Amri-Ausschuss: Kapitulation vor dem Verfassungsschutz?

Im Abgeordnetenhaus von Berlin verweigert die Vizechefin des Amtes mehr Antworten, als sie gibt - und im Bundestag sitzt ein Vertreter des Justizministeriums im Ausschuss, obwohl er eigentlich ein Zeuge ist

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"Wir haben heute unsere Grenzen aufgezeigt bekommen." So das Fazit des Vertreters der Linkspartei im Abgeordnetenhaus von Berlin. Schauplatz: der Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz. Ein anwesendes Opfer des Anschlages drehte die Schraube allerdings noch weiter und sagte: "Das war eine Kapitulation des Untersuchungsausschusses gegenüber dem Verfassungsschutz."

Den Grund für diese Bewertungen lieferte die stellvertretende Leiterin des Berliner Verfassungsschutzes, Katharina Fest, die am 9. August zur ersten Sitzung nach der Sommerpause als Zeugin geladen war.

Eine Erkenntnis nach zwei Jahren parlamentarischer Aufklärung steht fest: Der Sicherheitsapparat tut nichts, um die Hintergründe des Anschlages vom 19. Dezember 2016 mit zwölf Toten aufzuklären und seine Rolle transparent zu machen. Wie das konkret aussieht, konnte man nun am Beispiel des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Berlin live studieren. Einen Großteil der Fragen wollte die Verantwortliche nicht oder nur in eingestufter Sitzung beantworten, sprich: unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Ein zweiter Zeuge, der im Staatsschutz des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin tätig war, sollte von Anfang an und komplett nur nicht-öffentlich vernommen werden. Der Staatsschutz führt Informanten in der islamistischen Szene. Der Ausschuss wollte wissen, welche Erkenntnisse er über bestimmte Moscheen gewonnen hatte, wo sich der mutmaßliche Attentäter Anis Amri und seine Kontaktpersonen bewegten.

Katharina Fest, die LfV-Vize, erklärte zunächst, der Anschlag habe sie tief betroffen gemacht, die Stadt sei seither nicht mehr dieselbe, und sie wolle den Untersuchungsausschuss bei seiner Arbeit unterstützen.

Die grundsätzliche Frage, ob das Amt in der Causa Amri Fehler gemacht habe, beantwortete sie dann mit "Nein". Die, ob die Aufarbeitung des Anschlags im LfV abgeschlossen sei, mit "Ja". Und die, wie lange diese Aufarbeitung gedauert habe, mit "nicht lange". Das war vom großen Bruder BfV bereits ganz ähnlich zu vernehmen.

Verdunkelungsspiel zwischen Abteilung Beschaffung und Abteilung Auswertung

Fest war als sogenannte "sachverständige Zeugin" geladen. Eine Konstruktion, die es dem Ausschuss erleichtern sollte, sie zu befragen, die es tatsächlich aber ihr leichter machte, Antworten zu verweigern. Sie zog sich zum Beispiel immer wieder darauf zurück, dass sie doch nur Leiterin der Beschaffung sei. Die Abteilung Beschaffung führt unter anderem die V-Leute. Deren Informationen bekommt dann die Abteilung Auswertung. Auf sie verwies Fest immer wieder. Dass sie aber zugleich an der Spitze des gesamten Amtes steht und also auch die Tätigkeit der Auswerter zu verantworten hat, versuchte sie rhetorisch immer wieder zu vernebeln. Im O-Ton: "Das kann ich als Beschaffungsleiterin eigentlich nicht beantworten. Die Frage geht an den Bereich Auswertung."

Konkret: Beispiel Verbotsverfahren des Trägervereins der Fussilet-Moschee in Berlin, in der Amri ein- und ausging. Kurz vor dem Anschlag war er noch dort gewesen. Der Innensenator blieb etwa ein Jahr lang tatenlos, ohne ein Verbot zu beantragen. Das geschah erst nach dem Anschlag. Geraten haben soll ihm das das LfV. Warum? Antwort Fest: Dafür sei sie nicht zuständig gewesen, sondern die Abteilung Auswertung.

Wie intensiv sei die Moschee beobachtet worden? Wieder der Verweis auf die Auswertungsabteilung. War ihr bekannt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in der Fussilet-Moschee eine Quelle hatte? Antwort: Dazu wolle sie in öffentlicher Sitzung nichts sagen.

Das LfV hatte von Ende September bis Anfang Oktober 2016 eine Überwachungskamera an der Fussilet-Moschee angebracht, weil dort ein Islamseminar geplant war, dessen Besucher dokumentiert werden sollten. Die Veranstaltung fand dann nicht statt. Ist Amri auf den Aufnahmen zu sehen? Antwort: Das sei Sache der Abteilung Auswertung, nicht der Abteilung Beschaffung gewesen. Ob und wie weit das Videomaterial tatsächlich ausgewertet wurde, wollte sie nur in nicht-öffentlicher Sitzung sagen.

War Amri eine Zielperson des LfV, die beobachtet und überwacht wurde? Die Antwort war widersprüchlich und zwiespältig. Zunächst sagte die LfV-Vizechefin, das wolle sie nur in "geschlossener Sitzung" beantworten. Dann hielt ihr der Abgeordnete Benedikt Lux (Bündnisgrüne) entgegen, dass ihr ehemaliger Chef Bernd Palenda Anfang des Jahres 2017 im Abgeordnetenhaus erklärt habe, Amri sei keine Zielperson gewesen, und wollte wissen, ob sich das in der Folgezeit bestätigt habe. Nun nickte sie und bejahte, Amri sei nie Zielperson gewesen. Warum aber wollte sie die Frage zunächst in geschlossener Sitzung beantworten?

Wie war die Zusammenarbeit mit der Polizei? Antwort: Wenn eine überwachte Person Straftaten begehe, informiere der Verfassungsschutz die Polizei und die Staatsanwaltschaft. Und wenn es dann zu einem Ermittlungsverfahren komme, "sind wir draußen".

Auch dazu ein konkreter Fall: Das LKA ermittelte gegen Emanuel K.P. Der wollte einen jungen Mann ins Herrschaftsgebiet des IS (Islamischer Staat) schleusen. Dann stellte sich für die Ermittler heraus, dass Emanuel K.P. eine Quelle des LfV ist. Die zuständige Sachbearbeiterin beim LKA sagte vor dem Untersuchungsausschuss im Bundestag, dass ihr das unbekannt gewesen sei. Das LfV war in dem Verfahren also nicht "draußen", sondern mittendrin. Die Frage ist allerdings, ob die Staatsanwaltschaft davon wusste und sogar involviert war. Bei einer Wohnungsdurchsuchung des Beschuldigten wurde auf die Beschlagnahme von dessen Laptop verzichtet. Zum Fall Emanuel K.P. wollte die Verfassungsschützerin Fest jetzt in öffentlicher Sitzung des Berliner Ausschusses nichts sagen.

Und es gibt einen weiteren Fall: Einem Dezernatsleiter im LKA Berlin war von Vertretern des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) gesagt worden, das LKA solle die BfV-Quelle in der Fussilet-Moschee aus seinen Ermittlungen herauszuhalten.

Das ist der Hintergrund, vor dem der Linken-Abgeordnete Niklas Schrader die Frage nach den sogenannten Zusammenarbeitsrichtlinien zwischen Verfassungsschutzbehörden, Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischem Abschirmdienst (MAD), Staatsanwaltschaften und Polizei aufwarf. Unter anderem ermöglichen diese Richtlinien von 1973, dass die Nachrichtendienste auf Ermittlungsverfahren Einfluss nehmen und die Staatsanwaltschaften dann die Polizei anweisen, ihre Ermittlungen zu stoppen. Das gilt insbesondere, heißt es, wenn V-Leute beteiligt sind. Ein solches Szenario passt exakt zum Fall Emanuel K.P.

Katharina Fest bestätigte, dass diese Zusammenarbeitsrichtlinien nach wie vor Relevanz haben. Welche konkret, blieb unbeantwortet. Sie selber schloss aus, dass das LfV einmal die Polizei gebeten habe, eine Person aus Ermittlungen herauszuhalten. Allerdings, muss man ergänzen, geht der Weg dazu über die Staatsanwaltschaft.

Gibt es spezielle Runden, wo sich die V-Mann-Führer des Verfassungsschutzes und des polizeilichen Staatsschutzes austauschen, sogenannte SPoC-Runden (Single Point of Contact)? Bei ihnen wäre das historisch bedingte Trennungsgebot in Deutschland zwischen Polizei und Geheimdienst prinzipiell und organisatorisch aufgehoben. Mögliche SPoC-Runden sind bisher ein Tabu, das zum Beispiel auch der Leiter des LKA nicht lüften wolle. Er kenne keine solchen Runden, sagte Christian Steiof 2018 im Untersuchungsausschuss, schloss sie aber auch nicht aus.

Nun richtete der Ausschuss diese Frage an die Vizechefin des Verfassungsschutzes. Der Begriff SPoC fiel von Seiten der Abgeordneten nicht. Sie antwortete, wie die Abteilung Auswertung ihre Runden mit der Polizei nenne, wisse sie nicht. Darin kann man ein indirektes Eingeständnis erkennen, dass es solche Runden geben muss.

Auch auf die generelle Frage, wie die Zusammenarbeit Verfassungsschutz - Polizei organisiert sei, gab Fest eine auffällig diffuse Antwort. Zunächst setzte sie an und erklärte: "Es gibt Schnittstellen..." - um dann mitten im Satz zu stoppen und fortzufahren: "...Nein, ich halte es für richtig, uns im Rahmen der klaren gesetzlichen Vorgaben zu bewegen." Was meinte sie damit und was vermied sie zu sagen?