Erotik im Islam: "Wir brauchen mehr Differenzierung"

Rumi zeigt seine Liebe seinem Schüler Hussam al-Din Chelebi. Jalal_al-Din_Rumi,_Showing_His_Love_for_His_Young_Disciple_Hussam_al-Din_Chelebi.jpg:Bild: gemeinfrei

Der Islamwissenschaftler Ali Ghandour im Telepolis-Gespräch über das unterdrückte erotische Erbe der Muslime

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Kopftuch, Unterdrückung, Homophobie, Scharia - nur ein paar der polarisierenden Begriffe, mit denen die Muslime im medialen Diskurs vereinnahmt werden. Wie so oft ist die Realität wesentlich komplexer. Der Islamwissenschaftler Dr. Ali Ghandour hat mit "Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime" ein kenntnisreiches Buch vorgelegt, das mit zahlreichen Vorurteilen aufräumt und dazu anregt, einen genaueren Blick auf Geschichte und Ursache heutiger Diskurse zu werfen.

Wenn man die alten persischen und arabischen Dichter liest, findet man unzählige homoerotische Verse - heute ist die Homosexualität in den meisten islamisch geprägten Ländern tabuisiert. Wie kam es dazu?

Ali Ghandour: Unsere heutige Vorstellung von Homosexualität gab es in der Vormoderne nicht. Als Mann die Schönheit eines Mannes zu bewundern oder sich in ihn zu verlieben, war etwas Normales. Heftig diskutiert war allein der Analverkehr unter Männern.

So geht es auch aus dem Koran hervor - nicht Homosexualität steht dort zur Debatte, sondern der Analverkehr...

Ali Ghandour: Richtig. Und hier spielten auch kulturelle Einflüsse eine Rolle. Die Diskussion um den Analverkehr kam nicht erst mit den Muslimen, es gab sie schon vorher unter orthodoxen Christen, Juden, Persern. Die muslimische Normenlehre hat viele zu der Zeit bereits existierende Normenvorstellungen übernommen.

Aber zurück zur Frage, wie es dazu kam, dass man heute nicht mehr frei ein Gedicht über die Liebe zu einem Mann schreiben kann. Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Zum einen die Entstehung des Nationalstaates, der einige zuvor unbekannte Phänomene mit sich brachte, darunter die Vorstellung, dass die Erziehung der Bürger Hand in Hand geht mit dem Grad der Zivilisation. Es wurden viele Vorstellungen von den Kolonialmächten übernommen. Die meisten Gesetze, die Homosexualität sanktionieren, stammen aus der Kolonialzeit. In Indien zum Beispiel wurden diese Gesetze erst im vergangenen Jahr abgeschafft.

Ein weiterer Grund war die Reaktion auf den Kolonialismus beziehungsweise auf durch ihn in Gang gesetzte Prozesse. Es entstanden Ideologien. Plötzlich war der Islam nicht mehr nur eine Religion, sondern auch ein Gegen-Narrativ, eine Antithese zum Kolonialismus - oder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Kommunismus. Die Entstehung der Ideologie, die später Islamismus genannt wurde, hat auch dazu geführt, dass sich ziemlich strenge und konservative Vorstellungen zur Sexualität etabliert haben, weil die Islamisten ironischerweise die sehr viktorianische Vorstellung, dass Sex und Zivilisation miteinander verknüpft sind, übernommen haben. Später hat sich das Bild dann umgekehrt. Während früher die muslimische Welt als sexuell wild und ungezügelt galt, wird genau das heute dem Westen von den Islamisten vorgeworfen.

"In Teilen wurde die europäische Sexualmoral übernommen"

Generell scheint es, dass der Umgang mit Sexualität im islamischen Raum über Jahrhunderte ungezwungener war als im christlich geprägten Westen. Ist die Prüderie also ein reiner Kolonialimport?

Ali Ghandour: Teilweise. Konservative Vorstellungen gab es immer in der muslimischen Welt. Das Besondere war, dass mehrere Diskurse gleichzeitig existieren konnten. Es gab Kalifen, die Beziehungen zu Männern hatten, Gelehrte verfassten homoerotische Schriften, andere schrieben Sexualhandbücher, Prostitution war besteuert, aber kein Problem. All das existierte neben einem religiösen Diskurs, neben Moscheen und Sufi-Bruderschaften.

Mit der Ankunft der Kolonialmächte ging der freie Diskurs unter. Die Muslime selbst begannen, diese Aspekte ihrer Zivilisation zu verleugnen, weil die Kolonialmächte es als rückständig ansahen. Dazu wurde in Teilen die europäische Sexualmoral übernommen. Und dort war eben nicht nur der Analverkehr verpönt, sondern auch die Liebe unter Männern.

"Das unterdrückte erotische Erbe" lautet der Untertitel Ihres Buches. Setzen sich die Muslime heute zu wenig mit ihrer eigenen Geschichte auseinander?

Ali Ghandour: Ich würde sogar sagen, dass heute die meisten Muslime von diesem Kapitel ihrer Geschichte keine Ahnung mehr haben. Ein Beispiel: Es gibt einen Gelehrten aus dem 15. Jahrhundert, dessen Korankommentar heute in fast jeder Moschee zu finden ist. Dass derselbe Gelehrte etwa fünfzehn weitere Werke nur über Sex und Erotik verfasst hat, wissen die wenigsten Muslime.

Wie viel von dem, was heute allgemein dem Islam zugeschrieben wird, ist eigentlich vorislamische Tradition?

Ali Ghandour: Die meisten Normen, die von Muslimen als "islamisch" betrachtet werden, findet man schon in vorislamischen Kulturen, Zivilisationen und Religionen. Die muslimische Normenlehre hat all das gar nicht stark verändert.

"Die prüdeste und strengste Tradition damals war die christlich-orthodoxe"

Bedeutete denn das Aufkommen des Islam eher Radikalisierung oder eher Reformierung?

Ali Ghandour: Ich würde schon die vorislamische arabische Gesellschaft nicht als radikal bezeichnen. In Bezug auf Sexualität ging es sogar sehr offen zu, es waren viele Formen von Beziehungen bekannt, die später verboten wurden. Es gab lesbische Beziehungen, es gab Polygamie für Frauen - also Frauen, die mehrere Männer hatten -, es gab Arten von offenen Beziehungen, wenn auch anders als heute. Die prüdeste und strengste Tradition damals war die christlich-orthodoxe. Die muslimische Normenlehre sehe ich irgendwo zwischen der extremen Freiheit der Polytheisten und der starken Prüderie der orthodoxen Christen.

Die Scharia, als Teil der Normenlehre, wird immer wieder als Schreckgespenst drakonischer Strafen gezeichnet. Doch wenn man sich beispielsweise die Voraussetzungen für die Verhängung der Todesstrafe bei Ehebruch ansieht, bekommt man den Eindruck, dass solche Strafen eher symbolischen Charakter haben und nie verhängt werden sollten ...

Ali Ghandour: Auf jeden Fall. Die Todesstrafe für Ehebruch wurde fast nie praktiziert. Es ist so: Wer einen anderen wegen Ehebruch anklagte, musste vier Zeugen benennen können. Und das ist so gut wie unmöglich. Wer die Anklage erhob, ohne vier Zeugen zu haben, riskierte, selbst wegen Verleumdung angeklagt zu werden. In der gesamten muslimischen Geschichte gibt es gerade mal zwei oder drei Fälle, in denen die Todesstrafe verhängt wurde - und bei einem Fall wurde der Richter selbst bestraft, indem er entlassen wurde.

Das änderte sich dann ebenfalls mit dem Aufkommen der Nationalstaaten. Da wurden diese Normen von einer theoretischen auf eine praktische Ebene gebracht und massenhaft umgesetzt. Der Staat wollte sich damit zum wahren Behüter der Ordnung machen und dem Volk Handelsbereitschaft demonstrieren. Denken wir an Länder wie Saudi-Arabien, Iran oder Sudan. Theoretische Normen wurden zu einem Machtmittel, wurden politisiert.

Aber es gab auch schon im 16. Jahrhundert Reformen, so wurden beispielsweise Geld- und Gefängnisstrafen eingeführt. Ein anderes Beispiel ist die Todesstrafe wegen Apostasie. Auch diese wurde fast nie aus rein religiösen Gründen angewendet. Aber es kam vor, dass sie missbraucht wurde, um politische Gegner oder Kritiker loszuwerden, denen man den Abfall vom Glauben vorwarf. Das kennt man ja auch aus dem europäischen Mittelalter.

Hinter der verallgemeinernden Formel "der Islam" verbirgt sich ein komplexes, heterogenes Gebilde. Weshalb aber kommen die mitunter höchst kritischen innerislamischen Debatten auch über die Auslegung von Glaubenselementen kaum in den hiesigen Debatten über den Islam an?

Ali Ghandour: Die Muslime selbst haben diese vereinfachende Sprache übernommen, reden pauschal von "dem Islam". Ein Rechtsgelehrter hingegen wird in einem Werk über die Normenlehre niemals schreiben: "Im Islam ist es so...". Sondern er wird schreiben: "Ich sehe es so...". Und das ist ein wesentlicher Unterschied.

Die Haltung eines Menschen, der auch Fehler machen und sich irren kann, darf man kritisieren oder ablehnen. Wer sagt: "Im Islam ist es so..." kann diese Formulierung missbrauchen, er behauptet, nicht seine, sondern die Position des Islam zu vertreten. Dagegen kommt man dann argumentativ kaum an. Man folgt dann dem, was einem als Islam verkauft wird, letztlich aber nur die Position von Menschen ist. Da findet Ideologisierung statt, wenn man Ideen von den Subjekten und ihren historischen und gesellschaftlichen Kontexten trennt. Und diese Sprache haben die Nichtmuslime in Europa übernommen.

Was müsste sich ändern?

Ali Ghandour: Ich glaube, es ist wichtig, mehr über einzelne Personen, Strömungen, Positionen zu sprechen, weil ansonsten zu viele Nuancen, die wichtig sind, um die Dinge zu verstehen, ausgeblendet werden. Das gilt für jedes Thema, seien es Frauenrechte, Politik, Demokratie - es gibt zu keinem dieser Themen eine dezidiert "islamische" Position, sondern nur dutzende Positionen unter den Muslimen. Wir brauchen mehr Differenzierung.

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