden beliebten Slogan, den die Zeitungen mit "Liberate Hong Kong: Revolution of our times" ("Befreit Hongkong, die Revolution unserer Zeit") übersetzen.

Lam weist unter anderem darauf hin, dass während der Proteste eine Fahne der Volksrepublik, deren autonomer Bestandteil Hongkong ist, von einem Mast geholt und ins Meer geworfen wurde, ein Vorfall, der auch von verschiedenen Zeitungen bestätigt wird.

Warnungen

Aus Chinas Zentrale kommen derweil Warnungen der unterschiedlichen Art. Hong Kong Free Press zitiert einen ungenannt bleibenden Regierungssprecher mit den Worten, "jene, die mit dem Feuer spielen, werden in diesem untergehen". Die Stärke der Regierung in Beijing solle nicht unterschätzt werden.

Von der chinesischen Armee gibt es nach einem nicht nachprüfbaren Bericht der US-Plattform The Daily Beast "Drohvideos", in denen ein Einsatz der bewaffneter Kräfte in Aussicht gestellt wird.

Die der Zentralregierung eher zugeneigte South China Morning Post schreibt am Dienstag über eine Übung mit 12.000 Polizeibeamten in Hongkongs Nachbarstadt Shenzhen. Dabei hätten die Beamten in voller Montur gegen Demonstranten-Darsteller gekämpft, die ähnliche Helme wie die in Hongkong protestierenden getragen haben.

Auf einem der Banner der "Demonstranten" habe gestanden: "Gebt mir mein hart verdientes Geld zurück" - eine Forderung, wie sie oft bei Protesten der Wanderarbeiter zu sehen sei. Die Manöver hätten zur Vorbereitung der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik gestanden.

Den Protesten am Montag waren in den vergangenen zwei Monaten bereits zahlreiche Demonstrationen vorausgegangen (Hongkongs langer Sommer der Proteste geht weiter), die nach und nach militantere Formen annahmen. Unter anderem ist es bereits zur Besetzung des Hongkonger Parlaments, des Legislative Councils, gekommen. 44 Demonstranten wurden kürzlich wegen gewaltsamer Zusammenstöße mit der Polizei angeklagt.