Sinkflug statt Singflug

Spatz (Passer domesticus). Bild: Creepanta/CC BY-SA-4.0

Forscher aus Nordamerika warnen vor Kollaps der Vogelwelt

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"Stets kommt ein Morgen mit zerstörter Zukunft", möchte man (beinah) den chronischen Pessimisten Michel Houellebecq zitieren, wenn man gegenwärtig die Zeitung aufschlägt oder - wie in diesem Fall - die Seiten größerer Fachmagazine durchstöbert. Die Online-Ausgabe des wissenschaftlichen Fachblatts Science wartet gerade mit erschreckenden Zahlen zum Vogelsterben auf; und da trifft es offenbar, anders als erwartet, jetzt auch Amsel, Drossel, Fink und Star: also die "Normalos" unter den gefiederten Freunden.

Es geht hier längst nicht mehr um ornithologisches Fachwissen, sondern um unser aller Interesse. Und selbst eingefleischte Biologen zeigen sich überrascht über die Ergebnisse der vor wenigen Tagen veröffentlichten Analyse, in der rund 50 Jahre Feldforschung stecken: Man sah lange Zeit hauptsächlich die Populationen weniger stark verbreiteter Vogelarten als bedroht an. Diesen Blick auf die Vogelwelt, im Wissenschaftsjargon die Avifauna, wird man nun korrigieren müssen.

Die Studie unter dem Titel "Decline of the North American avifauna" (Schwund der nordamerikanischen Vogelwelt) zeigt nämlich zum einen: Die Zahl der wildlebenden Vögel geht immer stärker zurück. Zum anderen wird deutlich: Es betrifft gerade die einst häufigen Vogelarten. Selbst "Allerweltsvögel" - wie übrigens hierzulande der Haussperling, dazu weiter unten noch mehr - sind immer seltener anzutreffen.

Signale des Kollaps

Gerechnet wurde ab 1970: Ist in den letzten 49 Jahren die Anzahl der Vögel in Nordamerika und Kanada um insgesamt 29 Prozent zurückgegangen (dieser Schwund um fast ein Drittel ist das triste Memento der Studie), so entfallen mehr als 90 Prozent des Rückgangs auf nur zwölf Vogelgruppen - wie zum Beispiel Spatzen, Finken und Schwalben. Die Einbeziehung von flächendeckenden Bestandsverläufen und Mengenschätzungen deutet auf einen Nettoverlust von fast 3 Milliarden Vögeln während dieses Zeitraums.

Dass der Befund dieses einzigartigen Vogel-Monitorings einer ökologischen Krise gleichkommt, erklären die beteiligten Forscher so: Die verbreiteten (und auch in Europa gut bekannten) Vögel beeinflussen, etwa indem sie Samen verteilen und Schädlinge vertilgen, nicht nur die Nahrungskette, sondern sind auch von Belang für das weitere Ökosystem - von der Freude an Gefieder und Gezwitscher einmal ganz abgesehen.

Die Forschergruppe sieht denn auch die Unversehrtheit (Integrität), Funktionsfähigkeit und den Nutzen (Services) des Ökosystems als ganzes in Gefahr. Und warnt, der Verlust an Vogelreichtum signalisiere die dringende Notwendigkeit, sich mit dem drohenden Kollaps der Avifauna aktiv auseinanderzusetzen ("… to avert future avifaunal collapse").

Sinkflug - auch in Deutschland

Kürzlich kam aus Bayern die Nachricht, die Zahl der Brutpaare am Bodensee sei binnen 30 Jahren um etwa ein Viertel gesunken. Wir haben das Problem also auch vor unserer Haustür. Haussperling, Amsel oder Star sind hier besonders betroffen. Viele weitere Arten kommen, so eine Mitteilung des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Konstanz von Anfang September, nur noch in geringen, oft nicht mehr überlebensfähigen Populationen und an immer weniger Orten rund um den Bodensee vor. Eine ähnliche Entwicklung sehen die Forscher auch in anderen Regionen Deutschlands.

Auch aus Süddeutschland lautet die Botschaft: Vor allem häufig vorkommende Arten gehen stark zurück. Die Bestände des Haussperlings - vor 40 Jahren noch die häufigste Art - sind seit Beginn der Erhebung (Referenzjahr war hier 1980) um 50 Prozent eingebrochen. An und für sich gilt die Bodenseelandschaft als besonders vogelfreundlich. So treffen die Befunde auch nicht gleichermaßen auf alle Arten zu; Populationen leiden vor allem in Landschaften, die vom Menschen intensiv genutzt werden.

Damit ist vor allem die heutige Agrarlandschaft angesprochen: 71 Prozent der auf Wiesen und Feldern lebenden Arten verzeichnen zum Teil drastische Bestandseinbrüche. Das Rebhuhn zum Beispiel ist rund um den Bodensee inzwischen ausgestorben. Auch Raubwürger, Wiesenpieper und Steinkauz kommen dort nicht mehr vor.

Sinkflug statt Singflug: Die Feldlerche (Vogel des Jahres 1998 und 2019) findet sich gar inzwischen auf Deutschlands Roter Liste wieder - ein besonders trauriger Fall. Für Generationen von Pennälern gehörte das Trällern des begabten Sängers zum unverzichtbaren Repertoire zumindest literarischer Naturerfahrung, man stelle sich Eichendorffs romantische Wiesen, Wälder und blinkenden Täler ohne die Lerche vor!

Auch die hiesigen Forscher qualifizieren - ganz auf der Linie mit ihren amerikanischen Kollegen - die fortwährend schrumpfenden Lebensräume als eine der Hauptursachen für das Vogelsterben; unter den Ursachen rangiert weit oben die fortschreitende Intensivierung (Industrialisierung) der Landwirtschaft neben der exorbitanten Flächenversiegelung, mit einem tödlichen Nebeneffekt: Vielen Vögeln gehen schlicht die Insekten aus. Und damit das täglich Brot zum Überleben.

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