Wenn das Tatort-Auge leise blinzelt

Oswald Spengler und die Feuchtgebiete IV

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Neulich in der Buchhandlung lief mir ein schwarzgekleideter Security-Mensch über den Weg, er war da angestellt. Was ist los mit der deutschen Literatur?

Ihr gehe es nicht so gut, meinte Iris Radisch schon vor neun Jahren. Die "Demokratisierung oder Vervolkstümlichung des Erzählens" sei die Voraussetzung einer neuen partnerschaftlichen Beziehung zwischen Autor und Leser, die sich nun auf gleicher Augenhöhe träfen. Obwohl "jede Demokratisierung grundsätzlich zu begrüßen" sei, zahle man für sie einen nicht geringen Preis: "Es ist der Preis der Entzauberung." Und das Ergebnis dieser Entzauberung sei die "Vorherrschaft eines anschlussfähigen, unauffälligen, leicht beweglichen Stils, der das vertraute Planquadrat der alltäglichen Zeichensysteme nie verlässt".

Nun, verzaubern tut Peter Kurzeck nicht. Im "Vorabend", ein Buch aus seinem Zyklus "Das alte Jahrhundert", geht es um das Leben in der hessischen Provinz in den 1970er Jahren. Das Buch fließt ohne eigentliche Handlung dahin wie ein ruhiger Fluss und eignet sich prima zum Einschlafen. Kurzeck war ein minutiöser Chronist dieser, seiner Zeit und hat sie auf tausenden Seiten festgehalten. Um so viel zu schreiben - allein der Zyklus umfasste fünf Bände - muss man viel am Schreibtisch sitzen, das Leben findet quasi zwischen Tastatur und Bildschirm statt. Kurzeck starb 2013 im Alter von 70 Jahren. Seine Geschichte ist die eines nicht einfachen Weges: Das Aufhören mit dem Trinken, das Aufhören mit der Lohnarbeit und dafür das Schreiben, das lange Zeit prekär leben ohne Anerkennung, dann erste Erfolge und schon ist das Leben wieder vorbei.

Erinnern wir uns an These 2: Es gibt zwar Neues, doch dies bleibt im Verborgenen, da es darüber keinen gesellschaftlichen Diskurs gibt. Was sagt Literaturkritikerin Radisch dazu? "Bücher, die das Wunder vollbringen, das Feuer einer neuen ästhetischen Erkenntnis in uns zu entzünden, fallen nicht jedes Jahr zusammen mit den Herbstblättern vom Himmel. Wunder sind selten. Wer an Wunder glaubt, bleibt ein schlecht gelaunter Liebender, der lieber zu viel als zu wenig von seiner Geliebten erwartet." Das andere ist: Ein jeder schreibt halt ein bisserl was.

Aber wo bleibt jetzt die Literaturkritik als Zeitkritik? Hat Radisch auch: "Die sprachliche Ohnmacht ist ein Symptom. Sie erzählt von einer tieferen epochalen Desillusion, die nicht nur die Literatur betrifft." Radisch spricht auch von "ernüchterten Zeit" und "epochaler Ermüdung", deren Romane keine "nachhaltige ästhetische Erfahrungen" mehr bieten könnten. Die Erfahrungslosigkeit als Merkmal eines "Kapitalismus der Trostlosigkeit"?

Sprechen wir vom Tod. Was immer die Literatur uns zu sagen hat, seit mindestens zwei Jahrzehnten wuchert wie ein Pilz das Genre des Kriminalromans. Der Mord hat Konjunktur, sowohl als Buch als auch im Fernsehen. Gemordet und aufgeklärt wird mittlerweile auch regional: Von Franken über den Spreewald nach Venedig oder Island. Dort gibt es zwar höchstens nur 0,5 Tote pro Jahr sagt die Kriminalstatistik, wohingegen der Krimimord zwischen Geysiren und schmelzenden Gletschern geradezu boomt. Besonders schlimm sind die literarischen Verbrechen im ehemaligen Volkshaus Schweden.

Vor 13 Jahren war dazu auf Telepolis zu lesen: "Die These ist: Der Mord ist eines der letzten sinnstiftenden Anlässe in einer ansonsten ‚unsinnigen‘, weil von dem Unsinn des Kapitalverhältnisses verödeten gesellschaftlichen Landschaft. Wo nur noch der Gewinn, das heißt die Rendite auf das eingebrachte Kapital, zum Maßstab wird, der sogenannte Shareholder Value, dort werden alle anderen menschlichen Beziehungen wie langjährige Geschäftsbeziehungen, Kreditwürdigkeit, gegenseitiges Vertrauen, der Handschlag zum Unsinn. Wo der moderne Turbokapitalismus traditionelle Beziehungen verdampft, verdampfen auch Sinn und Wert."

Mittlerweile macht sich auch die "Süddeutsche" Gedanken. "Was sagt das eigentlich aus über eine Gesellschaft?", fragt der Autor Frank Zeller angesichts der rund 4500 Fernsehmorde allein im ZDF pro Jahr. In Anlehnung an Siegfried Krakauer ("Von Cagliari zu Hitler") versucht er der Spur: "Vom Tatort zur AfD", nachzugehen. Seine Diagnose: "Was offensichtlich ansteigt, sind die Ängste, Opfer von Verbrechen zu werden, und sie scheinen Grund genug zu sein, entweder die AfD zu wählen oder zumindest Restriktionen gegen Flüchtlinge und Migranten zu verlangen. Woher kommen diese Ängste? Reale Wahrnehmungen kommen als Auslöser eher nicht infrage. Haben die Leute also vielleicht zu viel ferngesehen?"

Medien als Wurzel des Übels zu sehen ist nicht wirklich neu und die Zeller’sche Diagnose erklärt nicht, warum sich Krimis dieser offensichtlichen Beliebtheit erfreuen.

Noch mal Kurzeck. Das Leben passiert bei ihm nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Er schreibt auf was war und schreibt damit gegen die Gegenwart an. Im Krimi wiederum geht es um feste Strukturen: Gut und Böse. Es geht um die Lösung eines Rätsels, am Ende wartet die Erlösung. Und das alles auf Seiten der Guten noch verbeamtet und mit Aussicht auf eine vernünftige Person. Und ist der Kommissar noch so versoffen und die Kommissarin noch so von Alpträumen geplagt, aufstehen lohnt sich und macht Sinn.

Literatur und Krimi - wenn in ersterer kaum eine neue ästhetische Erfahrung zu machen ist und im zweiten der festen Struktur gehuldigt wird, dann hat das vielleicht mit der Sehnsucht der Leute zu tun, dass endlich mal Ruhe ist, mit dem ewigen kapitalistischen "Verdampfen" des Bestehenden. Denn während das Tatort-Auge leise blinzelt, fällt ringsum die alte Medienwelt in Scherben.