Die Kinder des IS

Wie sollen die Herkunftsstaaten mit Kindern von IS-Anhängerinnen umgehen?

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Man nennt ihn "Oktopus". Abu Hatem Shakra ist sehr geschäftstüchtig, er hat viele Einnahmequellen, seine Beziehungen reichen bis in höchste Ämter. Seine Spezialität ist ein Gemisch aus Verbrechen und Terror, dabei zeigt er einigen Einfallsreichtum.

Seine Miliz Ahrar al-Sharqiya, zuletzt in Schlagzeilen mit brutalen Morden im Zuge der türkischen Offensive in Nordsyrien, hat kürzlich den Möglichkeitsraum zur Frage erweitert, was mit den IS-Gefangenen in den kurdischen Lagern passieren soll, wenn die kurdischen Sicherheitskräfte die Lagerinsassen nicht mehr bewachen können oder aus Sicherheitsgründen nicht mehr bewachen wollen, wie dies im Lager Ain Issa der Fall war.

Ahrar al-Sharqiya hat, wie es die britische Journalistin Josie Ensor berichtet Frauen, die aus dem Lager in Ain Issa befreit wurden, "in Obhut" genommen und versucht, deren Familien zu erpressen. Dabei wurden offenbar Mütter und Kinder voneinander getrennt. Es kursieren Gerüchte, so Ensor, dass die Türkei neue Lage für die frei gekommenen IS-Anhängerinnen und ihre Kinder in der "Sicherheitszone" errichten will. Dort würden sie dann "De-Radikalisierungsprogramme" durchlaufen.

Aber, wie die Korrespondentin für den britischen Telegraph hinzufügt, "die Situation ist ziemlich fluid". Keiner weiß genaues. Klar wird langsam, dass das Problem der IS-Gefangenen in den kurdischen Lagern monströs ist.

Die europäischen Länder sind übrigens nicht die einzigen, die davor zurückscheuen. Tunesien weigert sich ebenfalls, IS-Anhänger zurückzunehmen. "Von allen Nationalitäten rangieren die tunesischen Frauen ganz oben, wenn es um die Unerschütterlichkeit geht, mit der sie die Sache des IS innerhalb des Lagers vertreten", schreibt der US-Dschihadexperte Aaron Y. Zelin in einem aktuellen Lagebericht zum Camp al-Hol (englisch oft: Al-Hawl) in der Nähe der nordsyrischen Stadt al-Hasaka.

7.000 Minderjährige von ausländischen IS-Anhängerinnen

Dort listet er Großbritannien, Ägypten, Indonesien, Kasachstan, Marokko, Russland (Tschetschenien und Dagestan), Somalia, die Türkei, Usbekistan und eben Tunesien als Herkunftsländer der Frauen auf, die in unterschiedlichen Berichten als die inbrünstigsten Verfechterinnen der IS-Lebensweise aufgefallen sind. Geht es nach den Zahlen, die Zelin zur Lager-Abteilung für "ausländische IS-Anhängerinnen und ihre Kinder" in al-Hol bereithält, so sieht es nicht danach aus, als ob sich die Herkunftsländer in ihrem Eifer übertroffen hätten, ihre Staatsbürgerinnen zurückzuholen.

Auf über 11.000 wird die Zahl der Ausländerinnen mit Kindern in al-Hol beziffert. Die Zahl hat sich seit dem großen Zuwachs des Camps zu Beginn dieses Jahres nach der "Schlacht von Baghouz" nicht bemerkenswert verändert. Zur Spitzenzeit im April hatte das Lager insgesamt 73.000 Bewohner, jetzt sind es 68.000. Der Großteil, 86% der Insassen, stammt entweder aus dem Irak (45%) oder Syrien (41% ).

Die Zahl der über 11.000 Frauen und Kinder, die aus 62(!) anderen Ländern stammen und extra untergebracht werden, wird seit Monaten in etwa dieser Höhe angegeben. Es gab also kaum Rückholungen. 7.000 der Insassen im Annex-Teil des Lagers sind Minderjährige; fast zwei Drittel der ausländischen Insassen sind im Alter unter 12 Jahren. Rund 25 Prozent sind nach Informationen Zelins Kinder unter fünf Jahre alt. Sie kennen zum größten Teil nur die Weltanschauung des Islamischen Staates. In ihrem Geburtsjahr 2014 wurde das Kalifat ausgerufen

Wie groß der Anteil der überzeugten IS-Anhängerschaft im ausländischen Annex des Camps al-Hol ist, kann niemand genau sagen, weil die Fraktion der hartnäckigen IS-Anhängerinnen das Sagen hat und andere mit härtesten Strafen einschüchtern - es gab mindestens vier Tote in den letzten Wochen und es tagten geheime Gerichte, die IS-übliche Strafen mit körperlichen Züchtigungen aussprachen, dazu kamen Racheakte wie das Anzünden von Zelten.

Die kurdische Aufsicht war zahlenmäßig überfordert wie auch von der Brutalität der Angriffe gegen sie. Zuletzt wurde eine Schutzwand errichtet, was wiederum den Effekt hatte, dass der Kontakt mit den Gefangenen noch distanzierter war und daher Einblicke in die Haltung der Frauen und Kinder noch schwieriger wurden.

Vor Beginn der türkischen Militäroperation waren 400 kurdische Frauen und Männer für die Aufsicht zuständig, nun sollen es nur mehr 300 sein. Sollten die Kämpfe weitergehen, ist gut möglich, dass es noch mehr Asayisch-(Sicherheits)-Kräfte abgezogen werden. Internationale Hilfsorganisationen, die die kurdische Verwaltung bei der medizinischen Versorgung und bei den Lebensmitteln unterstützten, haben die Arbeit im Lager schon aufgegeben, sind dabei oder planen es.

Kein Schulbesuch, nur Indoktrination

Schon jetzt waren die Verhältnisse so übel, dass man es "Camp of death" nennt, schreibt Aaron Y. Zelin. Zwischen Januar und September starben 409 Kinder. Unterernährung und Krankheiten wie Cholera und Darmerkrankungen und Infektionen der Atemwege wüteten im Lager. Zu den hygienischen Großproblemen wie sauberes Wasser kam dazu, dass IS-Anhängerinnen aus ideologischen Gründen mit Hass und Tätlichkeiten auf Reinigungskräfte reagierten.

Ob es an den Extremistinnen lag, dass die Kinder keinen Schulunterricht bekamen, oder an organisatorischen Schwierigkeiten, geht aus den Ausführungen Zelins nicht hervor. Fakt ist, dass die Kinder keinen geregelten Unterricht bekamen und somit ganz der Schulung ihrer Mütter und der anderen Frauen ausgeliefert waren, die zum bestimmenden Teil der Ordnung und den Regeln des IS folgen. Im Camp der ausländischen Frauen und Kinder zeige sich Extremismus deutlicher als im Teil des Lagers, wo die irakischen und syrischen Frauen und Kinder untergebracht sind.

Seit al-Bagdadi, der frühere Kalif, der noch immer Chef des IS ist, im September zur Befreiung der IS-Frauen und -Kinder aufrief, hat sich die Situation im Lager deutlich verschärft ("Auf einmal trugen auch Mädchen mit 8 Jahren einen Schleier"). Die Kinder sollen mit Erzählungen aufgestachelt worden sein, wonach die Kurden ihre Väter umgebracht haben.

Bei der Massenaufnahme der IS-Anhängerinnen und ihren Kindern zu Anfang des Jahres war es nicht möglich, alle neu Aufgenommenen genau zu registrieren. Daher gibt es im Lager keine verlässlich genauen Angaben über die Identität von Frauen und Kindern.

Das zeigt an die Probleme an, die mit der Aussage verbunden sind, wonach sich "300 Minderjährige mit Bezügen nach Deutschland in den Kriegsgebieten aufhalten" (Spiegel). Wie viele Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit sich in al-Hol genau befinden, ist aus genannten Gründen nicht klar. Man kann davon ausgehen, dass jeder Einzelfall komplizierteste Ansprüche stellt, weil die Gesellschaft und die Rechtsprechung darauf nicht vorbereitet ist. Und das "deutsche Problem" ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer komplizierten Realität, die das Lager al-Hol betrifft.