Im Club der toten Griechen

Die Tyrannei der Griechen über die Deutschen - zur Geschichte einer Faszination, die zu einer Obsession wurde und zu einem Missverständnis

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Jetzt kommen wir wieder zurück! Viele gewiss aus Italien, aus Spanien, aus Frankreich; manche bleiben gar zu Haus, andererseits scheuten sich viele, Greta zum Trotz, nicht, den Jumbo zu besteigen und sich irgendwo zwischen Polynesien und der Karibik ihren Sonnenbrand abzuholen. Aber nicht wenige fahren auch nach Griechenland. Und Griechenland war für uns Deutsche schon immer ein sehr besonderes Reiseziel.

"Das Land der Griechen mit der Seele suchend", sprach Iphigenie am Strand der heutigen Krim 1779 in Goethes Drama. Der Satz wurde zur markantesten Formel aller Griechenland-Fans, die sich nun "Philhellenen" nannten. Zu diesem Zeitpunkt, 1779, war schon längst voll im Gange, was 24 Jahre zuvor begonnen hatte. 1755 wurde die erste Veröffentlichung eines völlig unbekannten Bibliothekars im Nu zum Bestseller.

"Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst" erschien schon bald in zweiter Auflage und englischer wie französischer Übersetzung und machte seinen Verfasser, den Autodidakten (er hatte Theologie und Medizin ohne Abschluss, keineswegs aber antike Kultur oder Sprachen an der Universität studiert) Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) über Nacht zum neuen Star der europäischen Kulturszene.

Epochentypische Träume

Damit beginnt die bis heute wirksame Geschichte der deutschen Griechenland-Begeisterung. Es ist dies die Geschichte einer heißen Liebe und einer schrecklichen Enttäuschung, einer Faszination, die zu einer Obsession wurde; es ist die Geschichte von den Träumen einer ganzen Generation, die sehnsuchtsvoll über Grenzen hinausgehen, Grenzen durchbrechen und die Wirklichkeit hinter sich lassen wollte, zugunsten der Welt der Ideen und Ideale. "Hellas - ewig unsre Liebe?" (Stefan George)

Es sind sehr epochentypische Träume und sogleich geht es in dieser Geschichte um das Erwachen, um einen allmählichen Erkältungsprozess, der die heißen Sehnsüchte zu einer für beide Seiten nicht sehr befriedigenden Begegnung mit der Realität geraten ließ. Es geht um ein Traumbild, das zunächst nur im Kopf und im Herzen entsteht, das eben "mit der Seele" gesucht wird und dann aber, wie das Traumbilder so an sich haben, allmählich sich verflüchtigt.

Die Griechen als die "lieben Verwandten" der Deutschen

Bereits in seinem Erstling proklamierte Winckelmann jene "edle Einfalt und stille Größe" in - angeblicher - Nachahmung der Antike zum Schönheitsideal aller zeitgenössischen Kunst. Er selbst, der bald darauf in Rom päpstlicher Chef-Archivar wurde und bis zum frühen Ende seines Lebens die Geschichte der Kunst des Altertums in mehreren Werken aus seiner Sicht darstellte, dachte dabei durchaus auch jenseits des Ästhetischen an eine vorbildliche demokratische Verfassung, an kritische Philosophie und die "erste Aufsicht auf das offene Meer" einer zukünftigen anderen Geschichte.

Der aufkeimenden deutschen Nationalkultur in einem "Heiligen Römischen Reich", das in nicht weniger als 1789 Staaten und Verwaltungseinheiten zersplittert war, gab er damit aber vor allem das geopolitische Ideal nationaler Größe, indem man selbst ein "neues Hellas" werde: "Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten", heißt es in einer bewusst paradoxen Formulierung, die durch ihre immense Wirkung zu einer historischen Wegscheide wird: Genau hier setzt eine Weltflucht und Realitätsverweigerung ein, die auch politische Folgen hat.

Man verstand Winckelmann nicht nur kunsthistorisch, sondern weltanschaulich - es beginnt ein deutscher Sonderweg der Identifikation mit den antiken Griechen, die zum paradiesisch-unschuldigen, aber auch archaischen, unzivilisierten "Hellas" idealisiert werden und zu den "lieben Verwandten"(Hölderlin) der Deutschen.

Das galt für das ganze Land: 1832, in Goethes Todesjahr, wurde mit Otto I. ein bayerischer Prinz griechischer König. Dessen Vater Ludwig I. hatte mit seinem Stararchitekten Leo von Klenze in zahlreichen Bauten (Glyptothek, Ruhmeshalle, Walhalla) einen stark durch das idealisierte Bild beeinflussten Klassizismus begründet - politische Propaganda in historischen Gewändern. Nur dass diese eben griechisch waren, nicht römisch republikanisch.

"Ähnlich wie Luther nach den originalen Quellen der Bibel suchte Winckelmann nach den originalen Kulturvätern der Deutschen, und diese sprachen griechisch. Wer aus Frankreich kam, war nicht wirklich griechisch inspiriert, sondern lateinisch, römisch und christlich. Er aber liebte das Heidentum", schreibt Claudia Schmölders in ihrer neuen luziden Untersuchung "Faust & Helena" zur deutsch-griechischen Faszinationsgeschichte. Hinter der Griechenland-Freundschaft stand schon ein Keim von Franzosenfeindschaft.

"Vergriechung" der deutschen Eliten und Entlatinisierung

An die so facettenreiche wie problematische Geschichte des auf Winckelmann folgenden Weges der "Vergriechung" der deutschen Eliten und der damit einhergehenden Entlatinisierung wurde schon mehrfach erinnert. Zuletzt von Schmölders und dem Germanisten Bernd Witte ("Moses und Homer"). Tatsächlich aber sind die Fakten, wie auch die Einwände seit über 80 Jahren bekannt. Bereits 1927 hatte Egon Friedell in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" in Winckelmann den "Ausgangspunkt einer der verhängnisvollsten Verirrungen des deutschen Geistes" gesehen.

Analytischer und besser belegt, aber nicht weniger vernichtend im Urteil ist die 1935 erschienene Untersuchung "The Tyranny of Greece over Germany" (Die Tyrannei Griechenlands über die Deutschen). Verfasserin ist die Cambridge Professorin Eliza M. Butler (1885-1959). Der Titel ist psychologisch gemeint: Tyrannei bedeutet hier Besessenheit. Die Deutschen waren von Griechenland, genauer gesagt von Hellas als dem imaginierten Griechenland, "sklavisch" besessen und überidentifizierten sich mit den zusammengeträumten Ideen.

"Die Deutschen haben die Griechen sklavischer imitiert; sie sind von ihnen restloser besessen gewesen und sie haben sie weniger assimiliert als jedes andere Volk" - Butlers Tenor ist deutschfreundlich, sie beschreibt die Deutschen nicht als Schurken, sondern als "unbeholfen spielende Kinder am Meeresstrand".

Ausführlich stellt sie die Anfänge der Philhellenie bei Winckelmann, Lessing, Goethe und Schiller dar, hält sich nicht lange damit auf, zu zeigen, dass Winckelmann ein komplett unrealistisches Bild der Antike zeichnet, sondern konzentriert sich auf dessen Wirkung und schlägt einen Bogen über markante Stationen der deutschen Geistesgeschichte: Heines Romantik-Kritik im Namen Homers, Nietzsches Ästhetik des Widerstreits zwischen exzentrischem "Dionysischen" und gedämpft "Apollinischen", Schliemann und George.

Butler thematisiert auch den Preis, der für den deutschen Philhellenismus in der deutschen Kulturgeschichte bezahlt wurde. Ihre Thesen sind klarsichtig, der Stil witzig, die Bestandsaufnahme nüchtern.

Kurz nach Erscheinen des Buches verewigte Leni Riefenstahl Adolf Hitlers Berliner Olympiade von 1936 dann in ihrem vierstündigen Kino-Zweiteiler "Olympia" (1938) in einem pseudomythischen, mit Hellas-Anspielungen garnierten Rahmen. Und 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht mit Griechenland auch all die deutschen Humanismus-Träume.

Die Hakenkreuzflagge wehte auf der Akropolis, SS-Männer luden zu Homer-Lesungen zu Füßen des Parthenon, der ehemalige Gerhart-Hauptmann-Sekretär Erhart Kästner schwadronierte in Stil der Zeit über den Einzug der Wehrmacht auf Kreta: "Da waren sie die blonden Archaier Homers, die Helden der Ilias ... wie jene stammten sie aus dem Norden ... die von den Kämpfen auf Kreta erzählten, die wohl viel heldenhafter, viel kühner und bitterer waren als alle Kämpfe auf Troja." [zitiert nach Schmölders].