Hypergut "Gerechtigkeit"

Recht und Moral in der Dissensgesellschaft - Kapitel 2

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kapitel 1: Vor Gericht und auf hoher See

"Zu den von keiner Ethik eindeutig entscheidbaren Fragen gehören die Konsequenzen des Postulats der "Gerechtigkeit". Max Weber markiert das Programmdilemma, das jede Ethik erfasst, die Gerechtigkeit ohne nähere Spezifikation einer Gesellschaft verordnen will. Wenn Gesellschaften und ihre Politik programmtechnisch in Schwierigkeiten geraten, dürften die Folgen für das Individuum, eine Entscheidung zu treffen, vollends fatal werden. Die göttlich legitimierten Konzeptionen der Gerechtigkeit werden von Folgekonstruktionen beerbt, die sich nicht weniger wirkungsmächtig aufspielen: "Wenn wir als Gattung und Planet überleben wollen, müssen wir weltweit über Wohlbefinden und Gerechtigkeit nachdenken."1 Das unterschreiben viele. Doch wann ersetzt Alarmismus das notwendige Handeln? Und beantwortet Greta Thunbergs "Unite behind the science" bereits die Frage, wie die dem entsprechende Klima-Politik aussieht?

Es gibt nicht nur eine Vielzahl von Werten, sondern verschiedene Konzeptionen von Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist nicht, wie es John Rawls fiktiv erörtert, die Initialzündung gesellschaftlicher Konstruktionen im Nichtwissen je eigenen Zukunft. Vielmehr präsentiert sich die Gerechtigkeit als streitige Verhandlung und trägt in hohem Maße zur Verunsicherung bei, wie daraus sozialverträgliche Zustände werden sollen. Man könnte, wie es Kommunitaristen formulieren, mit der intuitiven Frage beginnen, was für eine (bestehende) Gesellschaft beziehungsweise Gemeinschaft gut ist.

Wie es Augustinus für den Begriff der "Zeit" konstatierte, gilt für den primären Wert des Rechtssystems: Wir wissen, was Gerechtigkeit ist, wenn uns keiner so genau danach fragt oder wir moralisch erregungsbereit die Weltnachrichten lesen. Doch wenn wir sie definieren sollen, verflüchtigt sich die Gerechtigkeit in unzählige Rückfragen nach der Proportionierung von Ausgleichssystemen, der Verteilung von Wissen und Wohlstand, vor allem aber der Frage, wer denn für die Gerechtigkeit zuständig ist. Jean-Jacques Rousseaus berühmte Feststellung zum vorgeblichen Freiheitsparadox "Der Mensch ist frei geboren, und dennoch liegt er überall in Ketten" lässt sich für die Gerechtigkeit so variieren: "Alle reden ständig von Gerechtigkeit, doch überall wird ihr Fehlen konstatiert." "Die Rechtsgeschichte ist maßgeblich geprägt von Unrechtserfahrungen. Sie darf im Kern als Unrechtsgeschichte verstanden und bezeichnet werden."2 So klagt der Rechtsphilosoph Bernd Rüthers an, der Juristen bescheinigt, allenfalls in der Lage zu sein, das gröbste Unrecht zu verhindern. Der antike Satiriker Lukian erläutert in einer frühen und perfekten Allegorie die Gerechtigkeit so:

GERECHTIGKEIT. Die sind es eben, mein Vater, vor denen ich mich am meisten fürchte, weil sie immer miteinander im Streit liegen und von mir reden, ohne selbst zu wissen, was sie sagen. Man versichert mich, die meisten von diesen Leuten, die sich in ihren Reden so viel mit mir zu tun machen, würden mir, wenn ich wirklich käme und ein Obdach bei ihnen suchen wollte, die Tür vor der Nase zuschließen, weil sie bereits meine Gegnerin bei sich aufgenommen und für mich keinen Raum mehr hätten.

Lukian unterscheidet zwischen der instrumentalisierten und der wahren Gerechtigkeit. Diese Differenz ist Teil eines Streitprogramms von Kontrahenten, die nicht einmal erkennen, dass sie die Gerechtigkeit verfehlen. Gerechtigkeit ist das Hypergut menschlicher Beziehungen, ein Gut, das höchsten Einsatz lohnt, wenn man unzähligen historischen Beispielen traut - ohne dass die Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaft, die Gesetze oder gar die Gerichte leicht angeben könnten, was denn Gerechtigkeit ist. Die Proklamationen abstrakter Gerechtigkeit in Verfassungen und Sonntagsreden führt zu der Frage, inwieweit Gerechtigkeit mit anderen Werten, Gütern oder Erzählungen verknüpft ist, die unsere Moralpraxis anleiten.

Die moralische Alltagsvernunft realisiert sich als "Nähemoral", die im Anblick fremden Leides praktisches Handeln begründet. In Medien wird diese Moral über Affektbilder global hochgereizt, ohne komplexe Fragestellungen beantworten zu müssen. Die Erregung über Flüchtlingsbilder ersetzt keine strukturelle Flüchtlingspolitik. Die "milde Gabe" für den Bettler bietet keine Strukturprofile einer gerechten Sozialpolitik. Gesellschaften, die über gendergerechte Werbung nachdenken und Verbote aussprechen, täten gut daran, den hemmungslosen Gebrauch von Affektbildern, die alles und nichts beweisen, zugunsten eines kritischen Journalismus zu kontrollieren.

Was weiland Gerechtigkeit hieß, war oft genug die Glasur auf einer Staatsräson, die von der Zielsetzung von Räuberbanden nur insoweit abwich, als symbolischer Aufwand und Organisationsgrad höher waren. Mit der nach den Anschlägen auf das World Trade Center leicht durchschaubaren Propaganda der "rogue states" (Schurkenstaaten) wurde die Differenz souveräner Staatlichkeit und organisierter Staatskriminalität riskant verwischt, um Legitimationsressourcen für eine kriegsorientierte Politik zu schaffen. Es ist zu räsonieren, warum mit fundamental gestrickten Legitimationen zugleich staatliche Überreaktionen einhergehen, wie sie sich im Sondergefängnis Guantanamo Bay mit rechtlos gestellten Kriegsteilnehmern oder in der 2004 aufgedeckten Folterpraxis von Abu Ghuraib ereigneten. Hohe moralische Ansprüche verbinden sich an diesen "Nichtorten" des Unrechts mit notdürftig kaschierten Einbrüchen zivilisatorischer Mindeststandards.

Wer von Moral spricht, mag mit dem Recht hadern. Die US-Regierung unter dem Präsidenten George W. Bush war nicht einmal bereit, eine klare Zäsur zur Folter zu ziehen, sondern ließ sich auf unhaltbare, von Donald Trump vorübergehend aufgegriffene Apologetiken ein, dass "water-boarding" und andere im mehrfachen Wortsinne peinliche Verhörtechniken aus dem Arsenal des Mittelalters rechtsstaatlich zulässig wären. Saddam Hussein wurde militärisch von der Bush-Regierung entmachtet, aber die moralische Demontage, die ihm zuvor in regierungstreuen Medien bereitet worden dar, hielt nicht lange vor. Die amerikanische Regierung geriet selbst in moralische Untiefen. Bush wurde nach dem Ende seiner präsidialen Laufbahn offen als Lügner bezeichnet, während er zuvor noch selbstgewiss seinen Weltrettungsauftrag so hypermoralisch präsentiert hatte, dass demokratische Kontrollfunktionen an dieser Stelle mit Landes- wenn nicht Zivilisationsverrat gleichzusetzen wären.

"Ungerechtigkeit ist das Medium wirklicher Gerechtigkeit." Adorno bezeichnet damit den Umschwung einer unterschiedslosen Güte, die das Besondere verfehlt. Hier wird dialektisch böse formuliert, dass gegenwärtige Gerechtigkeitsordnungen irgendwann durch neu formulierte Gerechtigkeitskonzepte durchbrochen werden. Bei Bertolt Brecht wird das zur Parole: "Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht." Klingt zwar überzeugend, ist aber regelmäßig erst dann eindeutig zu subsumieren, wenn die Geschichte bereits ihr Urteil gefällt hat. Wir wissen inzwischen: Gerechtigkeit ist weltbildabhängig, genauer formuliert: abhängig von Kontexten der Gesellschaft und der Sozialisation des Anwenders. Auf die kolportierte Feststellung eines Inders, Witwenverbrennungen seien in seiner Kultur ein gefestigtes Traditionsgut, erwiderte der britische "Kolonialherr": "Und unsere Tradition gebietet es, solche Täter aufzuhängen."

Moral oder Recht

Der erfolgreiche Fotojournalist Brandon Stanton ging anlässlich der Bewerbungen zur Präsidentschaftswahl im März 2016 mit dem republikanischen Bewerber Donald Trump hart in das Gericht. Seine Kritik richtet sich gegen Aussagen Trumps, die dessen hasserfüllte und reaktionäre Gesinnung belegen sollen. Im Rahmen politischer Auseinandersetzungen ist das ein Allerweltsvorgang. Bemerkenswert ist indes die Begründung des Journalisten: Er sei prinzipiell unpolitisch und kritisiere Trump auch nicht im Rahmen der politischen Streitigkeiten:

So wie Millionen von Amerikanern ist es mir klar geworden, dass es keine politische Entscheidung ist, ihnen entgegenzutreten. Es ist eine moralische.

Der offene Brief wird eine Million Mal auf Facebook geteilt. Die zahllosen Kommentare der Leser selbst sind so moralisch wie politisch. Stantons Intervention markiert ein Vorrangverhältnis. Moral geht über das rein Politische, über den Meinungskampf, über den offenen Diskurs hinaus. Die Moral beinhaltet zugleich einen eigenen politischen Grund, sie zu artikulieren, weil es existenziell notwendig werden kann, über die rechtliche Verfassung hinaus zu gehen. Die hier wie anderenorts von sich selbst erfüllte Moral ist eine Art Zündsatz, der nicht nur als Metapher dienen muss. Wer moralisch argumentiert, besitzt eine besondere Legitimation, die viele Mittel zu heiligen scheint. Allerdings ist die Selbstermächtigung der Moral ein Risikogeschäft: "Leider entscheiden über die Ausnahmen dieselben, die auch über die Regeln bestimmen." (Tomáš Janovic)

Eine alte Bäckerin erzählte dem Verfasser, dass ihr Vater in den dreißiger Jahren von einem ortsansässigen Fotografen genötigt wurde, ihm ein Bild des "Führers" abzukaufen. Zum Geburtstag von Adolf Hitler könne er sein Schaufenster nicht undekoriert lassen. Der Bäcker entschied sich für den Kauf, um Schlimmeres zu vermeiden. Die Vorstellung, dass die örtliche NDSAP am Patriotismus des Backwarenherstellers zweifeln könnte, erschien ihm als vermeidbares Risiko, so wenig seine Gesinnung reichte, um aus Überzeugung zu handeln. Eine völlig andere Schaufensterpolitik erleben wir anlässlich der Olympiade in Berlin vom 1. bis 16. August 1936. Die Nazis dekretierten, dass Schilder "Kauft nicht bei Juden" aus den Geschäften zu entfernen seien. Das Propagandaereignis "Olympiade" sollte nicht diskreditiert werden durch Kritiker, die bereits nachhaltig dafür plädiert hatten, wegen der Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten die friedlichen Spiele der Völker zu boykottieren.

Vorderhand handelte es sich um die übliche Politik-Propaganda, das Bild der Nation in positiven, fröhlichen, friedvollen, aber auch starken und machtorientierten Konturen zu präsentieren. Einige Monate vor der Olympiade, am 7. März 1936, hatten die Nazis im entmilitarisierten Rheinland Truppen stationiert, was als eindeutige Verletzung des Versailler Vertrags eine offene Kampfansage war. Das faschistische Credo ging von der Schwäche der Demokraten, ihrer Unentschiedenheit, wenn nicht Dummheit aus. Warum fährt die propagandistische Olympiade-Politik die aggressive Botschaft des Regimes nun auf eine machiavellistische Position zurück, die im augenscheinlichen Widerspruch zu zahllosen Verlautbarungen rassistischer und hegemonialer Art steht? Offensichtlich war es dem Regime klar, dass der moralische Druck so empfindlich war, dass es vorteilhaft schien, wenigstens die Fassaden, hinter denen sich Ungeheuerliches vollzog, neu zu gestalten. Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 zur "Endlösung der Judenfrage" wurde historisch vielfach untersucht.

Bemerkenswert ist, dass es in dieser Chefsache des Regimes keinen schriftlichen "Führerbefehl" gab, was angesichts der zahllosen Einzelentscheidungen Adolf Hitlers auch in marginalen Fragen den Verdacht begründet, dass die Wahrnehmung der globalen Öffentlichkeit nicht auf dieses ungeheuerliche Projekt des Genozids gelenkt werden sollte. Die fundamentale moralische Verwerflichkeit des Vorgangs war offensichtlich selbst in den Augen der Täter ein ernst zu nehmender Faktor. Himmlers Posener Ansprachen vor SS-Angehörigen am 4. und 6. Oktober 1943 waren "Geheimreden", die die Vernichtungspolitik als Akte der "Tugend" und des "Anstands" legitimieren sollten. Himmler leitete seine Ausführungen zur "Judenfrage", die er als "die schwerste Frage meines Lebens" bezeichnete, mit den Worten ein: "Ich bitte Sie, das, was ich Ihnen in diesem Kreise sage, wirklich nur zu hören und nie darüber zu sprechen."

Diese Beispiele verdeutlichen die normative Kraft der Moral, die selbst in der totalen Demontage des Rechtsstaats und im Moment des völligen Versagens des Rechts nicht völlig verdrängt werden kann. Richard Rorty hat in einem wichtigen Aufsatz zur Moralphilosophie kurz den auf die individuelle Handlungsebene bezogenen Fall dieses Moralkonflikts erörtert.3 Wie kommt der deutsche Soldat, der die jüdischen Kinder töten soll, zu seiner Moral?

Rorty lehnt als Neopragmatist in der Tradition John Deweys ahistorische, kantianische bzw. vernunftethische Begründungsmuster der moralischen Selbsterfindung ab. Der "Soldat Hans" habe sich eine "neue praktische Identität" zugelegt, die ihm diese Möglichkeit eröffnet. Setzen sich solche Identitäten durch, entwickeln sich appellative Funktionen, die eigene Identität der moralischen Konvention anzupassen. Entscheidend sei dann das Urteil der Geschichte: "Dank der Schlagkraft der alliierten Truppen hat sich diese Identität nicht durchgesetzt." Sollte es also wichtiger sein, anstelle abstrakter Moraldiskurse politische, psychologische und pädagogische Mechanismen zu beschreiben, so unzweifelhaft moralisch abstrakte Kriterien Identitäten mitbestimmen können.

Häufig wird in Moraltheorien verkannt, dass die Begründung unhintergehbarer Pflichten sekundär gegenüber den appellativen Funktionen der Moral ist. Bei der Entwicklung neuer moralischer Sensibilitäten wird der Mechanismus der Moralisierung besonders deutlich. Ein Beispiel: Henry geht nach der Arbeit über einen Waldweg nach Hause. Da er hungrig ist, isst er einen "Burger". Die Verpackung möchte er in einem Mülleimer entsorgen, den er aber nicht findet. Wird er nun die klebrige Verpackung noch zwei Kilometer mit sich tragen oder lieber gleich am Wegesrand diskret fallen lassen? Dass das Umweltvergehen von Ordnungsbehörden geahndet wird, erscheint Henry als geringes Risiko, zudem dort genügend anderer Abfall von anderen Waldspaziergängern vor ihm zurückgelassen wurde. Dass die Umweltbelastung durch nicht oder schlecht abbaubaren Müll enorm wächst und die Lebensbedingungen auf der Erde dadurch schlechter werden, hat Henry mehrfach gelesen. Sein Gewissen schwankt nun zwischen der marginalen Zusatzbelastung der Ökologie, die sein "Waldfrevel" auslösen könnte und der moralischen Wahrscheinlichkeitslehre und ihren Statistiken, die der Überlegung folgen, was denn wäre, wenn alle so denken würden.

Henrys moralische Reflexionen ahnen wir, ohne zu wissen, wie er das Problem lösen wird. Denn die Entscheidung wird nicht abstrakt fallen, sondern der "moral literacy" des Protagonisten einer jeden moralischen Erzählung folgen. "Moral literacy", bedingt als "moralische Bildung" übersetzbar, wird von Pädagogen oft vermisst. Menschen haben moralische "Bauchgefühle", aber deren Rekonstruktion oder Herkunft liegt oft im Dunklen. Wir erörtern moralische Theorien, beziehen sie aber nicht auf die eigene Praxis. "Moral literacy" hieße danach die Verbindung von Theorie und Praxis der Moral im eigenen Handeln. Das impliziert, dass Moral lernbar ist, was eine wichtige Gemeinsamkeit zum Recht bildet.

Die Frage, was Recht und was Unrecht ist, ist eine Frage, deren Beantwortung sehr unterschiedlich auf die eigene Sozialisation und Lebenspraxis bezogen wird. "Alle Gesetze sind Versuche, sich den Absichten der moralischen Weltordnung im Welt- und Lebenslaufe zu nähern." Doch dieser Harmonisierungsversuch Goethes könnte zu kurz greifen. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds, Jens Gnisa, erkennt 2016 eine Schwächung der Autorität des Rechts, weil sich die Gesellschaft über das Recht hinwegsetze und an "eigenen Wert- und Moralvorstellungen" orientiere. Juristen schrecken schon aus beruflichen Gründen vor der Remoralisierung des Rechts zurück.

Moral im Gerichtssaal ist eher ein inszenatorisches Instrument, das sich in den Grenzen des Rechts zu bewegen hat. Ausdrücklich hat Otfried Höffe Recht und Moral so in das Verhältnis gesetzt, dass höhere Stufen des Rechtssinns erst durch die Moral möglich werden. Dem schlichten Verfassungspatriotismus folge die "Verfassungsmoralität", dem autoritätsgläubigen Rechtssinn ein aufgeklärter Rechtssinn, der auf den Ernstfall einer moralischen Kritik des Rechts verweist.

In rechtlich zulässigen Fällen wie der Verlagerung von Unternehmen in Niedriglohnländer mit niedrigen Steuersätzen drängt sich die Frage auf, ob jederzeit moralisch akzeptabel ist, was rechtmäßig ist. Das Landgericht Dortmund gewährte pakistanischen Klägern Prozesskostenhilfe, die wegen eines todbringenden Brandes in einer pakistanischen Textilfabrik gegen das Textilunternehmen KiK auf Schmerzensgeld klagten. Die Moral verwandelt sich an dieser Stelle zur Forderung einer transnationalen Rechts- und Wirtschaftsordnung. Jenseits dieser Position, die auf eine föderative Staatengemeinschaft oder gar eine Weltrepublik hoffen mag, wird der moralische Druck auf das Recht durch hiesiges Käuferverhalten oder die systematisierte Kritik von Nichtregierungsorganisationen wie etwa der "Clean Clothes Campaign" notwendig. "Unsere immer normloser, egozentrischer werdende, von Habsucht, Partikularinteressen, kaltschnäuzigem Machtstreben beherrschte Gesellschaft muss den moralischen Stimmen all der Traditions- und Solidargemeinschaften Amerikas Gehör schenken."4 Aber wie kristallisieren sich aus einer solchen Vielzahl der Moralen verbindliche Regeln, die alle akzeptieren?

Inzest zwischen Recht und Moral

Anfang 2008 bestätigt das Bundesverfassungsgericht, dass Inzest strafbar bleibt. Hintergrund war eine Beziehung von Bruder und Schwester, aus der vier Kinder hervorgingen. Gegen die Verhängung der Haftstrafe wandte der Bruder ein, sein Grundrecht der sexuellen Selbstbestimmung sowie das Diskriminierungsverbot seien verletzt und eine Freiheitsstrafe sei unverhältnismäßig. Das Bundesverfassungsgericht5 erkannte dagegen im Inzestverbot keinen dem Gesetzgeber von vornherein verwehrten Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung.

Der Beischlaf zwischen Geschwistern betrifft nicht ausschließlich diese selbst, sondern kann in die Familie und die Gesellschaft hinein wirken und außerdem Folgen für aus der Verbindung hervorgehende Kinder haben. Da das strafrechtliche Inzestverbot nur ein eng umgrenztes Verhalten zum Gegenstand hat und die Möglichkeiten intimer Kommunikation nur punktuell verkürzt, werden die Betroffenen auch nicht in eine mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbare ausweglose Lage versetzt…Der Gesetzgeber hat seinen Entscheidungsspielraum nicht überschritten, indem er die Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden Wirkungen des Inzests, den Schutz der in einer Inzestbeziehung "unterlegenen" Partner sowie ergänzend die Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen als ausreichend erachtet hat, das in der Gesellschaft verankerte Inzesttabu weiterhin strafrechtlich zu sanktionieren.

Dem Bundesverfassungsgericht weiß, dass es sich in Grenzbereichen des Rechts bewegt und dieses Gelände ist moralisch vermint. Wenn die Gründe schwächer werden, kompensieren das Juristen nicht selten durch einen fundamentalistischen Duktus. Das Inzesttabu wird multifunktional weitläufig abgesichert:

Dass der Gesetzgeber damit die Grenzen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums überschritten haben könnte, ist nicht ersichtlich. Dabei kann offen bleiben, ob die Unterscheidung zwischen Strafnormen, die allein in Moralvorstellungen gründen, und solchen, die dem Rechtsgüterschutz dienen…, tragfähig ist und ob bejahendenfalls Strafnormen der ersteren Art verfassungsrechtlich zu beanstanden wären. Denn eine derartige Konstellation liegt hier nicht vor. Vielmehr rechtfertigt sich die angegriffene Strafnorm in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzestes, wie sie auch im internationalen Vergleich festzustellen ist. Als Instrument zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere der Familie erfüllt die Strafnorm - auch durch ihre Ausstrahlungswirkungen über den tatbestandlich eng umgrenzten strafbewehrten Bereich hinaus - eine appellative, normstabilisierende und damit generalpräventive Funktion, die die Wertsetzungen des Gesetzgebers verdeutlicht und damit zu ihrem Erhalt beiträgt.

Der Verfassungsrichter Winfried Hassemer trug die Entscheidung nicht mit:

Die Norm steht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der gerade dem Strafgesetzgeber Grenzen zieht, nicht in Einklang; eine so verunglückte Strafdrohung passieren zu lassen, segnet schwere Fehler und Versäumnisse des Gesetzgebers verfassungsrechtlich ab und überdehnt den legislativen Spielraum im Strafrecht auf Kosten der Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts.

Weder eine nebulose kulturhistorisch begründete, wirkkräftige gesellschaftliche Überzeugung (sollte sie sich wirklich auf eine Strafwürdigkeit des Inzests beziehen und nicht bloß auf seine soziale Ächtung) noch eine (im Übrigen lückenhafte und vielfach divergente) Strafbarkeit im internationalen Vergleich sind imstande, eine Strafnorm verfassungsrechtlich zu legitimieren.

Es ist ein Alarmzeichen, dass Richter auf diesem Entscheidungsniveau, das nicht mehr trennscharf von Gesetzgebung zu unterscheiden ist, einen fundamentalen Dissens produzieren. Wenn hohe und höchste Rechtsgüter alles andere als klar konturierbare Kategorien sind, werden Normierungen vage und Verfassungsaussagen zum fragilen Auslegungsobjekt. Eine Moral, die sich auf kulturgeschichtlich gewachsene Standards beruft, genießt nicht den besten Ruf. Wer hier moralisch argumentiert, läuft in einem anderen Wertsystem Gefahr, als unmoralisch zu gelten. Moral wird seit den wildern 68ern mit unhinterfragten, autoritär verordneten Regeln gleichgesetzt, von denen sich eine kritische Generation nicht länger tyrannisieren lassen wollte. Darin erwiesen sich die Protagonisten einer besseren Gesellschaft zugleich selbst als Hypermoralisten. Die Attraktivität der moralisch verordneten Unmoral ist indes nicht von der APO erfunden worden:

Das große Gemälde, auf dem alle Tugenden und Laster versammelt mit beigeschriebenen Namen, verlor merklich von der Moral, denn schon schwammen die Tugenden unkenntlich hoch im grauen Nebel, und die Laster, gar wunderschöne Frauen in bunten schimmernden Kleidern, traten recht verführerisch hervor und wollten dich verlocken mit süßem Gelispel.

Die Kontamination des Rechts mit der Moral, die hier bei E.T.A. Hoffmann als Sittlichkeit firmiert, hat im Bereich des Sexualstrafrechts seit je eigenartige Blüten getrieben: "Nimmt der Täter eine unzüchtige Handlung an sich selber vor (Onanieren) und berührt er dabei und im Zusammenhang damit bewusst den Körper eines anderen Mannes, wenn auch nur an der Kleidung, so treibt er Unzucht "mit" diesem. Zum inneren Tatbestand gehört aber, dass sich der Täter dabei der inneren Beziehung seines Unzuchttreibens zu dem Körper des anderen Mannes bewusst ist."6 Zungenküsse aus Sinnenlust müssen keine unzüchtigen Handlungen im Sinne von StGB § 176 Abs 1 Nr. 1 zu sein.7 Bei solchen sinnlichen Feinheiten mit schwerwiegenden juristischen Folgen regiert die Not, wenigstens das Gesetz in den Griff zu kriegen, wenn die sinnlichen Verhältnisse kategorial so sperrig sind. Ein Scholastiker müsste sein, wer die Qualität von Zungenküssen aus Sinnenlust im Blick auf ihr rechtserhebliches Unzuchtpotential präzise anzugeben vermag. Doch von solchen Fragen hing damals die Entscheidung langjähriger Freiheitsstrafen ab. Die Ausdifferenzierung des Rechtssystems vollzog sich gerade im Sexualstrafrecht über Regelungen, die heute als menschenverachtend angesehen werden.

Der kategorische Imperativ nach der - zumindest mentalitätsgeschichtlich - kopernikanischen Wende "1968" lautete, dass nur Maximen gelten sollten, die sich jenseits einer Autorität, die sich aus ihrer tradierten Existenz rechtfertigt, als richtig erweisen. Diese Polarisierung war als Normbefehl schon deshalb paradox, weil genauer zu formulieren gewesen wäre, dass eine Autorität gegen eine neue ausgetauscht wird. Der feministische Aktionsrat zur Befreiung der Frauen formulierte bereits 1968 folgerichtig den Widerstand gegen antiautoritäre Autoritäten, die längst den Herrschaftsgestus der zu überwindenden Autoritäten übernommen hatten: "Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!"

Von Germaine Greer und Andrea Dworkin über Judith Butler und Alice Schwarzer bis Laurie Penny und Pussy Riot ist der Feminismus ein Antidiskriminierungsprogramm, das weit über Fragen der "Gleichberechtigung" der Geschlechter hinausgeht. Laurie Pennys "Unsagbare Dinge" lernen schnell so zu sprechen, dass Gender- und Ideologiekritik sich in der politischen Aktion verbünden, wie es der Untertitel ihres Erfolgsbuchs belegt: "Sex, Lies and Revolution". Diese politische Agenda ist nicht neu. Pennys Rekurs auf die Natürlichkeit, weg vom kapitalistisch verdorbenen Fleisch, formuliert, was seit den 1970er Jahren massiv gefordert und politisch agitatorisch, teilweise mit originellen Eingriffen in den öffentlichen Raum verbunden wurde.

Der Anarchafeminismus hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert. Dieser Feminismus wollte weit mehr als der partikularistische Kampf gegen die Unterdrückung der Frau sein, sondern universal alle Herrschaftsformen, ob rassistische, klassenorientierte oder klassisch staatliche, bekämpfen. Eine frühe Vorkämpferin dieser Idee, Voltairine de Cleyre (1866 - 1912), beschreibt ihr rebellisches Erweckungserlebnis als juristische Erleuchtung. Am 01.05.1886 begann die Haymarket-Demonstration ("Haymarket Riot"), die sich auf die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden richtete. Am 04.05.1886 kam es zu einer Bombenexplosion und mehreren Toten. Im anschließenden Prozess wurden acht Streikveranstalter angeklagt, denen kein Zusammenhang zu dem Bombenattentat nachweisbar war. Vier der Angeklagten wurden gleichwohl zum Tod durch den Strang verurteilt.

Es war eine Lehrstunde einer Schuldansteckungstheorie, die schon viele Strafurteile beseelt hat: Da die Bombe nur die logische Konsequenz der Ideen der Streikverantwortlichen sei, seien sie auch für diese Folge haftbar zu machen. Voltairine de Cleyre verlor den Glauben an die Gerechtigkeit dieser Gesellschaft. Bisher hätte sie an das amerikanische Justizsystem der Geschworenengerichte geglaubt, danach habe sie das nicht mehr gekonnt. Der Rest ist Geschichte, der 1. Mai eine ewige Erinnerung an dieses prägende Ereignis der Arbeiterbewegung. Die Geschichte der Gerechtigkeit ist die Geschichte von Versprechen - von denen nicht wenige weiterhin auf ihre Einlösung warten. Immerhin mag man aus dieser Geschichte lernen: Krasse Fehlurteile fördern die moralische Selbsterziehung, um daraus eine politische Agenda zu gewinnen.

Kapitel 3: Minima Moralia