Amnesty wirft Türkei "schändliche Missachtung zivilen Lebens" vor

Serekaniye. Bild: kurdische Nachrichtenagentur Anha

Die Militäroperation "Friedensquelle" soll nach einer Vereinbarung zwischen den USA und der Türkei pausieren. Kurdische Quellen berichten, dass die Kämpfe weitergehen

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Eine "schändliche Missachtung zivilen Lebens" wirft Amnesty International der Türkei bei ihrer Militäroperation in Nordsyrien vor. Im Bericht der Menschenrechtsorganisationen werden zwei Luftangriffe - einer in der Nähe einer Schule, ein anderer auf einen zivilen Konvoi - herausgestellt, ein Granatenangriff und gezielte Tötungen, für die die Mitglieder der mit der Türkei verbündeten Miliz Ahrar al-Sharkiya verantwortlich sind.

Bei einem türkischen Luftangriff auf Salhiye soll am Morgen des 12. Oktober Munition in der Nähe einer Schule gelandet sein, wo die Zivilbevölkerung Zuflucht suchte, vier Personen wurden dabei getötet, darunter zwei Kinder, deren Körper "bis zur Unkenntlichkeit geschwärzt" waren, wird ein Mitarbeiter des kurdischen Roten Kreuzes zitiert.

Solche Bilder sollen vor Augen führen, dass die Zivilbevölkerung eben nicht, wie das immer bei Militäroperationen angekündigt wird ("Es geht nur gegen Terroristen"), verschont wird. Der AI-Bericht liefert noch weitere "Nahaufnahmen" grausiger Kriegsschäden durch die Operation "Friedensquelle". Sie werden in die Reihe von nicht weiter präzisierten "rücksichtslosen Angriffen" gestellt, die "Wohnviertel, ein Wohnhaus, eine Bäckerei und eine Schule" trafen.

Darüber hinaus nimmt der Bericht auch die Ermordung der kurdischen Politikerin Hevrin Khalaf und ihren mutmaßlichen Leibwächtern durch eine mit der Türkei verbündete Miliz auf, die in den letzten Tagen für internationales Aufsehen sorgte ( Türkische Proxy-Truppen: "Das übelste Gesindel"). Solche Gewalttaten müssen vor Gericht gebracht werden, so die Forderung der Menschenrechtsorganisation.

Über 200 tote Zivilisten

218 Zivilisten, darunter 18 Kinder, seien bisher durch die türkische Militäroperation ums Leben gekommen, 650 wurden verletzt, heißt es in einer Erklärung der Gesundheitsbehörde der kurdischen Verwaltung, die im AI-Bericht erwähnt wird.

Auch Opferzahlen auf türkischer Seite werden genannt. Dabei stützt man sich auf türkische Behörden, die von 18 getöteten Zivilisten und 150 Verletzten auf der türkischen Seite der Grenze berichten. Sie sollen Opfer von Granatenbeschuss sein, der von kurdischen Kräften in Syrien stammt. Sollte dies zutreffen, so der Amnesty-Bericht, dann liege auch hier ein Verstoß gegen internationale Gesetze vor. "Die kurdischen Kräfte sollten solche ungesetzlichen Angriffe sofort stoppen", appelliert Amnesty.

Hauptsächlich richtet sich die Kritik des Berichts allerdings an die Türkei. Man habe stichhaltige Beweise für die rücksichtslosen Angriff von dieser Seite. Als Quellen nennt man Zeugenberichte von 17 Personen - geflüchtete Zivilisten, humanitäre und medizinische Helfer, Journalisten - sowie Videoaufnahmen und medizinische Befunde, dazu andere Dokumentationen.

Kurdische Quellen, türkische Presse-Knebel

Wie es der eingangs genannte Mitarbeiter des kurdischen Roten Kreuzes und die Mitarbeit des Rojava Information Centers (ein Verbund internationaler Journalisten) am AI-Bericht anzeigt, stützt sich der Bericht auf Quellen, die kurdisch sind oder mit Kurden im angegriffenen Gebiet in enger Verbindung stehen.

Die Türkei hat keinerlei Interesse daran, diese Seite ihrer Militäroperation an die Öffentlichkeit zu bringen, wie sie das auch mit Verhaftungen unliebsamer Journalisten weithin klargemacht hat. So bleibt es kurdischen Medien überlassen, über Plünderungen islamistischer Milizen zu berichten, weil solche Berichte von türkischen Journalisten in Ankara sicher nicht gerne gesehen würden.

Dass die völkerrechtswidrige türkische Militäroperation, die z.B. seit über einer Woche Serekaniye (arabisch: Ras al-Ain) aus der Luft und am Boden angreift, zu zivilen Opfern führt, gehört zum Kalkül der Türkei. Die menschlichen Kosten auf kurdischer Seite sind für die Regierung in Ankara nicht interessant, nachzulesen sind sie demzufolge vor allem auf kurdischen Webseiten wie der deutschsprachigen Webseite ANF.

Von türkischen Angriffen auf Wohngebiete berichtet aber auch die syrische Nachrichtenagentur Sana.

"Kein Waffenstillstand, nur eine Pause"

Aus den genannten Quellen, wie dem Rojava Information Center, geht auch hervor, dass die Kämpfe in Serekaniye weitergehen, trotz der zwischen den USA und der Türkei vereinbarten Waffenruhe ("Don't be a tough guy. Don't be a fool!"). Bestätigt wird das hier, hier, hier und hier.

Auch der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu korrigierte den Eindruck, dass ein Waffenstillstand vereinbart worden sei. Es gehe nur um eine "Waffenruhe". Die wird offenbar nach türkischem Ermessen gestaltet. Ohnehin differieren die Interpretationen und die Schlüsse aus der US-türkischen Vereinbarung. So ist dem Text, wie ihn das Weiße Haus übermittelt vor den vereinbarten Punkten 1 bis 13 vorangestellt, dass die Türkei "unmittelbar einen Waffenstillstand in Kraft setzt".

Cavusoglu bezieht sich dagegen auf Punkt 11 der Vereinbarung, in dem es heißt: "Die türkische Seite wird mit der Operation Friedensquelle pausieren, um den Abzug der YPG aus der Sicherheitszone innerhalb von 120 Stunden zu gestatten. Die Operation wird so lange angehalten, bis der Abzug vollständig ist."

Vonseiten der SDF gab es Zustimmung für diese Abmachung. Allerdings ist der Abzug aus Ras al-Ayn (Serekaniye) für die SDF tückisch, da die Stadt vom türkischen Militär und ihren verbündeten Milizen (die eine Rechnung offen haben) umstellt ist. Folge sind gegenseitige Vorwürfe, die dem türkischen Militär den Vorwand geben, weiter anzugreifen.

Die türkische Sicherheitszone und der Vormarsch der syrischen Armee

Auffallend ist, dass in dem Dokument zwischen den USA und der Türkei keine Angaben zur Größe der Sicherheitszone gemacht werden. Dagegen kursierten heute in Berichten Informationen, wonach die Türkei Zusagen für eine 30 Kilometer breite Sicherheitszone erhalten habe.

Zuletzt wollten die USA dem Nato-Partner aus gerechtfertigten Sicherheitsinteressen lediglich eine 5 Kilometer breite Zone einräumen (auch diese jenseits aller internationalen Regelungen, da die USA nicht der Souverän über dieses Gebiet sind). Auch der US-Sondergesandte Jeffrey bestätigt eine 30 Kilometer breite Sicherheitszone in seinen Äußerungen. Laut Erdogan soll sie 444 Kilometer lang sein.

Allerdings differieren auch hier die Meinungen zur Durchsetzung. Am deutlichsten gegen "irrige Mainstream-Annahmen" argumentiert wieder einmal der Beobachter Moon of Alabama. Dort wird darauf verwiesen, dass die syrische Armee und Russland dem entgegenstehen:

Es wird keinen türkischen "Sicherheitskorridor" geben. Die kurdischen Zivilisten in Kobane, Ras al-Ain und in Qamishli werden nirgendwo hingehen. Die Türken werden diese Areale mit kurdischer Mehrheit nicht antasten, weil diese schon oder bald unter der Kontrolle der syrischen Regierung und ihrer Armee sein werden.

Moon of Alabama

Dass die syrische Armee nach der über Russland vermittelten Absprache bereits kurdische Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht hat, wird bei Sana berichtet. Dort zeigt man die syrische Fahne in Kobane (arabisch: Ayn al-Arab).

Der US-syrische Beobachter Ehsani 2 geht davon auch aus, dass die syrische Armee und Russland die Lücken füllen werden, die sich die nächsten fünf Tage durch den Abzug der kurdischen Verteidigungskräfte auftun. Sein Kurzkommentar spricht davon, dass die Türkei "wichtige Taschen" innerhalb des syrischen Gebiets behalten wird.

Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die 5-Tages-"Pause" am 22. Oktober endet. Für diesen Tag ist ein Treffen zwischen Putin und Erdogan in Sotschi geplant. Dort dürften die entscheidenden Verabredungen zu Nordsyrien getroffen werden. Auch das weitere Vorgehen in Idlib wird höchstwahrscheinlich dazugehören. Auch bleibt offen, wie lange die Türkei ihr "Protektorat" in Afrin behalten kann. Die syrische Regierung betont stets, dass die Türkei ein Aggressor ist

Die vielen verwickelten Krisengebiete in Nordsyrien stellen auch die Frage, wie mit Flüchtlingen umgegangen werden soll. Der türkische Angriff auf ein friedliches Gebiet hat bisher weit über 100.000 Menschen zur Flucht gebracht, die kurdischen Aufnahmelager waren zuvor schon überfüllt.

Eine syrisch-russische Offensive gegen dschihadistische Milizen in Idlib, die von manchen Beobachtern als "Gegengeschäft" zu einem Entgegenkommen bei türkischen Interessen erwartet wird, würde wahrscheinlich ebenfalls zu weiteren Binnenflüchtlingen führen.