Nordsyrien: USA und Türkei wollen "Friedenskorridor" einrichten

Symbolbild: ANF

Die Region jenseits der türkischen Mauer ist im Alarmzustand

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Der Türkei geht es nicht gut. Erdogan geht es nicht gut. Wirtschaftlich geht es weiter bergab. Die Zivilgesellschaft meldet sich vor allem im Westen immer mehr zu Wort. Am Wochenende gab es lautstarke Proteste gegen das Abholzen von 200.000 Bäumen für eine kanadische Goldmine, die das Trinkwasser der Region verseucht. Das Thema "Klimawandel" ist auch in der Türkei angekommen.

Erdogans Basis schrumpft, er ist nicht nur im Parlament mehr denn je auf die Unterstützung der Faschisten angewiesen, die ihrerseits versuchen, der AKP ihren nationalistischen Kurs aufzuzwingen. In der AKP rumort es und hochrangige AKP-Politiker bereiten die Gründung einer neuen Partei vor. Mit Nationalismus und Bedrohungsszenarien gegen Nordsyrien versucht Erdogan, die Bevölkerung zu befrieden.

Über Wasser halten

Ein erster Schritt war die faktische Aufkündigung des Flüchtlingsdeals, mit dem er jahrelang aus EU-Geldern Löcher stopfen und seine Klientel bedienen konnte. Die zunehmende Verarmung der Bevölkerung ließ die Stimmung gegen die einst gepriesenen "Brüder und Schwestern" aus Syrien kippen. Es ist allgemein bekannt, dass viele Gelder aus Europa nicht in Hilfsprojekte für Geflüchtete geflossen sind, sondern in die Taschen der AKP-Lobby.

Viele syrische Geflüchtete halten sich durch Kinderarbeit und Sklavenjobs in den Straßen der Metropolen über Wasser. Heute steht die türkische Bevölkerung selbst unter (Überlebens-)Druck und will die Syrer loswerden. Das passt ins Erdogansche Konzept: Sein "Volk" will die Brüder und Schwestern nicht mehr, also sollen sie nach Hause. Nach Syrien. Genauer gesagt, nach Nordsyrien, ein Terrain, das sich die Türkei einzuverleiben gedenkt.

Die türkische Mauer

Die Türkei will eine sogenannte Sicherheitszone auf syrischem Boden: von Afrin im Westen bis nach Derik im Osten, ein 30 - 35 Kilometer breiter Streifen entlang der 900 km langen türkischen Mauer in Syrien, bis in den Irak hinein zur iranischen Grenze im Norden und weit ins Hinterland im Irak bis Kirkuk. Nach Erdogans neo-osmanischen Träumen gehört das sowieso alles zur Türkei. In Nordsyrien liegen viele Städte wie Kobane, Amude, Serekaniye, Gire Spi (Tall Abyad) direkt an der Grenze zur Türkei.

Historisch gesehen sind das halbierte Städte durch das Sykes-Picot Abkommen und damit auch halbierte Familien, die dort seit Jahrhunderten friedlich lebten. Bis vor drei Jahren konnten sie sich noch besuchen und Hochzeiten oder Beerdigungen ihrer Verwandten beiwohnen. Damit ist seit der Fertigstellung der türkischen Mauer Schluss.

Nun sollen die Familien nicht nur den syrischen arabischen Geflüchteten aus Damaskus, Homs etc. weichen, sie sollen auch ihre hart erkämpften demokratischen Strukturen gegen ein autoritäres, islamistisches System à la Turka eintauschen.

Sicherheitskorridor, Friedenskorridor oder türkische Besatzungszone?

Am Wochenende kündigte der türkische Präsident Erdogan in Bursa erneut eine Offensive auf das selbstverwaltete Gebiet in Nordsyrien an. Die Geduld der Türkei sei zu Ende, verlautbarte Erdogan. Er verwies auf die türkische Besatzung des nordsyrischen Kantons Afrin und erklärte

"Wir sind nach Afrin gekommen, nach Jablus und al-Bab", sagte er und bezog sich damit auf Städte im Nordwesten Syriens, in denen die USA keine militärische Präsenz hatten. "Nun werden wir östlich des Euphrats eindringen."

Mena-Watch

Das erste Ziel der Türkei wird dann vermutlich die Stadt Gire Spi (Tall Abyad) sein, denn von dort ist schnell der Sitz der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Ain Issa erreicht. Ist Ain Issa erst einmal erobert, ist der Weg nach Rakka und Deir ez-Zor frei.

Die Forderung nach einem 30 km breiten Streifen auf syrischen Territorium hat auch eine strategische Komponente, denn ca. 30 Kilometer von der Grenze entfernt verläuft eine wichtige, internationale Handelsstraße, die vom Nordirak bis nach Aleppo führt. Mit der Kontrolle dieser Straße hätte die Türkei erstens die Handelskontrolle in der Region und zweitens eine Verbindungsroute für die mit der Türkei verbündeten Islamistenmilizen aus dem Nordwesten in den Nordosten.

Zudem verlaufen alle Straßen von Minbic über Kobane, Tabqa bis Derik in der 30 km-Zone, sodass die Türkei alle Verbindungen zwischen den Städten für die ansässige Bevölkerung kappen könnte. Ein weiterer türkischer Plan ist es, künftig Erdöl aus Kirkuk und Deir ez-Zor ans Mittelmeer zu transportieren.

Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien legte ihrerseits einen Plan für eine "Sicherheitszone" vor und brachte damit den Willen für eine politische Lösung zum Ausdruck:

Die Sicherheitszone kann bis zu fünf Kilometer ins Landesinnere reichen. Städte sind davon ausgenommen. Das Gebiet kann unter der Beobachtung der internationalen Koalition oder den UN stehen. Die Sicherheit in dem Gebiet obliegt nicht den YPG/YPJ und QSD, sondern Kräften der lokalen Räte. Die Kräfte der internationalen Koalition können in dem Gebiet patrouillieren. Die Präsenz türkischer Militärs wird ausgeschlossen, zivile Vertreter sind zusammen mit der Koalition denkbar.

ANF

Um den türkischen Forderungen allerdings Nachdruck zu verleihen, bombardierte die türkische Armee am Wochenende wiederholt kurdische Dörfer in der Sheba-Region, die östlich an den von der Türkei annektierten Kanton Afrin angrenzt und Hundertausende Flüchtlinge in Flüchtlingscamps beherbergt, die ausschließlich von der nordsyrischen Selbstverwaltung und einigen NGOs aus Europa versorgt werden - in einer Situation, wo sie rundherum von einem Quasi-Embargo umgeben sind.

Zeitgleich mit Erdogans Invasionsankündigung und den türkischen Angriffen auf die Sheba-Region gab es vier IS-Anschläge in Hasaka und Sedade. Am Mittwoch explodierte eine Bombe vor dem Postamt in Tirbespi und riss drei Kinder in den Tod.

Begründet wird die türkische Invasionsdrohung mit der Behauptung, die Kurden würden die Sicherheit der Türkei gefährden, wenn sie in dem Territorium mit ihrem Ausbau von demokratischen Strukturen bleiben. Man hätte dort lieber arabische, tschetschenische Bewohner und wenn es sein muss, auch konservative sunnitische Kurden, die mit einem autokratischen System gut zurechtkommen.

Die internationalen Medien haben längst widerlegt: Es gab keine grenzüberschreitenden Angriffe der Bevölkerung in Nordsyrien auf türkisches Territorium. Umgekehrt sieht das ganz anders aus. Es vergeht kaum ein Tag, wo nicht Dörfer im Grenzgebiet beschossen werden, Brände auf Feldern gelegt oder Bauern bei ihrer Arbeit beschossen werden.

US-Amerikanische Soldaten, aber auch europäische Journalisten und Politiker, die Nordsyrien besuchten, zeichnen ein anderes, ein friedliches Bild vom Leben in Nordsyrien. Die Selbstverwaltung bemüht sich trotz der Bedrohung, den Alltag aufrecht zu erhalten, in Derik werden Ausschreibungen zur Verlegung eines neuen Abwassersystems und zum Straßenneubau ausgegeben. In Qamishlo wurden nagelneue Stadtbusse mit einem 20 Cent-Ticket eingeführt, um den Autoverkehr zu reduzieren.

Die Arbeit der internationalen NGOs ist akut gefährdet

Mittlerweile sind viele internationale NGOs und Vereine in Nordsyrien aktiv, um der Bevölkerung beim Wiederaufbau zu helfen. Frauenorganisationen helfen beim Aufbau von Kitas, Frauenkooperativen und Frauenbildungsstätten. Viele Vereine treten dabei nicht groß an die Öffentlichkeit, weil sie auch in der Türkei die demokratische Zivilgesellschaft mit Projekten unterstützen und diese Arbeit nicht gefährden wollen.

Aber es gibt auch NGOs und Vereine, die ganz offen die Bemühungen, in dieser autoritär geprägten Gesellschaft demokratische Strukturen unter Beteiligung von Teilen der Bevölkerung einzuführen, unterstützen. Umweltinitiativen wie Make Rojava Green Again bauen Baumschulen auf, experimentieren mit neuen ökologischen Anbaumethoden. Ein Oldenburger Verein sammelt Spenden für Schulmaterialien für die provisorischen Schulen in den Flüchtlingscamps der Sheba-Region. Ein deutscher Arzt sammelt Spenden für medizinische Geräte und leistet selbst von Zeit zu Zeit medizinische Einsätze in Brennpunktgebieten.

In Tirbespi bei Qamishlo unterstützt die deutsche Hilfsorganisation medico international ein Krankenhaus. In Zusammenarbeit mit dem kurdischen Roten Halbmond betreut die NGO mehrere Flüchtlingslager in der Sheba-Region, die durch eine türkische Invasion akut bedroht sind. Wenn die türkische Armee in die nordsyrischen Gebiete eindringt, wird es zu großen Fluchtbewegungen kommen, meint Sherwan Bery, ein Mitarbeiter des Roten Halbmonds.

Am wahrscheinlichsten in Richtung Nordirak. Der Kurdische Halbmond steht deshalb in Kontakt mit den Vereinten Nationen, um den Flüchtlingen im Notfall schnell Zelte zur Verfügung stellen zu können und ihre Grundversorgung zu sichern. (…) Derzeit leben noch über 100.000 Flüchtlinge, die vor der türkischen Invasion in den kurdischen Kanton Afrin geflohen sind, in der Region Sheba. Sie werden hier vom Kurdischen Halbmond versorgt. (…) Was passiert bei einem Einmarsch der Türkei mit den Menschen in Sheba und den über 350.000 anderen Vertriebenen, die in insgesamt dreizehn Flüchtlingscamps vom Halbmond betreut werden?

Sherwan Bery, Mitarbeiter des Roten Halbmonds

Wichtig zu wissen ist, dass die Vereinten Nationen zwar im Nordirak für Geflüchtete Hilfsprogramme haben, aber in Nordsyrien spärliche Hilfe nur über den Umweg von NGOs ankam. Der Berliner Verein Cadus unterstützt die Selbstverwaltung bei der medizinischen Versorgung der IS-Gefangenen des Lagers Camp Hol, in dem über 70.000 Menschen, größtenteils mutmaßliche Mitglieder oder Angehörige des IS untergebracht sind (Die Zeitbombe im Nordosten Syriens).

Offizielle Internationale Hilfe gibt es nach wie vor nicht. Frauen von IS-Terroristen versuchen in dem Lager neue IS-Strukturen zu schaffen und schrecken auch nicht davor zurück, Frauen zu ermorden, die sich vom IS lossagen wollen. Sollte die Türkei in Nordsyrien einmarschieren, ist das Lager besonders gefährdet, denn die IS-Gefangenen, Männer wie Frauen, warten nur darauf befreit zu werden oder entkommen zu können. Genau das kann passieren, wenn die SDF alle ihre Kräfte auf die Verteidigung ihres Territoriums konzentrieren müssen:

Sorgen bereiten dem kurdischen Politiker Aldar Xelil zudem die vielen Gefangenen des Islamischen Staates: Im Falle eines Angriffs durch Erdogans Militär könnten die Gefangenen nicht mehr ausreichend bewacht werden. "Vielleicht verlieren wir hier die Kontrolle", so Xelil.

Focus

Denn die Camps für IS-Gefangene sind keine Hochsicherheitsgefängnisse. Einige der Camps sind ehemalige Schulen, um die nur eine Mauer gebaut wurde. Ob die Folgen für die Welt der internationalen Staatengemeinschaft bewusst sind?