Ausgeloste Bürgerräte in Berlin

Diskussion der Ergebnisse mit der Methode "World Cafe". Bild: T. Rieg

Modellversuch mit Zufallsbürgern in den sieben Ortsteilen des Bezirks Tempelhof-Schöneberg, Interview mit Daniel Oppold vom IASS, der den Bürgerrat wissenschaftlich begleitet

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Per Los zusammengesetzte Bürgerversammlungen kommen auch in Deutschland in Mode (siehe das ausführliche Streitgespräch Soll man Berufspolitiker durch zufällig ausgeloste Bürger ersetzen?). Gerade hat in Berlin ein spannender Modellversuch damit begonnen: In allen sieben Ortsteilen des Bezirks Tempelhof-Schöneberg (351.000 Einwohner) werden ausgeloste Bürgerräte einberufen, die zwei Tage lang über ihren Kiez beraten. Die erste Gruppe, ausgelost im Ortsteil Friedenau, tagte am 9. und 10. August im Rathaus Schöneberg, bereits am folgenden Mittwoch wurden die Ergebnisse in einem Bürgercafé der Öffentlichkeit vorgestellt und gemeinsam diskutiert.

Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler bekannte bei ihrer Begrüßung, dass die recht softe Aufgabenstellung für den ersten Bürgerrat von ihr stammt und "bewusst positiv" gewählt wurde: "Wie können wir den Ortsteil lebenswert erhalten und die Zukunft gemeinsam gestalten?" Jeder könne schnell Defizite in seiner Umgebung benennen, Positives zu erkennen falle schwerer. "Wir haben alle gelernt, in Defiziten zu denken. Das fängt in der Schule an, wo einem gesagt wird, was man alles nicht kann", sagte Schöttler. "Wenige Menschen können auf Anhieb sagen, was ihre eigenen Stärken sind und wo sie von anderen positiv wahrgenommen werden."

Der Bürgerrat hat dann aber doch zahlreiche Veränderungswünsche zusammengetragen, was bedeutet: Noch ist nicht alles gut. Verkehrsprobleme, bezahlbarer Wohnraum, seniorengerechte Stadt, Treffpunkte für Jugendliche - zu zehn Hauptthemen hat der Bürgerrat viele konkrete Vorschläge gesammelt.

Über diese Empfehlungen des Bürgerrats konnten alle Anwesenden bei der Präsentation in einem "World Café" miteinander diskutieren - als erste Resonanz.

Initiiert wurden die sieben Bürgerräte von fünf Friedenauer Frauen. Auf ihrer Suche nach neuen demokratischen Formen der Bürgerbeteiligung waren sie auf das Modell der Bürgerräte in Vorarlberg gestoßen, die es dort seit 2006 gibt und die inzwischen sogar in der Landesverfassung verankert sind.

Dass ihre Idee so schnell und dann gleich in dieser Größe realisiert wurde, ist einerseits Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler zu verdanken, die sich auf das Experiment eingelassen hat, andererseits eine finanziellen Förderung durch das Land Berlin, das Interesse an dieser neuen Form von Bürgerbeteiligung hat.

Der Modellversuch wird wissenschaftlich begleitet vom "Institute For Advanced Sustainability Studies" (IASS, siehe nachfolgendes Interview). Zusätzlich gibt es eine unabhängige Evaluation des gesamten Verfahrens. Die weiteren sechs Bürgerräte finden bis März 2020 statt. Ergänzende Informationen zum Verfahren in Berlin und in anderen Städten gibt es unter aleatorische-demokratie.de.

"Ungewöhnlich ungefiltert"

Die Entstehungsgeschichte der nun gestarteten Bürgerräte in Tempelhof-Schöneberg klingt fast märchenhaft. Fünf Frauen schlagen der Politik ein neues Instrument zur Bürgerbeteiligung vor - und die sagt sofort: "Oh toll, ein BürgerInnenrat hat uns tatsächlich noch gefehlt, den installieren wir mal schnell." Fehlt da nicht eine Phase harter Überzeugungsarbeit?

Daniel Oppold: Tatsächlich hat die Bürgergruppe "Nur Mut" überall nur offene Türen eingerannt. Sie hat die Idee zunächst den Fraktionen vorgestellt, aber recht schnell dann auch direkt der Bezirksbürgermeisterin. Und diese hat tatsächlich sofort erkannt, dass ihr ein solches Element der Bürgerbeteiligung noch fehlt. Es gibt viele Beteiligungs-zugänge für organisierte Interessengruppen, aber bisher eben kein Instrument, das die bunte Mischung der Bevölkerung widerspiegelt und unmittelbar in die Gestaltung von Politik einbezieht.

Warum sieht die Politik selbst hier ein Defizit, das sie beheben möchte?

Daniel Oppold: Nun, aus meiner Sicht war wohl nicht in erster Linie die Frage ausschlaggebend, welche Defizite sich damit beheben lassen. Vielmehr wurde eben erkannt, dass die Bürger_innenräte eine Möglichkeit sind, um Stärken freizusetzen, die in der Kooperation von Bürgern, Politikern und Verwaltung schlummern. Der Bürgerratsprozess nach dem Vorarlberger Modell verspricht genau diese Stärken systematisch zu aktivieren.

Es werden zufällig ausgewählte Bürger_innen aus dem Melderegister eines Stadtteils ausgewählt und darum gebeten, die Bezirksbürgermeisterin zu einer Fragestellung zu beraten. Der mehrstufige Prozess des Bürgerrates stellt sicher, dass diese Zufallsbürger gemeinsam Empfehlungen entwickeln, welche die Sichtweisen ganz normaler Bürger wiederspiegelt - und eben nicht die von organisierten Interessengruppen oder Aktivisten, die für ein spezielles Thema kämpfen. Solch ein Einblick ist unglaublich wertvoll für Politik und Verwaltung, weil er so ungewöhnlich ungefiltert daher kommt.

Das Berliner Modellprojekt ist an die Erfahrungen in Vorarlberg angelehnt. Danach kommt zwingend eine spezielle Moderationsmethode zum Einsatz. Was hat es damit auf sich?

Daniel Oppold: Die Methode, die in der eineinhalbtägigen Bürgerratsklausur hauptsächlich zur Anwendung kommt, heißt Dynamic Facilitation. Das ist eine ganz andere Art zu kommunizieren. Die Teilnehmenden sitzen im Halbkreis vor vier Flipcharts, und alles, was gesagt wird, wird von der Moderation auf einer der vier Flipcharts festgehalten, es geht nichts verloren. Die erste ist überschrieben mit "Herausforderungen/ Probleme", die zweite mit "Lösungen/ Ideen", die dritte mit "Bedenken" und die vierte mit "Fakten/Sichtweisen", worunter gesammelt wird, was die Mitglieder des Bürgerrats als gegeben ansehen. Die Moderation gibt dabei inhaltlich möglichst wenig vor, sie regt nur dazu an, vor allem in die Ideen-Richtung zu denken.

Klingt ein bisschen nach Schule.

Daniel Oppold: Es ist am Anfang schon schwierig für die Teilnehmenden, die meiste Zeit zuzuhören. Denn klar: wenn einer spricht, müssen die anderen ruhig sein, es gibt keine Nebengespräche oder so. Aber das Zuhören ist eine der wichtigsten demokratischen Fähigkeiten, die wir in unserer Zeit zu verlernen scheinen. Aber es ist spannend zu sehen, dass es mit Dynamic Facilitation doch relativ schnell gelingt. Als Beobachter kann man den Leuten quasi beim Denken zuschauen. Und dieses intensive Zuhören führt dazu, dass sich die einzelnen Argumente und Ideen der Teilnehmer total schärfen.

Daniel Oppold vom IASS in Potsdam begleitet den Bürgerrat wissenschaftlich. Bild: IASS

Es wird also alles in der großen Runde verhandelt, nicht mal was zu zweit ausdiskutiert?

Daniel Oppold: Nein, das Verfahren ist recht streng, fast schon orthodox. Gegen Ende der Bürgerratsklausur kommen dann aber noch andere Methoden zur Verdichtung der Ergebnisse zum Einsatz. So werden z.B. die Teilnehmenden des Bürgerrats auf einen "Gallery Walk" geschickt, um nochmal alle Flipcharts zu sichten, die über die Zeit beschrieben wurden. Die Teilnehmenden benennen außerdem gemeinsam im Plenum Haupthemen oder erarbeiten in Kleingruppen die Kernbotschaften und Empfehlungen zu diesen Hauptthemen aus den gemeinsamen Flipcharts der Dynamic Facilitation Sessions heraus.

"Nach Möglichkeit wird nicht abgestimmt"

Werden die Überlegungen denn am Ende in irgendeiner Form zusammengefasst? Vielleicht äußert jemand am Anfang eine Idee, die er am Ende der Beratung selbst nicht mehr so toll findet.

Daniel Oppold: Es kann zu sogenannten Durchbruchsmomenten kommen, wo man spürt, da ist gerade in der Gruppe eine gemeinsame Idee entstanden. Solche Durchbruchsmomente sind auf alle Fälle immer Bestandteil der Schlussempfehlung, die kommuniziert wird. Die Bürger können am Ende schauen, was die großen Storylines waren, was sie als Essenz ihrer Beratungen sehen.

Es wird also nicht von den Moderatoren nach dem Prozess ausformuliert, was die Bürger beraten haben, wie das beim Bürgergutachten am Ende einer Planungszelle üblich ist?

Daniel Oppold: Nein, alles Inhaltliche legen die Bürger selbst fest und formulieren selbst ihre Empfehlungen.

Wie sieht der Einigungsprozess aus?

Daniel Oppold: Nach Möglichkeit wird nicht abgestimmt. Es ist aber auch nicht notwendig, am Ende für alles einen Konsens gefunden zu haben. Auch Dissense kann man als unterschiedliche Sichtweisen auflisten und sie sind wertvoll für die Politik. Welche Form die Ergebnisse annehmen, hängt ganz von den verhandelten Inhalten ab. Alle Kernbotschaften und Empfehlungen, die der Bürgerrat aber letztlich den Auftraggebenden zurückspiegelt, sind per Konsens-Verfahren beschlossen. Dieses Verfahren stellt sicher, dass es keine schwerwiegenden Widerstände in der Gruppe gegen das Wording einzelner Kernbotschaften und Empfehlungen gibt.

Das Dynamische an "Dynamic Facilitation" ist demnach die flexible Arbeitsweise von Moderation und Teilnehmern?

Daniel Oppold: Nein, das Dynamische ist, was in den Köpfen der Teilnehmenden vorgeht. Das Setting selbst ist recht statisch und zwingt zum aufmerksamen Zuhören. Und die Moderierenden sind in einer Rolle, die möglichst wenig Macht ausübt. Sie sind nur dazu da, den Raum zu halten, die Entwicklung der Gedanken zu ermöglichen, diese abzuholen und schriftlich festzuhalten.

Wie wird der Bezirk Tempelhof-Schöneberg mit den Ergebnissen der sieben Bürgerräte umgehen?

Daniel Oppold: Nach dem Vorarlberger Modell berät nach der öffentlichen Ergebnispräsentation eine Resonanzgruppe, welche Ideen des Bürgerrats aufgenommen werden können, wo bereits Prozesse laufen, an die man anschließen kann, wo neues entstehen kann. Diese Resonanzgruppe gibt ihre Ergebnisse dann an die zuständigen Gremien weiter, die dann entscheiden, was tatsächlich geschieht. Diese Gremien sind normalerweise auch der Auftraggeber für den Bürgerrat, und sie legen dann in Form einer öffentlichen Rückmeldung an die Teilnehmenden des Bürgerrates dar, was aufgegriffen wurde und was nicht - und warum.

Sie haben mit Bürgerräten in Vorarlberg gearbeitet und dazu geforscht. Ist das Vorarlberger Modell der aktuelle Benchmark für aleatorische Bürgerbeteiligung?

Daniel Oppold: Sicher nicht. Das Schöne an dialogorientierter Bürgerbeteiligung ist doch die Vielfalt, die halte ich für sehr wichtig, um kontextspezifisch das richtige Format zu finden. Ein Vorteil des Vorarlberger Modells jetzt für die Bürgerräte in Tempelhof-Schöneberg ist die hohe Vergleichbarkeit der Ergebnisse durch das Prozessdesign. Für einen Politikwissenschaftler wie mich ist das natürlich hoch spannend.

Wenn sich das Modellprojekt bewährt, sollte es weiter angewendet werden. Die Initiatorinnen setzen für Berlin darauf.

Daniel Oppold: Es wird sicherlich vor allem eine Frage der Finanzierung sein. Dass es jetzt zu diesem Modellversuch mit gleich sieben BürgerInnenräten kommt, liegt daran, dass es den Initiatoren von Nur Mut gemeinsam mit der Bezirksbürgermeisterin und dem Bezirksamt gelungen ist, eine Förderung der Stadt Berlin zu bekommen. Berlin fördert in diesem Jahr nur zwei Projekte der Bürgerbeteiligung, und eines davon sind diese Bürgerräte. Man muss jetzt aber auch schauen, wie Finanzen freigemacht werden können für Ideen, die von den Bürgern jetzt entwickelt werden. Da gibt es noch viel zu arbeiten für die Verantwortlichen vor Ort.

Wie hängt Ihr wissenschaftliches Interesse an Nachhaltigkeit mit diesem Bürgerräte-Projekt zusammen?

Daniel Oppold: Hier am IASS machen wir transformative Nachhaltigkeitsforschung. Es ist nicht ganz trivial von dort zu demokratischen Innovationen zu kommen, an denen u.a. ich hier arbeite: Wir wollen ein anderes Wissenschaftsverständnis prägen. Wir wollen nicht lediglich Grundlagenforschung betreiben und dann wissenschaftliche Erkenntnisse an die verantwortlich Handelnden überreichen und ihnen viel Glück damit wünschen. Vielmehr wollen wir mit unserer Forschung in die Phase der Aktion hineinwirken und umgekehrt auch unseren Forschungsprozess öffnen, für Menschen aus der Praxis und für andere Wissensformen.

Für viele Probleme gibt es schon seit Jahren und Jahrzehnten nachhaltige Lösungen. Aber wir sehen wenig Handlung und nur sehr schleppend Veränderungen. Und bei den Veränderungen, die zu beobachten sind, weiß man auch nicht immer, ob sie in die richtige Richtung gehen, z.B. Stichwort Elektromobilität. Wir glauben, dass die gesellschaftliche Kapazität erst geschaffen werden muss, um gute Entscheidungen hin zu einer nachhaltigeren Gesellschaft zu treffen. Dazu muss sich aber auch die Demokratie, wie wir sie heute kennen weiterentwickeln, z.B. um Entscheidungen über Legislaturperioden hinaus treffen zu können. Wir sind überzeugt, dass dialogorientierte Beteiligungsformate mit Zufallsauswahl innovative Instrumente sein können, um genau dazu beizutragen.

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