Umweltzerstörung in der Osttürkei

Im Schatten der offiziellen Medien: Aufstandsbekämpfung und Vertreibung mit Waldbränden

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Die Umweltproteste in der Westtürkei richten sich gegen Prestigeprojekte, Goldminen und Bergbauprojekte. Im Südosten und Osten der Türkei hat die Umweltzerstörung dagegen auch eine politische Funktion. Sie dient der "Aufstandsbekämpfung", so die offizielle Sprachregelung der türkischen Regierung. Ein aktuelles Beispiel ist die bevorstehende Flutung von Hasankeyf. Denn die Stauseen und Staudämme sollen der PKK in den Bergen die Wege abschneiden.

Lange wurden diese Umweltzerstörungen von den Umweltverbänden in der Westtürkei nicht beachtet, aber allmählich setzt ein Umdenken ein. Ein Beispiel sind die Protestcamps im Ida-Gebirge in der Westtürkei. Täglich strömen immer mehr Menschen aus der ganzen Türkei in die Camps. Die Umweltaktivisten geben den Zeltdörfern die Namen von Orten der Umweltzerstörung: Hasankeyf, Munzur, ODTÜ, Fatsa, Alakır, Salda, Cerattepe und Nordwald.

Zusammenhänge, die in den offiziellen Medien nicht auftauchen

Dass die interessierte Öffentlichkeit von den Zuständen in der Osttürkei Kenntnis erhält, ist letztendlich den Sozialen Medien zu verdanken, die Informationen und Zusammenhänge verbreiten, welche in den regierungsnahen türkischen Medien nicht auftauchen. Da es faktisch kaum noch oppositionelle Medien in der Türkei gibt, spielen die Onlinemedien eine immer größere Rolle.

So dringen unliebsame Informationen auch nach Europa. Mittlerweile bedienen sich auch die deutschen Printmedien dieser oppositionellen Nachrichtenagenturen, Onlinezeitungen oder Twittermeldungen. Die türkische Regierung versucht vergeblich durch Verbote, Sperrungen oder Diffamierung als "Terrorpropaganda" dagegen anzugehen.

Waldbrände vertreiben die Landbevölkerung im Südosten

Während die Waldbrände im Westen der Türkei hauptsächlich wegen Bodenschätzen, dem Aufbau von Touristenzentren, oder um Investitions- und Bauland zu schaffen, gelegt werden, dienen die Waldbrände in den kurdischen Gebieten vor allem der 'Aufstandbekämpfung' und Vertreibung der Landbevölkerung.

Im Juli brachen im Tur Abdin, einem der ältesten christlichen Siedlungsgebiete (z.T. aus dem vierten Jahrhundert) und Kernland der syrisch-orthodoxen Kirche, mehrere Brände aus. Von den Bränden waren auch etliche Klöster z.B. das Kloster Dayro d-Mor Hananyo im Kreis Artuklu betroffen: Hunderte Olivenbäume, Dutzende Granatapfelbäume, Feigenbäume, Mandelbäume sowie die Bewässerungsanlage der Olivenplantage wurde zerstört.

Ebenfalls im Tur Abdin, in der Provinz Mardin, im Umland der Kreisstadt Savur (kurd.: Stewrê) finden seit längerer Zeit Militäroperationen statt. Für die Bevölkerung bedeutet das Ausgangssperren, massive Militärpräsenz, Schikanen durch das Militär, Personenkontrollen, willkürliche Verhaftungen. Die Nerven der überwiegend kurdischen Bevölkerung liegen blank. Die erneute Absetzung der im März gewählten HDP-Bürgermeister von Mardin, Diyarbakir und Van befeuern die angespannte Atmosphäre zusätzlich.

Am 22. August soll es zu Schusswechseln mit dem Militär gekommen sein, woraufhin das Militär das Gebiet in Brand setzte. Durch die extreme Hitze und Trockenheit breitete sich das Feuer in der Nacht auf die Dörfer Taşlık, Yazır, Sürgücü und Soylu aus. In Taşlık und Yazır verhinderte die Armee zudem noch die Löschung der Brände. Das Niederbrennen der Dörfer ist ein nützlicher Nebeneffekt. Wenn die Bevölkerung keine Felder, Tiere und Häuser mehr hat, ist sie gezwungen, in die Städte zu migrieren.

Dort ist der soziale Zusammenhalt geringer und es ist einfacher, die Menschen zu assimilieren. Ist die Zivilbevölkerung erst einmal vertrieben, ist es für das Militär leichter, die Guerilla ausfindig zu machen, so die Logik der Militärs. Allein - bis heute ist das nicht gelungen.

Die Politik der Brandlegung gab es schon 1925 gegen den Şêx-Saîd-Aufstand, 1937 beim Dersim-Massaker an den alevitischen Kurden und in der Zeit von Mitte der 1980er bis in die 1990er Jahre, als das türkische Militär in den kurdischen Gebieten 5000 Dörfer niederbrannte.

Der berühmte Buchautor Yasar Kemal berichtete 1995 im Spiegel über diese Praxis der Militärs im Osten der Türkei und die Verlogenheit der türkischen Regierung:

Nach Presseberichten sind in den letzten zehn Jahren in der Türkei zwölf Millionen Hektar Wald verbrannt, davon allein in Ostanatolien zehn Millionen Hektar. Es ist unglaublich, daß ein Staat seine Wälder verbrennt, weil sie der Guerilla als Schlupfwinkel dienen.

Yasar Kemal

Yasar Kemal würde sich im Grabe umdrehen, wüsste er, dass sich die Geschichte zur Zeit wiederholt. Dabei war das nicht immer so.

"Die Türkei wird von jetzt an offen über alles sprechen!"

Mitte der 1990er Jahre fuhr Erdogan vordergründig einen sehr liberalen Kurs, wohl auch, um den Westen wegen des gewünschten EU-Beitritts zu bedienen. Schier unglaublich, wenn man heute die Meldungen von 2009 liest: Erdogans selbstkritische Frage zur Minderheitenpolitik war:

Was haben wir angerichtet…Wir hätten das Problem weiterhin ignorieren können und kein Risiko eingehen müssen. Doch dann hätten wir voller Scham vor unserer Geschichte und unserer Nation gestanden. Die Türkei wird von jetzt an offen über alles sprechen und diskutieren!"

Tayip Erdogan

Heute wissen wir, dass das nur Show war, um in Europa mitspielen zu dürfen. Konservative wie grüne Politikerinnen wie z.B. Claudia Roth, Cem Özdemir, oder Omid Nouripour nahmen seine Äußerungen für bare Münze. Erdogan wurde als der Reformer gefeiert, die bundesdeutsche Industrie freute sich auf Aufträge. Es folgten ruhige Jahre, in denen sich deutsche Firmen ihre Pfründe in der Türkei sichern konnten. Die Türkei wurde Deutschlands beliebtestes Urlaubsland.

Mit dem Beginn des Syrienkrieges und den Erfolgen der kurdischen Militäreinheiten YPG und YPJ gegen den IS änderte Erdogan seine Haltung. 2014 nahm er seinen Feldzug gegen die Kurden wieder auf. Seit 2015 brennen in den kurdischen Gebieten jeden Sommer die Wälder - in Brand gesetzt durch Helikopter und Artilleriefeuer.

Während die Welt mit Entsetzen auf den brennenden Amazonas-Regenwald schaute und über die Waldbrände in Griechenland, Kalifornien, Schweden oder Deutschland berichtet wurde, schaute sie nicht auf die ökologische Katastrophe, die sich im Osten der Türkei abspielte, wo durch die riesigen Brände ebenfalls große Mengen an CO2 in die Atmosphäre geblasen wurden.

In den Jahren 2015 bis 2017 sind in den kurdischen Gebieten jährlich zehntausende Hektar Wald zerstört worden, 2018 sollen es über 15.000 Hektar gewesen sein. In der Provinz Dersim ist ca. ein Viertel bis zu einem Drittel der Wälder betroffen. Es grenzt an ein Wunder der Natur, dass die Eichenbäume (türk.: Mazi, kurd: Mêşe) in den Bergen im Gegensatz zu den Nadelwäldern der Mittelmeer- oder Ägäisküste sehr hitzeresistent sind und sehr langsam brennen. Sonst wären sie bei den ständigen Bränden für immer verschwunden.

Die Wälder der kurdischen Gebiete gehören zu den wenigen verbliebenen Wäldern des Mittleren Ostens und sind daher ökologisch sehr wertvoll. Denn außer an den türkischen Küsten, im Iran am Kaspischen Meer und auf dem syrischen Küstenstreifen von Latakia bis zum Libanon, ist quasi kein Wald mehr erhalten. Ercan Ayboga, Umweltingenieur und Umweltaktivist kommentiert das internationale Schweigen:

Zweifellos sind die Berichte… der kurdischen Medien… nicht angepasst an die internationale Kommunikationsnorm und Wortwahl… Doch dürfte das nicht als Grund aufgeführt werden. Interessierte und sensible Kreise sollte das nicht stören. Sonst wäre es nämlich arrogant und eurozentristisch. Es gibt eine Reihe von Kampagnen für meist tropische Wälder in aller Welt, ohne dass von dort die internationale Öffentlichkeit stark angesprochen wurde. In Nordkurdistan (kurdische Gebiete in der Türkei, Anm. d. Verf.) gibt es - wie oben geschildert - seit Jahren einen Widerstand gegen diese Waldbrände, der jedoch staatlich unterdrückt wird. Sind es nicht vielmehr die Vorurteile der bürgerlichen Öffentlichkeit und der großen und zumeist liberalen Umweltorganisationen gegenüber den Kurden und der kurdischen Freiheitsbewegung? Bestärkt nicht auch Unwissenheit über Kurdistan und den Mittleren Osten, die als »gefährlich, extrem, gewaltvoll und undurchsichtig« eingeordnet werden, diese Haltung?

Ercan Ayboga, Umweltingenieur

Plünderung der Natur durch Zwangsverwalter

Die türkische Regierung erklärte kürzlich die 60 km von Dersim entfernten Munzur-Berge zum Bergbaugebiet. Schon jetzt gibt es in der Region um Dersim 145 Bergbauprojekte. Die Region im oberen Euphrat-Tal gilt als reich an unterschiedlichsten Rohstoffen. Die Munzur-Berge und das Tal des Munzur, eines Quellflusses des Euphrats waren einst ein beliebtes Touristengebiet für Wanderungen in dieser vielfältigen Naturlandschaft.

Das Wasser dieser Region gilt als eines der reinsten der Türkei. Umweltaktivisten setzen sich dafür ein, diese Naturlandschaft zu erhalten. Werden die Munzur-Berge zum Bergbaugebiet, wird ein weiteres schützenswertes Gebiet zerstört.

In der kurdischen Provinz Van (kurd. Wan) versiegen die Süßwasserquellen durch Umweltzerstörung und Raubbau. Eigentlich ist die Provinz Van eine wasserreiche Gegend. Da gibt es den großen Van-See, die Muradiye-Wasserfälle und die Flüsse von Bahçesaray und Çatak. Seit einigen Jahren reicht jedoch die Wasserversorgung in der Region nicht mehr aus. Wegen der durch die Waldbrände zerstörten Landwirtschaft ziehen immer mehr Menschen in die Stadt Van.

Aufwändig zu bewässernde Agrarflächen der Großgrundbesitzer führen dazu, dass die Grundwasserquellen verschmutzen und die Stadt immer mehr Engpässe in der Wasserversorgung hat. Der Umweltaktivist Ali Kalçik von der Umweltinitiative ÇEV- Der berichtet über das Fisch-Sterben im Van-See, weil die 1,2-Millionenstadt Van und sechs weitere Landkreise ihre Industrie- und Haushaltsabwässer ungeklärt in den See leiteten. Das Röhricht am Ufer des Sees, das den Fischen als Laichgebiet diente, wurde entfernt und die Ufer für die Bevölkerung unzugänglich gemacht.

Mit der Vernichtung des Schilfs und der Einleitung der Abwässer ging ein Vogelsterben in den Feuchtgebieten einher. 232 verschiedene Vogelarten, unter anderem auch Flamingos, sollen nach Angaben der Umweltschützer dort ihre Heimat und Jagdrevier haben. Nun sind diese Arten in ihrer Existenz bedroht. Seher Kadiroğlu Ataş, Sprecherin des Ökologierats Mesopotamiens sieht keine andere Möglichkeit als die Reinigung des Sees, um das Vogelsterben zu beenden. Denn der Van-See ist kein gewöhnlicher Süßwassersee. Er ist der weltgrößte Soda-See und mit seinem geschlossenen System sehr empfindlich.

All diese Folgen haben die von Erdogan eingesetzten Zwangsverwalter der Städte Edremit und Van zu verantworten. Als im März dieses Jahres die HDP wieder die Bürgermeisterwahlen gewann und in Van erneut den Bürgermeister stellte, hoffte die Bevölkerung auf Renaturierung der Van-Seeufer. Ende August wurde der gewählte Bürgermeister jedoch erneut durch einen Zwangsverwalter ersetzt. Seitdem gibt es täglich Auseinandersetzungen mit der Polizei, die jeden Protest zu unterdrücken versucht.

Die Plünderung der Natur durch die Zwangsverwalter treibt besorgniserregende Blüten. So teilte im Sommer 2018 der Zwangsverwalter von Van mit, den 80 km entfernten Muradiye-Wasserfall verkaufen zu wollen. Eine Privatfirma solle die Wasserrechte für 49 Jahre erhalten. Diese will dem Wasserfall ein "modernes Aussehen" in Form einer Betonierung der Umgebung zu geben und dafür dann Eintritt verlangen.