EU-Parlament lehnt Macrons Kandidatin überraschend ab

Sylvie Goulard. Foto: Legermi. Lizenz: CC BY-SA 3.0

Auch der Kommissar aus Rumänien steht nach dem gestrigen Sturz der dortigen Regierung noch nicht fest

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Im EU-Parlamentsausschusses für Industrie und Binnenmarkt kam gestern Nachmittag überraschend keine Mehrheit für die französische EU-Kommissionskandidatin Sylvie Goulard zusammen. Sie sollte dem Willen der französischen Staatsführung nach ein neues Ressort übernehmen, das neben der Zuständigkeit für den Binnenmarkt auch die Bereiche Verteidigungsindustrie und Raumfahrt umfasst (vgl. Frankreich bekommt Binnenmarkt, Verteidigungsindustrie und Raumfahrt).

Parlamentsabgeordnete begründeten die Ablehnung Goulards vor allem mit zwei Affären, die sie am Hals hat: Mit einer Ermittlung des Office Européen de Lutte Anti-Fraude (OLAF) wegen eines steuergeldfinanzierten Parlamentsmitarbeiters (der eher ein Wahlhelfer gewesen sein könnte), und mit einer monatlich fünfstellig vergüteten Ex-Nebentätigkeit beim Think Tank Berggruen Institute. Goulard versuchte sich damit zu verteidigen, dass sie wegen der Scheinbeschäftigungsaffäre 45.000 Euro zurückerstattet habe. Zu ihren Berggruen-Bezügen meinte die Ex-Banque-de-France-Chefin und ehemalige französische Verteidigungsministerin, sie "bedauere", dass diese Nebentätigkeit "Zweifel an ihrer Integrität und Unabhängigkeit geweckt" habe, weil Integrität und Unabhängigkeit für sie "von größter Wichtigkeit" seien.

Webers Rache?

Der Rechtsausschuss hatte sie mit dieser Rechtfertigung eine Runde weiter geschickt, aber gleichzeitig den ehemaligen ungarischen Justizminister László Trócsányi blockiert, weil dieser die von ihm gegründete Rechtsanwaltskanzlei weiterarbeiten ließ, als er 2014 ungarischer Justizminister wurde. Das ließ Fragen nach der Gleichbehandlung der Kandidaten verschieden einflussreicher Staatsführungen aufkommen (vgl. EU-Parlament: Zweierlei Maß bei der Genehmigung der Kommissarskandidaten?).

Eine eher inoffizielle Erklärung für die nun doch erfolgte Ablehnung Goulards lieferte vorab die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Sie spekulierte, ob sich der EVP-Spitzenkandidat und -Fraktionschef Manfred Weber auf diese Weise dafür revanchieren könnte, dass ihm Emmanuel Macron den Posten des EU-Kommissionspräsidenten verweigerte. In jedem Fall war es tatsächlich Weber, der mit Fragen wie der auffiel, wieso jemand wegen eines Skandals "als französische Ministerin nicht weitermachen, aber als EU-Kommissarin anfangen" wolle. Macron selbst bedauerte Goulard gestern als "Opfer eines politischen Spiels" und meinte, er werde in dieser Angelegenheit mit Ursula von der Leyen sprechen.

Eher für eine Revanche als für einen Willen zur Gleichbehandlung spricht auch, dass das EU-Parlament vorher Josep Borrell als neuen Außenbeauftragten akzeptierte, obwohl der spanische Sozialdemokrat wegen einer nicht gemeldeten 300.000-Euro-im-Jahr-Nebentätigkeit als Verwaltungsrat bei einem Energieversorger seinen Hut als Präsident des Europäischen Hochschulinstituts nehmen musste und einen 30.000 Euro-Strafbefehl akzeptierte, nachdem herauskam, dass er kurz vor der Insolvenz des Unternehmens Aktien verkaufte.

Juncker könnte länger bleiben

Einer anderen Sozialdemokratin waren die EU-Parlamentarier weniger freundlich gesonnen: der rumänischen Verkehrskommissarskandidatin Rovana Plumb. Die ehemalige Ministerin für Fördermittel wurde 2017 nach nur dreieinhalb Monaten Amtszeit aus dem rumänischen Kabinett entfernt, nachdem Korruptionsvorwürfe laut wurden. Damals soll sie dem Vorsitzenden ihrer sozialdemokratischen Partei bei einem rechtswidrigen Grundstücksgeschäft auf einer Donauinsel geholfen haben. Bezüglich bemerkenswert hoher Kredite machte sie widersprüchlich wirkende Angaben.

Wer das Balkanland statt ihr in der neuen EU-Kommission vertritt, steht immer noch nicht fest, weil Ursula von der Leyen den nächsten Vorschlag Dan Nica ablehnte und die rumänische Regierungschefin Vasilica Dăncilă gestern Nachmittag mit einem Misstrauensvotum im Parlament gestürzt wurde. Schaffen es Opposition und abtrünnige Sozialdemokraten dort nicht, sich auf einen Nachfolger zu einigen, könnte es mit der geplanten Gesamtbestätigung der neuen Kommission vor dem Amtsantritt am 1. November eng werden. In diesem Fall würde die alte Kommission von Jean-Claude Juncker länger im Amt bleiben.

Polnischer Kandidat akzeptiert

Mit "Nachsitzen" kamen dagegen zwei andere Kandidaten davon: Die schwedische Sozialdemokratin Ylva Johansson, die bei Fragen mit so bemerkenswerter Kenntnislosigkeit glänzte, dass sie diese später schriftlich beantworten durfte, und der polnische Agrarkommissar in spe, Janusz Wojciechowski. Seiner Partei und Landesregierung bekam von der scheidenden EU-Kommission gestern allerdings noch ein Abschiedsgeschenk mit: Eine weitere EuGH-Klage gegen ihre Justizreform (vgl. EuGH: Unabhängigkeit der Justiz kann auch durch Richterruhestandsregeln beeinträchtigt werden).

Um den Fortgang dieser Klage wird sich zukünftig allerdings nicht mehr der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermanns, sondern die Tschechin Věra Jourová kümmern, die der ANO-Partei ihres Landesregierungschefs Andrej Babiš angehört ( vgl. Tschechien: Babiš regiert mit Minderheitenkabinett). Sie verstand es bei ihrer Anhörung mit wolkigen, aber nichtssagenden Wohlfühlwörtern wie "fair" allen alles in Aussicht zu stellen und gleichzeitig kaum Konkretes zu versprechen.

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