Bulgariens Roma in Panik: "Der Staat nimmt uns unsere Kinder weg!"

Von Roma bedrängter Schuldirektor. Screenshot

Rechtsnationale bekämpfen die geplante "Nationalen Strategie für das Kind", die sie für unchristlich, familienfeindlich, antibulgarisch und gender-ideologisch halten

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Am Vormittag des Montags, 07. Oktober 2019, vollzog sich auf dem Schulhof der Bratja Miladinova-Schule im Viertel Nadeschda (Hoffnung) der zentralbulgarischen Stadt Sliven ein bizarrer Flashmob. Kurz nach zehn Uhr versammelte sich eine aufgebrachte Menge Eltern und forderte die sofortige Herausgabe ihrer Kinder. Es handelte sich um Roma, die durch Gerüchte aufgescheucht waren, die staatlichen Behörden beabsichtigten, ihnen ihre Kinder wegzunehmen.

Zu Aufläufen besorgter Roma kam es auch in Assenovgrad, Karnobat, Jambol und Sofia. Überall überzeugten Schuldirektoren und Lehrkräfte die Eltern nur mit Mühe, der Staat hege keine Absicht, ihnen ihren Nachwuchs zu entziehen. Dem Schock folgte die Ursachenforschung. Wer hatte durch Mund-zu-Mund-Propaganda und Videos in den sozialen Netzwerken die Massenhysterie unter den Roma erzeugt und zu welchem Zweck?

Waren es ultrakonservative religiöse Eiferer? Sie attackieren seit Jahresbeginn den Entwurf der Regierung einer Nationalen Strategie für das Kind 2019-2030, weil sie ihn für familienfeindlich, antibulgarisch, sorosoid und gender-ideologisch halten? Oder aber handelte es sich um eine Konspiration politischer Hasardeure im Hinblick auf die Kommunalwahlen am 27. Oktober 2019?

Roma-Viertel in Sofia. Bild: F. Stier

Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissov tippte auf beides. Er wies die staatlichen Behörden an, die Unruhestifter zu ermitteln und prophezeite, sie würden dabei sicherlich auf "irgendwelche Pastoren" und "Parteigänger" stoßen. Vor Wahlen gäbe es immer Stäbe, die derlei Dinge anrichteten, um seinem Kabinett zu schaden, analysierte der Regierungschef. Die Behauptung, der Staat nehme den Leuten ihre Kinder weg, lade sie auf Züge, um sie ins Ausland zu fahren und womöglich an kinderlose Schwulenpärchen zu vermitteln, sei eine "ungeheure Lüge". "Das Einzige, wovon die Regierung spricht und wovon sie nicht lassen wird, ist der Kampf gegen häusliche Gewalt an Kindern und sexuelle Übergriffe auf sie", beteuerte Borissov.

"So etwas können nur die Herrschenden organisieren", argwöhnte dagegen Slivens früherer Bürgermeister Jordan Letschkov. Der frühere Bundesligaprofi des Hamburger SV zählt zu Bulgariens Fußballegenden, seit er 1994 die Deutsche Nationalmannschaft aus dem Weltmeisterschaftsturnier in den USA köpfte. Einige Jahre war er für Borissovs rechtsgerichtete Regierungspartei "Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB) politisch aktiv, inzwischen gehört Letschkov zu ihren ärgsten Gegnern. Er bewirbt sich nun erneut um das Bürgermeisteramt in Sliven.

Für "christliche Familienwerte" und gegen die "unbulgarische Gender-Ideologie des neoliberalen Globalismus"

Borissovs Stellvertreter im Amt des Ministerpräsidenten, Tomislav Dontschev, vermutete den Feind in den eigenen Reihen. Es gebe da einen hohen Beamten im Verteidigungsministerium, orakelte er, ohne Namen zu nennen. Schnell war klar, dass er auf Alexander Urumov anspielte, den Leiter der ministerialen Pressestelle. Der ultrakonservative Evangelikale Urumov hat bei der Europawahl für die nationalistische VMRO kandidiert, den Juniorpartner in der Regierungskoalition.

Seit Jahren ist er eine der schrillsten Stimmen für "christliche Familienwerte" und gegen die "unbulgarische Gender-Ideologie des neoliberalen Globalismus". Die von ihm gegründete Stiftung "Bulgarische Organisation der Eltern und Kinder" (BORD) gehört mit der "Nationalen Gruppe Eltern vereint für die Kinder" (ROD) zu den organisatorischen Speerspitzen im Kampf gegen die nationale Kinderstrategie.

Zwei Wochen vor der Europawahl äußerte sich der Chef des Presseamts des bulgarischen Verteidigungsministeriums Urumov unmissverständlich zu seiner Haltung zu "Brüssel". "Wir sehen, wie die Europäische Union vor unseren Augen zerfällt", schrieb er in seinem Blog "1000 Zeichen". Die Werte, die Brüssel verordne, so Urumov, erregten eher "Unverständnis und Empörung als Verständnis oder Begeisterung".

Vergessen wir nicht, woher all das Übel kommt. Woher kommen die Monopole, die Gender-Ideologie, die Gier, noch mehr von der nationalen Souveränität zu entziehen und Brüssel zu übereignen. Es kommt von Brüssel, das ist offensichtlich. Brüssel ist die Quelle des Bösen. Deshalb richtet sich gegen Brüssel der wachsende Widerstand in Europa. Denn Brüssel ist bereits ein Problem für Europa.

Alexander Urumov

In der Endphase der Volksrepublik Bulgarien hat Urumov unter dem Decknamen Abel der Staatssicherheit zugetragen. Heute verbreitet er sein geschlossenes Weltbild in unzähligen Facebook-Postings und YouTube-Videoclips. Dabei schießt er auch scharf gegen Institutionen der Regierung, der er als PR-Verantwortlicher dient. Sein Dienstherr, der Parteiführer der VMRO und Verteidigungsminister Krasimir Karakatschanov, zweifelt dennoch nicht an seiner Loyalität. Er habe mit Urumov gesprochen und der habe ihm glaubhaft versichert, mit den Vorgängen in den Roma-Vierteln des Landes nichts zu tun zu haben, beteuert Karakatschanov.

Ob sich je erweisen wird, wer aus welchem Grund die Roma angestachelt hat, ihre Kinder aus Schulen und Kindergärten zu holen, ist unabsehbar. Es ist möglich, dass sie für politische Zwecke instrumentalisiert wurden. Dies geschah auch am 11. September 2019, als bei einer Demonstration gegen den Generalstaatsanwalt in spe Ivan Geschev vor dem Sofioter Gerichtspalast plötzlich eine organisierte Menge Roma erschienen. Sie waren offensichtlich in der Mission entsandt worden, als agents provocateurs die oppositionelle Kundgebung in den Augen der Mehrheitsbulgaren zu diskreditieren. Wer sie geschickt hat, ist bis heute ungeklärt.

Roma auf der Kundgebung am 11. September. Bild: F. Stier

Wie Alexander Urumov bestreiten auch seine Gesinnungsgenossen von der Nationalen Gruppe "Eltern vereint für die Kinder" (ROD) jegliche Verantwortung für Roma-Aufläufe. Als Urheber vermuten sie eher ihre Kritiker von den von George Soros finanzierten, liberalen Werten verpflichteten Nichtregierungsorganisationen. Die Sorosoiden, so meinen sie, könnten mit der Aktion beabsichtigt haben, ihren Kampf für die traditionelle Familie zu sabotieren.

Regierung knickt vor den konservativen Familienschützern ein

In der Auseinandersetzung um die Nationale Strategie für das Kind stehen sich die selben Fraktionen konträr gegenüber wie zum Jahresbeginn 2018 beim Streit um die sogenannte Istanbuler Konvention. Damals legte das Kabinett Borissov dem Parlament das "Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" zur Ratifizierung vor. Auf maßgebliche Initiative der VMRO erwuchs daraus ein ultrakonservativer Feldzug gegen das "dritte Geschlecht", die "Homoehe", den "Sexualunterricht für Kinderschüler" und andere "antibulgarische Werte" der vermeintlich "neoliberalen Gender-Ideologie" der Istanbuler Konvention. Schließlich sah sich Regierungschef Borissov genötigt, ihren Ratifizierungsprozess abzubrechen.

Nur zwei Monate nachdem seine Regierung im Januar 2019 ihren Entwurf der Nationalen Strategie für das Kind 2019 bis 2030 der Öffentlichkeit präsentierte, zog sie im März 2019 auch diesen zurück, kapitulierte erneut vor den Protesten ultrakonservativer Gruppierungen wie BORD und ROD. Die von Vertretern staatlicher Behörden, Nicht-Regierungsorganisationen und akademischen Kreisen erarbeitete nationale Kinderstrategie sollte eine theoretische Grundlage schaffen für die künftige Kinder- und Jugendpolitik, in Übereinstimmung mit den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention.

"Jedes in Bulgarien lebende Kind soll in jeder Etappe seiner Kindheit sein Potenzial entwickeln", heißt es in ihr, "es soll in einer gesunden, sicheren und seine Entwicklung fördernden Umgebung leben, die seine Rechte und sein Wohlergehen garantiert, bei gesicherter Unterstützung seiner Eltern und den Professionalisten, die sich um die Kinder kümmern."

Indem sich der Text aber gegen die Verabreichung von Ohrfeigen an Kindern ausspricht, beschneidet er nach Ansicht der Elternaktivisten von BORD und ROD die Rechte der Eltern, ihre Erziehungsmethoden selber zu bestimmen. Außerdem rücke die Strategie das Kind anstelle der Familie in das Zentrum sozialer Politik und übereigne dem Kind damit Rechte, die nicht ihm, sondern den Eltern zustünden, argumentieren sie. Dass die Regierung nach Aussage von Regierungschef Borissov ihre Nationale Strategie "eingefroren" hat, beruhigt ihre Gegner nicht. Unannehmbare Inhalte der Strategie seien kurzerhand und stillschweigend in Gesetzesnovellen eingeflossen, die das Parlament im Mai 2019 verabschiedet habe. Mit dem Inkrafttreten der novellierten Gesetze zum Schutz der Kinder und zu den Sozialen Diensten zum Jahresbeginn 2020 bekämen nicht staatliche Behörden die Macht, Kinder willkürlich ihren Eltern wegzunehmen. Auch Nichtregierungsorganisationen und sogar privaten Firmen würden als sogenannten Lieferanten sozialer Dienste derlei Vollmachten eingeräumt, behaupten die Elternaktivisten.

Sie befürchten für ihr Land Verhältnisse wie im Norwegen der berüchtigten Kinderfürsorgedienste Barnevernet (Kindergehirnschutz auf Norwegisch). Auch in Bulgarien könnten dann privatwirtschaftliche Organisationen Geld damit verdienen, Kinder aus ihren Familien zu nehmen, sie in Heimen unterzubringen oder an Pflegeeltern zu vermitteln, vielleicht sogar an kinderlose homosexuelle Pärchen in Skandinavien.