Liberaldemokraten positionieren sich als "Großbritanniens einzige Remain-Partei"

Die schottische Parteichefin Jo Swinson auf der Lib Dem Konferenz 2019. Bild: Jwslubbock/ CC BY-SA-4.0

Die Welt von Morgen ist eine Welt der Imperien, nicht der Nationalstaaten, sagte Guy Verhofstadt auf dem Kongress der Liberaldemokraten, die ohne zweites Referendum den Aústrittsantrag zurückziehen wollen

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Zwei britische Parteien versuchen derzeit am meisten von der Brexit-Krise zu profitieren. Auf der einen Seite steht Nigel Farages "Brexit-Partei". Sie treibt die regierenden Konservativen mit ihrer Forderung für einen "No Deal"-Brexit vor sich her. Ihr Gegenstück sind die Liberaldemokraten. Die Beteiligung an einer Regierungskoalition mit den Konservativen von 2010 bis 2015 hätte sie fast zerstört. Jetzt hoffen sie auf eine Wiederbelebung, indem sie für sich die Positionierung als "Großbritanniens einzige Remain-Partei" beanspruchen.

Es gibt für die Liberaldemokraten durchaus Grund für Optimismus. Im Jahr 2015 hatten sie nur 50.000 Mitglieder. In großen Teilen der Bevölkerung waren sie verhasst, weil sie an der Implementierung der Austeritätspolitik nach dem Bankencrash von 2009 mitgewirkt hatten. Ihre Entscheidung, entgegen des eigenen Wahlprogramms für eine drastische Erhöhung der Studiengebühren zu stimmen, entfachte in den Jahren nach 2010 eine militante Studierendenbewegung, wie sie Großbritannien seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte. Viele der damals politisierten jungen Menschen sind heute Unterstützer des linken Projekts von Jeremy Corbyn.

Jetzt also der Brexit. Die Zahl der Parteimitglieder ist wieder auf 120.000 Menschen angestiegen. Mit den Parlamentsabgeordneten Chuka Umunna, Luciana Berger und Angela Smith sind prominente Exponenten des rechten, pro-europäischen Flügels der Labour-Partei zu den Liberaldemokraten übergetreten. Von den Tories fanden die Abgeordneten Sam Gyimah, Phillip Lee und Sarah Wollaston den Weg zu den Liberaldemokraten. Sie gehörten vorher zum "Remain"-Flügel der britischen Konservativen. Bei den LibDems besteht nun die Hoffnung, in den kommenden Wochen weitere Übertritte verzeichnen zu können. Im britischen Unterhaus hat die Partei derzeit 18, im EU-Parlament 16 Mitglieder.

"Bollocks to Brexit"

Am vergangenen Wochenende hielt die Partei ihren jährlichen Parteitag im südenglischen Badeort Bournemouth ab. Dort nagelte sie ihre "Remain"-Position unmissverständlich an den Fahnenmast der Europäischen Union. In ihrer Rede am Sonntag verkündete Parteichefin Jo Johnson, dass eine liberaldemokratische Regierung den britischen Austrittsantrag zurückziehen werde, ohne vorher ein zweites EU-Referendum abzuhalten. Das ist eine bemerkenswerte Radikalisierung der eigenen Position, schließlich waren die Liberaldemokraten in den vergangenen drei Jahren mit die stärksten Proponenten eines solchen Referendums im britischen Politikbetrieb.

Johnson verknüpfte diesen Strategiewechseln mit Angriffen auf den ehemaligen konservativen Premierminister David Cameron, mit welchem die Liberaldemokraten fünf Jahre an der Regierung waren. In einer Reihe von Interviews gab sie Cameron die Alleinschuld an dem EU-Referendum. Er habe unverantwortlich gehandelt. Damit vergisst die liberaldemokratische Parteichefin allerdings, dass sie selbst in den Jahren vor der liberaldemokratischen Regierungsbeteiligung mehrfach die Durchführung eines EU-Referendums gefordert hatte. Ein solches Referendum gehörte auch zu den liberaldemokratischen Wahlversprechen des Parlamentswahlkampfes von 2010.

Doch daran möchte die Partei heute nicht mehr erinnert werden. Stattdessen holte sie sich für ihren Parteitag mit dem liberalen belgischen EU-Parlamentarier Guy Verhofstadt prominente Unterstützung aus Brüssel. Verhofstadt ist der Chefunterhändler des EU-Parlaments bei den Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien und füllt damit eine ähnlich Rolle aus, wie sie Michel Barnier im Auftrag der EU-Kommission innehat.

Verhofstadt nutzte seinen Auftritt vor den liberaldemokratischen Parteitagsdelegierten für eine programmatische Kampfrede, deren internationales Echo bemerkenswert gering ist. Dabei gab er hier spannende Einblicke in seine Sichtweise der EU und ihrer Rolle in der Welt preis. Unter anderem sagte er: "Die Welt von Morgen basiert nicht auf Nationalstaaten oder Ländern. Es wird eine Weltordnung basierend auf Imperien sein. China ist keine Nation, sondern eine Zivilisation. Indien ist keine Nation. Die USA sind auch mehr ein Imperium als eine Nation. Und dann ist da natürlich noch die Russische Föderation. Die Welt von Morgen ist eine Welt der Imperien, in welcher wir Europäer und Ihr Briten Eure Interessen und Eure Lebensweise nur verteidigen könnt, wenn Ihr es zusammen in einem europäischen Rahmen und als Teil der Europäischen Union macht." Dafür gab es vom Parteitag stehende Ovationen, Verhofstadt erhielt als Dank ein T-Shirt mit der Aufschrift: "Bollocks to Brexit" - "Scheiß auf den Brexit".

Verhofstadt steht mit dieser Sichtweise in den Führungsstrukturen der EU alles andere als allein da. Im März 2012 ließ die EU-Kommission ein Werbevideo produzieren, welches eine stärker integrierte und erweiterte EU bewerben sollte. Darin ist eine Frau zu sehen, die von verschiedenen Barbaren konfrontiert wird: Einem chinesischen KungFu-Kämpfer, einem indischen Schwertkämpfer mit Turban und einem dunkelhäutigen Muskelprotz mit Rastahaaren. Die Frau kann die Situation entschärfen, indem sie sich auf wunderbare Weise vermehrt. Wie die Sterne der EU umringen plötzlich zwölf weiße Frauen in gelber Kleidung die drei fremdländischen Barbaren, die daraufhin ihre Waffen wieder einstecken. Das Video wurde aufgrund von Rassismus- und Sexismusvorwürfen zurückgezogen, die Botschaft ist aber klar: Nur das EU-Imperium kann sich gegen den Rest der Welt verteidigen.

Die britischen Liberaldemokraten sind ungeschminkt neoliberal. In am Rande des Parteitags geführten Fernsehinterviews kritisierte Jo Swindon die Konservativen für deren angebliche Abkehr vom Austeritätskurs der vergangenen Jahre. Es gebe keinen magischen Geldbaum, zitierte Swindon die ehemalige konservative Premierministerin Theresa May. Verhofstadt war davon beeindruckt. Am 14. September twitterte er: "Wenn es eine Wahl zwischen Johnson und Corbyn gibt, dann bin ich für Jo!"

Konservative fürchten den Aufstieg der Liberaldemokraten

Im konservativen Lager wird das Agieren der Liberaldemokraten argwöhnisch beobachtet. Dort weiß man, dass es genug "Remainer" unter konservativen Wählerschichten gibt, welche in einem kommenden Wahlkampf zu den Liberaldemokraten überlaufen könnten.

Am 16. September schrieb Paul Goodman, der Redakteur der konservativen Graswurzelseite "Conservative Home", dass die Liberaldemokraten in der jüngeren Vergangenheit erfolgreich in konservativen Gefilden wildern konnten. So würden alle 14 liberaldemokratischen Unterhausabgeordneten aus England und Wales aus Wahlkreisen stammen, in denen Tories den zweiten Platz belegt hätten. Bei den Kommunalwahlen im Mai 2019 hätten die LibDems ausschließlich in konservativen Wahlkreisen Sitze gewonnen.

Die britische Politik befindet sich weiter in einem Veränderungsprozess. Zumindest kurzfristig scheinen die Liberaldemokraten auf der Sonnenseite dieses Prozesses gelandet zu sein. Wie lange das anhält, steht auf einem völlig anderen Blatt.

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