"Düstere Türkei"- Rapper gegen Erdogan

Foto: Screenshot Video #Susamam

Urteile wegen "Terrorpropaganda", Korruption und die Absetzung gewählter Bürgermeister. Ein millionenfach aufgerufenes Video appelliert daran, "den Mund aufzumachen"

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Das Goethe-Zitat: "Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht", gewinnt in der Türkei immer mehr an Bedeutung. Ein Rapper-Video sorgte an diesem Wochenende für Furore in der Türkei. 18 türkische Rapper produzierten das Video "Susamam" - "Ich kann nicht schweigen", in dem es um Gewalt gegen Frauen, Umweltzerstörung, Zensur und Staatsterror geht.

Am vergangenen Freitagabend wurde das Video auf YouTube veröffentlicht, am Montagmorgen verzeichnet es über 15 Millionen Aufrufe. Das Video scheint ins Schwarze getroffen zu haben. Viele Bürger und Bürgerinnen sind extrem unzufrieden mit der türkischen Regierung und dem autokratischen Führungsstil von Erdogan. Der türkische Rechnungshof bestätigt die Korruptionsvorwürfe der Opposition durch die Veröffentlichung einer Liste über den staatlichen Autofuhrpark in Istanbul, deren Fahrzeuge unverhältnismäßig viel Diesel verbraucht haben sollen.

Zuletzt sorgte die Verurteilung der Istanbuler CHP-Politikerin Can Kaftancioglu zu fast zehn Jahren Haft für Empörung. Im Osten der Türkei weitet sich der Widerstand gegen die erneute Einsetzung von Zwangsverwaltern aus, nachdem bekannt wurde, dass weitere HDP-Bürgermeister abgesetzt werden sollen.

"Ich kann nicht schweigen"

Der erwähnte Clip, den der bekannte Rapper Saniser zusammenstellte, zeigt Delphine, die sich in Plastiktüten verfangen, brennende Wälder, Tierquälerei, Verkehrschaos, ein Gespräch in einer Gefängniszelle, misshandelte Frauen, prügelnde Polizisten und korrupte Politiker. Das Video führt eine düstere Türkei vor Augen; eine Türkei, die Erdogan gerne von den Hofmedien ausblenden lässt. "Ich kann nicht schweigen", ist der Aufschrei von 18 Rappern, die aufrütteln wollen.

175.724 Kommentare gab es bislang dazu. "Türkische Rapper rechnen mit System Erdogan ab", schreibt die in der Türkei akkreditierte Tagesspiegeljournalistin Susanne Güsten. Der Clip ist ein Appell an die Bevölkerung der Türkei, Verantwortung für die Zustände in ihrem Land zu übernehmen, den Mund aufzumachen.

"Die Gerechtigkeit ist tot, doch ich habe geschwiegen, weil ich nicht betroffen war. Jetzt lasse ich sogar von Twitter die Finger und habe Angst vor der Polizei meines Landes." Das Schweigen hat Folgen, warnt Saniser: "Wenn sie eines Nachts kommen und dich holen, dann wirst du keinen Journalisten finden, der darüber schreibt, denn sie sitzen alle im Knast."Tagesspiegel

Journalisten und Politiker von Haft bedroht

Noch immer sind Journalisten in der Türkei von Verhaftungen bedroht, kaum jemand traut sich noch, Missstände und Menschenrechtsverletzungen offen anzusprechen. Ihre Kritik an den Zuständen in der Türkei wurde auch der CHP-Politikerin Canan Kaftancioglu zum Verhängnis. Wegen regimekritischer Tweets und Äußerungen in den Jahren 2012 - 2017 wurde sie am vergangenen Freitag zu neun Jahren, acht Monaten und 20 Tagen Gefängnis wegen "Terrorpropaganda" verurteilt.

Kaftancioglu hatte einen Tweet zum Tod eines 14-jährigen Jungen veröffentlicht, "der während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 von einem Tränengaskanister der Polizei am Kopf getroffen worden war. In einem anderen Tweet hatte sie einen Vertreter der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zitiert".

Oppositionspolitiker sehen darin einen Rachefeldzug Erdogans für den Sieg des CHP-Bürgermeisters Ekrem Imamoglu in Istanbul. Hatte nicht einst Erdogan gesagt, wer Istanbul beherrsche, beherrscht bald das ganze Land? Die Korruption, die ebenfalls in dem Video zum Thema gemacht wird, soll nach den Worten des Istanbuler Bürgermeisters beendet und die Günstlingswirtschaft der AKP öffentlich gemacht werden.

Korruption

Der Istanbuler Rechnungshof veröffentlichte kürzliche eine merkwürdige Liste. Die Stadt Istanbul stellte städtischen Angestellten Fahrzeuge zur Verfügung und übernahm auch die Spritkosten, was offensichtlich ausgenutzt wird. So soll z.B. ein Ford Tournee Courier ganze 1 km gefahren sein und dafür über 42 Tonnen Diesel verbraucht haben. Ein Renault Clio verbrauchte 63 Liter auf 100 km. Der neue Bürgermeister stellte letzte Woche der Presse hunderte geleaste Fahrzeuge der Stadtverwaltung vor, auch die Tagesschau berichtete am Sonntagabend darüber.

Ekrem Imamoglu will gegen die Vetternwirtschaft der religiösen Stiftungen vorgehen. Letzte Woche strich er die von seinem AKP-Vorgänger zugesagte Unterstützung für die religiösen Stiftungen in Höhe von 357 Millionen türkischer Lira, umgerechnet etwa 55,5 Millionen Euro. Er begründete diesen Schritt mit der Verschwendung der Gelder: "Man lässt ein Haus für 164 Mill. TRY (umgerechnet ca. 25,5 Millionen Euro) aus Mitteln der Verwaltung bauen und das gehört dann einer Stiftung", so Imamoğlu.

Bei den inkriminierten Stiftungen handelt es sich u.a. anderem um Ensar Vakfı, TÜGVA und TÜRGEV. Bei letzter ist Erdogans Sohn Bilal mit im Aufsichtsrat, im Verwaltungsrat sitzt Erdogans Tochter Esra. Insgesamt erhielten die religiös-konservativen Stiftungen in Istanbul laut einem von der CHP veröffentlichten Bericht in den 18 Monaten vor der Kommunalwahl umgerechnet 160 Millionen Euro aus dem städtischen Etat.

Die Korruption in der Türkei hat unter Erdogan enorm zugenommen. Staatliche Banken verteilten Wohnungskredite in Höhe von Milliarden Lira zu Niedrigzinsen. Davon werden Grundsteine für Projekte gelegt, die nie vollendet werden sollen, schreibt Bülent Mumay in der FAZ. Gedacht waren sie für den kränkelnden Bausektor. Mit etlichen Milliarden Lira wurden Gewerbetreibende für Investitionen gesponsert.

Doch kurz nachdem die AKP die Bürgermeisterwahl zum zweiten Mal verlor, gab es plötzlich Preiserhöhungen auf Tee und Zucker um 15 %, die Preise für Treibstoffe stiegen innerhalb von zwei Monaten fünf Mal, die Steuern auf Alkohol und Zigaretten wurden erhöht, auf Handys gar um fünfzig Prozent. Der Erdgaspreis stieg um fünfzig Prozent, wogegen er weltweit um die Hälfte sank, berichtet Mumay. Dadurch erhöhten sich die Preise wiederum bei allen Produkten.

Plünderung der Staatskassen

In den von der HDP zurückgewonnenen Städten im Osten der Türkei wurde die Ausplünderung der Staatskassen besonders deutlich. In Diyarbakir, Van und Mardin konnten die im März gewählten HDP-Bürgermeister den "Erfolg" der Zwangsverwalter vorweisen: Sie mussten die Stadtverwaltungen mit einem Schuldenberg in dreistelliger Millionenhöhe übernehmen. So ließ der Zwangsverwalter von Diyarbakir etwa einen Büroraum für 330.000 Euro luxuriös umbauen.

In Mardin sollen in drei Monaten 25.000 Euro für Kaffee, Trockenfrüchte und Nüsse bezahlt worden sein, schreibt die kurdische Nachrichtenagentur ANF. In Cizre, der Stadt, wo die Bremerin Leyla Imret einst als HDP-Bürgermeisterin gewählt und durch einen Zwangsverwalter ersetzt wurde, hat dieser der Kommune 260 Millionen Lira Schulden hinterlassen.

Zum Zeitpunkt seiner Übernahme hatte die Stadtverwaltung 32 Millionen Türkische Lira in der kommunalen Kasse, die für eine ökologische Stadtentwicklung ausgegeben werden sollten. Der Zwangsverwalter plünderte die Kommune weiter aus, indem kommunales Eigentum unentgeltlich an staatliche Einrichtungen überschrieben wurde.

Beispielsweise wurde ein öffentliches Schlachthaus, das mit kommunalen Geldern als Dienstleistung für die Bevölkerung unter der HDP- Verwaltung eröffnet wurde, der nationalen Bildungsbehörde überschrieben. Man fragt sich, was ein Schlachthof mit Bildung zu tun hat.

Proteste gegen Zwangsverwalter in drei kurdischen Städten halten an

Seit nunmehr 20 Tagen halten die Proteste gegen die Absetzung der gewählten Bürgermeister in den drei kurdischen Städten Diyarbakir, Mardin und Van an. Die Polizei versucht gewaltsam die Proteste zu verhindern. Nun sind Pläne zur Ernennung weiterer Zwangsverwalter für gewählte HDP-Bürgermeister in der Provinz Diyarbakir für Bismil, Çınar, Dicle, Eğil, Ergani, Hazro, Kayapınar, Kocaköy, Kulp, Licê, Silvan, Sûr und Yenişehir an die Öffentlichkeit geraten.

Demnach wies das Innenministerium in einem Schreiben am 9. August den Gouverneur von Diyarbakir an, Informationen über die HDP-Bürgermeister zu sammeln und zu prüfen, ob es Verfahren oder Ermittlungen gegen die Bürgermeister gibt. Das dürfte leicht zu konstruieren sein, bekanntlich reichen ja schon 10 Jahre alte kritische Bemerkungen in den sozialen Medien, um der Terrorpropaganda, Präsidentenbeleidigung oder Gülen - Anhängerschaft bezichtigt zu werden.

Aber es wird eng für Erdogan und seine Anhänger. Denn der Westen der Türkei ist alarmiert, immer mehr Menschen schauen auf den Osten der Türkei und fragen sich, wann es auch im Westen losgeht. Das Urteil gegen die Istanbuler CHP-Politikerin, der man nun beileibe keinen Linksradikalismus vorwerfen kann, da die CHP selbst ja eine zwar säkulare, aber national-konservative Linie vertritt und Minderheitenrechte auch bei ihnen keine Rolle spielen, sind beunruhigende Vorzeichen.

Die Videobotschaft der Musiker ist daher mutig, denn zunehmend geraten auch Künstler und Musiker, die sich kritisch zur türkischen Regierung äußern, ins Visier der Justiz. Prominentes Beispiel ist die wegen Terrorpropaganda verurteilte Kölner Sängerin Hozan Cane. Ihr wurde eine Karikatur von Erdogan, die jemand auf einer Facebook-Seite mit Canes Namen geteilt hat, vorgeworfen.

Der ehemalige AKP-Bürgermeister von Ankara, Mehlih Gökcek, wittert daher auch schon einen Aufruf zum Aufstand wie 2013 bei den Gezi-Park-Protesten in dem Video. Und natürlich stecke die Gülen-Bewegung hinter der Aktion. Es wird schon langsam langweilig, diese reflexhaften Schuldzuweisungen wahlweise an die Gülen-Bewegung oder die PKK, ohne inhaltlichen Bezug, geschweige denn Beweise.

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