Genau wann bin ich Antisemit?

Notwendige und zusammengenommen hinreichende Bedingungen, um zu Recht als Antisemit bezeichnet zu werden

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Wer ist Antisemit? Diese Frage ist doppeldeutig. Man kann sie so verstehen, dass sie nach einer Liste verlangt, auf der im Idealfall alle Antisemiten namentlich aufgeführt sind. Man kann sie aber auch (abstrakter) als Definitionsfrage auffassen, d.h., als Frage danach, welche Bedingungen notwendig und zusammengenommen hinreichend sind, um zu Recht auf dieser Liste zu stehen. Diese zweite (abstraktere) Lesart ist ganz klar die grundlegendere. Sie steht im Folgenden daher im Mittelpunkt. Sie wurde, so meine dann in der Diskussion näher auszuführende Einschätzung, bisher sträflich vernachlässigt. Das will ich ändern. Weil es sich ändern muss.

Dieser am 10. September 2019 vor der DAG (Deutsch Arabische Gesellschaft) in Berlin gehaltene Vortrag basiert auf dem in Telepolis (08.12.2008) und dann erneut in dem eBook Georg Meggle, "Über Medien, Krieg und Terror" (2019) enthaltenen älteren Vortrag "Wer ist Antisemit?", der hier zum einen stark gekürzt, zugleich aber um einige wichtige Punkte ergänzt wurde. Die für den Autor wichtigste Folgefrage: Wenn die hier vorgeschlagene Antisemitismus-Definition doch so viel klarer und, wie er in der Diskussion weiter ausführte, zugleich brauchbarer ist als die derzeit kursierenden sogenannten "Arbeitsdefinitionen", warum wird dann nicht gleich mit ihr gearbeitet? Seine Vermutung: Klarheit ist gar nicht das Ziel der derzeitigen Antisemitismus- Debatten. Dazu demnächst mehr.

1. Antisemitische Einstellungen

Also: Genau wann bin ich Antisemit?

Meine Antwort ganz grob: Ein Antisemit ist jemand mit einer antisemitischen Einstellung. Und ich wäre ein manifester Antisemit, wenn sich diese antisemitische Einstellung auch in meinem (körperlichen oder auch verbalen) Verhalten manifestiert - andernfalls wäre ich ein latenter Antisemit.

Das Antisemitismus-Label lässt sich also auf drei verschiedenen Ebenen anbringen: Nämlich auf:

  • Subjekte / Akteure (Individuum, Kollektiv, Institution
  • Verhaltensweisen
  • Einstellungen

Und auf jeder dieser drei Ebenen gibt es entsprechende Diskriminierungs-Parallelen:

  • Subjekte / Akteur: Rassist, Sexist, Nationalist,
  • Verhalten: Rassistisches, Sexistisches, Nationalistisches,
  • Einstellungen: Rassistische, Sexistische, Nationalistische

In all diesen Fällen ist der jeweilige Begriff der Einstellung der grundlegende. Mit ihm lassen sich die beiden anderen Begriffe definieren; aber nicht umgekehrt.

Der Kern dieses Ansatzes ist also: Antisemitismus = Juden-Diskriminierung. Punkt.

Dasselbe nochmal:

(AS.E) Antisemitisch ist eine Einstellung genau dann, wenn ihr zufolge ein Jude schon allein deswegen weniger wert sein soll, weil er Jude ist.

Diese Definition stellt den Diskriminierungsaspekt auch beim Antisemitismus - genau wie auch in den entsprechenden Definitionen für Rassismus, Sexismus und Nationalismus - in den Mittelpunkt. Das hat den ganz großen Vorteil, dass genau damit die gemeinsame Quelle ihrer prinzipiellen moralischen Verwerflichkeit herausgestellt wird.

Antisemitisch, rassistisch, nationalistisch, sexistisch etc. - das sind durch die Bank stark wertende Ausdrücke, mit denen wir die betreffenden Akteure, Verhaltensweisen und Einstellungen als moralisch verwerflich verurteilen. Und zwar ohne jede Einschränkung, ohne jedes Wenn- und Aber.

Und dies auch zu Recht. Denn: Für keine dieser Verhaltensweisen oder Einstellungen gibt es (anders als z.B. für Lügen oder gar Tötungen in Notfällen) irgendeine moralische Rechtfertigung. Solche Verhaltensweisen und Einstellungen sind einfach schon per se moralisch verwerflich. Anders als bei Notlügen oder auch bei Notwehr gibt es keine auch nur denkbaren Ausnahmezustände (Not-Situationen), in denen Antisemitismus, Rassismus, Sexismus etc. rechtfertigbar wären.

Das hat einen ganz einfachen Grund. Diese Verhaltensweisen und Einstellungen verstoßen allesamt gegen eines unserer elementarsten Moralprinzipien. Nämlich gegen das universelle Diskriminierungsverbot, wonach jegliche Art von Rassen-, Geschlechts- etc. Diskriminierung verboten ist - und zwar bedingungslos. Ob das, was jemand tut, in moralischer Hinsicht gut oder schlecht (richtig oder falsch) ist, das darf unter keinen Umständen davon abhängen, ob die betreffende Person weiß oder gelb oder schwarz ist; auch nicht davon, ob Mann oder Frau; und ebenso auch nicht davon, ob sie Jüdin ist oder nicht.

Dieses Diskriminierungsverbot wird oft auch als Gleichheitsgebot formuliert: In moralischer Hinsicht sind alle Rassen, Geschlechter und Ethnien etc. ohne jede Einschränkung gleich. Zu welcher Rasse wir gehören, zu welchem Geschlecht, zu welcher Ethnie etc. - all dies ist in moralischer Hinsicht absolut irrelevant.

Das universelle Gleichheitsgebot setzt keine empirischen Gleichheitsannahmen voraus; es fordert auch keine undifferenzierte Gleichbehandlung. Es verlangt nur, dass, auch wenn wir verschiedenen Rassen oder Geschlechtern, Ethnien etc. angehören, unsere gleichen Interessen unter den gleichen Umständen auch in gleicher Weise berücksichtigt werden müssen. Dass zum Beispiel das Leid einer jüdischen Mutter über den Tod ihres Kindes genauso viel zählt wie das gleiche Leid einer deutschen Mutter - oder auch einer palästinensischen.

Dass sich Diskriminierungen in der Regel gegen Andere wenden, schließt die Möglichkeit einer Selbstdiskriminierung keineswegs aus. Wer sich selbst hasst, tut das mitunter auch deshalb, weil er anders ist - oder auch nur anders zu sein glaubt - als "die Anderen". Auch Frauen können Frauenfeindinnen sein; auch Schwarze können ihre schwarzen Brüder und sich selbst (als Schwarze) verachten; auch Deutsche können Anti-Deutsche werden; und so ist auch jüdischer Selbsthass keine begriffliche Unmöglichkeit. Antisemit kann im Prinzip jeder sein. Also auch ein Jude. Dass jemands Auffassung schon deshalb gar nicht antisemitisch sein könne, weil er selber Jude sei, ist schlicht und einfach falsch.

Übrigens: Auch eine philosemitische Einstellung kann moralisch verwerflich sein. Falls auch sie diskriminiert. Also immer dann, wenn "Philosemit sein" soviel bedeutet wie: Juden sind per se als (in moralisch relevanter Hinsicht) wertvoller anzusehen als andere. Denn daraus folgt bereits, dass, wer immer auch die Anderen sein mögen, diese ihrerseits per se weniger wert sind als andere (als die Juden nämlich). Genau dies aber verbietet das universelle Diskriminierungsverbot.

Der hier eingeführte Antisemitismus-Begriff ist höchst allgemein. Und das muss er auch sein, damit, wie es so oft heißt, jede Art von Antisemitismus zu bekämpfen ist. Denn dann muss eben wirklich auch jede Art von Antisemitismus unter diesen Begriff fallen. Genau deshalb darf ein allgemeiner Antisemitismus-Begriff insbesondere auch noch nichts darüber sagen, warum ein Subjekt (Individuum, Kollektiv oder die betreffende Institution) die fragliche Juden-diskriminierende Einstellung überhaupt hat. Der Begriff sagt nichts über die verschiedenen Ursachen, nichts über die diversen Motive und nichts über etwaige Gründe.

Je nach dem Typ dieser Motive oder Gründe wäre zu unterschieden zum Beispiel zwischen

  1. Rassischem
  2. Religiösem (christlichen, katholischen, protestantischen, muslimischen)
  3. Sozialem
  4. Politischem Antisemitismus,

wobei sich diese Typen keineswegs ausschließen. Die Erforschung der Ursachen, Wandlungen und Ausdrucksformen dieser verschiedenen Arten des Antisemitismus ist Aufgabe der so genannten Antisemitismus-Forschung.

Und last but not least: Unser Grundbegriff der negativen Juden-Diskriminierung lässt auch völlig offen, wie der Begriff "Jude" selber zu definieren ist. Mit gutem Grund. Zum einen geht es bei diesem Antisemitismus-Konzept ohnehin gar nicht darum, wer objektiv Jude ist, sondern (wie wir gleich noch sehen werden) nur darum, dass das diskriminierende Subjekt sein Diskriminierungs-Objekt für eine Jüdin oder einen Juden hält. Und zum anderen kann und sollte man die entsprechende Selbstbestimmung ohnehin lieber ,den Juden' selbst überlassen. Und ob diese sich jemals selber darüber einigen können oder nicht, das ist zum Glück für eine klare Bestimmung dessen, was unter Antisemitismus zu verstehen ist, völlig irrelevant.