MH17: Der Zeuge oder Verdächtige Tsemakh soll schon wieder in der "Volksrepublik Donezk" sein

Mit dem Gefangenenaustausch hat Selenskyi das JIT brüskiert und andere Prioritäten gesetzt, mit der Rückkehr nach Schischne hat das JIT seinen bislang einzigen Zeugen verloren, wenn er überhaupt einer war

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Als der ukrainische Geheimdienst SBU am 27. Juni in einer spektakulären Aktion Vladimir Tsemakh (Zemach) aus Snischne in der von Separatisten kontrollierten "Volksrepublik Donezk" nach Kiew verschleppten, wurde er dort als Mitglied einer terroristischen Vereinigung inhaftiert. Offenbar galt er in der "Volksrepublik" nicht als wichtige Person, er wurde nicht beschützt. Beim Rückweg aus der Volksrepublik traten zwei der SBU-Agenten auf Minen, einer starb, der andere wurde schwer verletzt. Da Tsemakh zur Zeit des Abschusses von MH17 bereits in Snischne Kommmandeur einer Luftabwehreinheit der Separatisten gewesen sein soll, was allerdings umstritten ist, galt er auch als wichtiger, d.h. als bislang einziger Zeuge für den MH17-Prozess in den Niederlanden.

Dass Ukraines neuer Präsident Selenskyi schließlich trotz Druck aus dem Westen und vom JIT. Tsemakh austauschen ließ, machte deutlich, dass ihm die Annäherung an Russland und der Versuch, den Krieg in der Ostukraine zu beenden, wichtiger war als die Aufklärung über die Verantwortlichen des Abschusses von MH17. Man kann auch vermuten, dass die Verschleppung von Tsemakh vom Geheimdienst eigenmächtig vorgenommen wurde, möglicherweise sah man Probleme, weil Malaysias Regierung Anfang Juni laut Bedenken gegenüber den als einseitig titulierten strafrechtlichen Ermittlungen äußerte. Dazu hatte das JIT kurz zuvor vier Männer angeklagt, 3 Russen und einen Ukrainer, von denen klar sein dürfte, dass sie nicht vor Gericht erscheinen können.

Rolle des SBU

Vom SBU stammen Beweismittel, auf die sich das JIT, das Gemeinsame Ermittlungsteam, in dem neben den Niederlanden, der Ukraine, Belgien und Australien auch Malaysia vertreten ist, beruft. Dazu gehören Telefonanrufe, die gerade von malaysischen Experten ausgiebig untersucht und als manipuliert befunden wurden.

Fraglich scheint etwa auch, ob eine vom SBU vorgelegte Konversation auf "VKontakte" zwischen einem Soldaten Maxim G. des 2. Bataillons der 53. Luftabwehrbrigade mit einem Mädchen namens Anastasia Dorokhova, authentisch ist. Für das JIT ist sie ein Beweis dafür, dass eine Buk in die Ostukraine gebracht wurde. Maxim G. sprach von einem großen Geheimnis, als er schilderte, dass er einem Leutnant des 3. Bataillons, den er als Arschloch bezeichnete, begegnet war und dass das Bataillon mit einer Buk nach Westen verlegt wurde, was das Mädchen mit einer ukrainischen Flagge beantwortete.

Ob es Maxim G. gibt, scheint bislang nicht nachgeprüft worden zu sein, von russischer Seite wurde nun "aufgedeckt", worauf man erst einmal auch nur verweisen kann, dass für das Profil von Anastasie das Bild von Ksenia Illarionova verwendet wurde, diese aber gegenüber Komsolmolskaya Pravda (KP) abstreitet mit dem Soldaten oder überhaupt einem Soldaten kommuniziert zu haben. Sie habe bereits mehrere Seiten gehabt und habe vergeblich versucht, einen Fake-Account herunternehmen zu lassen. Nach KP gebe es mindestens 30 Fake-Accounts mit ihrem Bild auf VKontakte. Suggeriert wird, dass ein solche Account auch vom SBU geschaffen worden sein könnte. Das ist in etwa so stichhaltig wie viele Beweise von Bellingcat, auf die sich das JIT stützt.

Selenskyi will den riesigen Geheimdienstapparat reformieren und hatte schon mal im August Iwan Bakanow als neuen SBU-Chef eingesetzt. Mit dem Schritt gegen das JIT, das noch durchsetzte, Tsemakh vor der Auslieferung verhören zu können und ihn, ohne Gründe zu nennen, auch als neuen Verdächtigten zu bezeichnen, wird der Spalt zwischen den am JIT beteiligten Länder größer.

Womöglich demonstrierte der ukrainische Präsident auch mit der Freilassung, dass er von den SBU-Beweisen und damit von den Ermittlungen des JIT nicht überzeugt ist. Er hat angeblich vor der Freilassung mit einigen europäischen Regierungschefs gesprochen. Und sein Sprecher Andriy Yermak sagte, was sich auch als Kritik des JIT verstehen ließe: "Erstens kenne ich die Untersuchungsunterlagen nicht. Tatsächlich stammen all diese Informationen, dass Tzemakh ein sehr wichtiger Zeuge ist, aus den Medien. Ob er ein wichtiger Zeuge ist, wird sich vor Gericht erweisen. Dann werden wir verstehen, ob er wirklich wichtig war."

Ist Tsemakh überhaupt ein wichtiger Zeuge?

Rätselraten herrscht darüber, warum die russische Führung unbedingt Tsemakh und anscheinend unter Androhung, den Austausch sonst platzen zu lassen, einen ukrainischen Bürger, aus der Ukraine nach Russland bringen wollte. Russische Staatsbürger dürfen nicht ausgewiesen werden, aber wenn das JIT einen Auslieferungsgesuch erwirkt, hätte Russland Schwierigkeiten, eine Verweigerung zu begründen. In der Ukraine, die auch keine Bürger ausliefert, hätte Tsemakh nur über eine Videokonferenz verhört werden können. Aber die Frage wäre gewesen, ob Tsemakh in der Haft zu einer Aussage hätte erpresst werden können.

Ebenso ist bislang unklar, warum dem von der niederländischen Staatsanwaltschaft geleiteten JIT so wichtig ist, Tsemakh vernehmen zu können. Kurz vor der Auslieferung hatte sie ihn als neuen Verdächtigen präsentiert, um diese zu verhindern. Und bei der Vernehmung soll ihm angeboten worden sein, dass er nur als Zeuge vernommen wird, wenn er sich nicht ausliefern lässt. Aber das JIT blieb auch jetzt noch eine Antwort schuldig, so eine Nachfrage von Ria Nowosti, und wollte mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht sagen, ob er nun Zeuge oder Verdächtiger sei.

Bislang ist umstritten, ob er bereits am 17. Juli der Kommandant der Luftabwehreinheit in Schischne war, die vermutlich nur aus ein paar Mann bestand. Zweifellos war er in der Nähe, falls wirklich MH17 von einer Buk bei Schischne abgeschossen wurde. Dass er direkt mit dem Vorfall verwickelt gewesen soll, wird von einem Video abgeleitet, in dem er sagt, dass er etwas nach der MH17-Katastrophe versteckt hat. Was es war, lässt sich nicht hören, weil der Ton just an der Stelle unterbrochen. Bellingcat und andere wollen jedoch von seinen Lippen ablesen können, dass er Buk gesagt hatte.

Er hatte freilich noch weiteres von sich gegeben, was meist nicht wiedergegeben wird und was seine Zeugenschaft in Frage stellt oder ihr eine andere Wendung gibt. Er sagte, dass die Separatisten ein ukrainisches Kampflugzeug, eine Sukhoi, abgeschossen habe, eine andere Sukhoi habe dann die MH17 abgeschossen. Belege, bis auf andere Zeugenaussagen, deren Glaubwürdigkeit zweifelhaft ist, gibt es dafür nicht. Russland hatte diese Behauptung auch erst einmal aufgestellt, sie aber dann wieder fallengelassen. Was also will man von diesem Zeugen, der entweder Unsinn spricht oder etwas behauptet, was den JIT-Ermittlungen diametral zuwiderläuft? Bezweifelt wird, ob er überhaupt Wesentliches zu MH17 sagen kann.

Tochter von Tsemakh gab auf VKOntakte die Rückkehr ihres Vaters bekannt

Der ukrainische Sender Zik.ua berichtet, dass Tsemakh wieder in die "Volksrepublik Donezk" zurückgekehrt sei. Das berichtete zumindest Tsemakhs Tochter auf VKontakte am 10. September und bestätigte dies gegenüber currenttime.tv. Wenn das zutrifft, kann Russland ihn nicht mehr ausliefern. Die Tochter sagte, ihr Vater haben bereits allen Parteien gegenüber gesagt, was er wisse. Er sei auch im Zeugenstatus, weswegen seine Familie auch keinen Anwalt einschalten werde. Er sei von niederländischen Ermittlern verhört worden. Er habe nichts zu verbergen, man werde die Ermittlungsarbeiten nicht stören.

Selenskyi, der noch in diesem Monat Donald Trump und Wladimir Putin treffen will, bekräftigte die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland, bedankte sich für die Freigabe der blockierten amerikanischen Militärhilfe in Höhe von 250 Millionen US-Dollar und kündigte den nächsten Gefangenenaustausch an. Der Idee, Friedenstruppen an der ukrainisch-russischen Grenze einzusetzen, steht er skeptisch gegenüber. Er wolle kein neues Abchasien oder Transnistrien. Man will nun lokale Wahlen in der ganzen Ukraine durchführen, also auch in den "Volksrepubliken". Selenskyi setzt auf die Beendigung des Kriegs und will die Ostukraine und die Krim auf diplomatischem Weg wieder in die Ukraine zurückbringen.