Katalonien mobilisiert wieder

Demonstration in Barcelona. Bild: Ralf Streck

Die Unabhängigkeitsbewegung bereitet neue Massenproteste vor und schließt Bündnisse mit diversen Parteien im ganzen Staat gegen die Repression und für das Selbstbestimmungsrecht

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Auch in der zweiten Woche nach den harten spanischen Urteilen gegen 12 Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung ist die Bevölkerung weiter massiv mobilisiert. Am Samstag sind mehr als eine halbe Million Menschen allein in der katalanischen Hauptstadt Barcelona dem Aufruf der großen zivilgesellschaftlichen Organisationen gefolgt und sind auf die Straße gegangen; große Demonstrationen fanden auch in anderen Städten statt.

"Llibertat" (Freiheit) war das extra breit angelegte Motto. Und so haben zu den Protesten auch Organisationen aufgerufen, die sich sonst nicht beteiligen, wie die große spanische Gewerkschaft UGT. Zwar reduziert die Polizei die Beteiligung auf angeblich 350.000 herab, aber damit wiederspricht sie sich selbst. Vor einem Jahr wurde die gleiche Strecke auf der Marina vom Meer bis zur Sagrada Familia gefüllt, doch damals hatte sie die Beteiligung auf 750.000 beziffert.

Ralf Streck

Auch die spanische Gewerkschaft macht sich mit 500 anderen Organisationen Sorgen über die Unrechtsurteile gegen die ehemaligen Mitglieder der katalanischen Regierung und der Aktivisten, weshalb die UGT schon zuvor ein gemeinsames Manifest für "Rechte und Freiheiten" unterzeichnet hatte. Ein besonderer Grund für sie, sich den Protesten anzuschließen, ist, dass mit Dolors Bassa auch die ehemalige Sozialministerin und eine UGT-Aktivistin zu 12 Jahren Haft wegen angeblichem Aufruhr und Veruntreuung verurteilt wurde.

Wie in allen Fällen konnte das auch bei ihr nicht bewiesen werden, weshalb sich auch ihre Gewerkschaft empört. Letztlich wurden sie dafür verurteilt, am 1. Oktober 2017 für das Unabhängigkeitsreferendum Wahlurnen gegen das spanische Verbot aufgestellt zu haben. Spanien schaffte es auch mit brutalster Gewalt in einer "militärähnlichen Operation" nicht, das Referendum zu verhindern, wie internationale Beobachter festgestellt hatten.

Mehr als eine Woche verliefen die Proteste, wie in Katalonien seit Jahren üblich, wieder absolut friedlich. Allerdings gab es in der Nacht zum Sonntag lange nach dem Ende der Großdemonstration wieder einige Scharmützel mit Sicherheitskräften, ein paar brennende Barrikaden. Etwa 40 Menschen sollen dabei verletzt worden sein, dabei erneut Journalisten, die immer wieder Ziel von Angriffen der Sicherheitskräfte werden, wie sie bei einem gemeinsamen Protest beklagt hatten. Unter den Verletzten ist auch ein Mitglied der Regionalpolizei, der bei einer Verfolgung aus einem fahrenden Wagen gefallen sein soll.

"Freiheit für politische Gefangene". Foto: Ralf Streck

Zuvor hatte es von allen Seiten, auch von den politischen Gefangenen Aufrufe gegeben, zur Friedfertigkeit zurückzukehren, nachdem in der ersten Woche nach dem Urteil im ganzen Land Barrikaden brannten und es zum Teil massive Straßenschlachten mit der Polizei gab. Immer wieder stellen sich nun aber Aktivisten vor die Polizeiketten, um Gewalt zu verhindern. Allerdings reichten die auf der Via Laietana am Samstag nicht aus.

Einsatz von Gummigeschossen, schwere Verletzungen

Aufgerufen worden war zuvor dazu, die verbotenen Gummigeschosse der Nationalpolizei zurückzugeben, mit denen in den letzten zwei Wochen wieder vier Menschen so schwer verletzt wurden, das sie ein Auge verloren. Als die Geschosse in Richtung des Gebäudes der Nationalpolizei geschossen wurden, kam es zu Auseinandersetzungen, die sich später ins Umfeld verlagerten.

Über den Einsatz von Gummigeschossen beklagt sich Roger Español im Gespräch mit Telepolis besonders. Er fordert deshalb "den Rücktritt des katalanischen Innenministers" Miguel Buch, "weil der den Einsatz nicht verhindert". Espanol kandidiert für die vorgezogenen spanischen Neuwahlen auf der Liste von "Gemeinsam für Katalonien" (JxCat), der Formation des Innenministers. Er wird mit aller Wahrscheinlichkeit in den Senat einziehen, da er die Liste anführt. Das gesamte Gespräch mit Español ist demnächst hier nachzulesen.

Aktivisten stellen sich zwischen Polizei und Demonstranten. Bild: Ralf Streck

Ob die Gewalt wieder von eingeschleusten Provokateuren provoziert wurde, wie in der Woche nach den Urteilen üblich, konnte am Samstag nicht festgestellt werden, auch wenn immer wieder Maskierte aus den Demonstrationen geworfen wurden, weil sie angestachelt haben. Doch es war auch klar, dass es unter einigen Demonstranten eine erhebliche angestaute Wut über die Repression und Polizeibrutalität gibt.

Allerdings verlaufen die Proteste am heutigen Sonntag, an dem wieder Straßen und Autobahnen blockiert sind, bisher friedlich. Da allerdings heute spanische Unionisten nach dem Aufruf von ultranationalistischen Organisationen wie der SCC in Barcelona demonstrieren, darunter wieder viele Nazis, Rechtsradikale und Faschisten, die für extrem gewaltsames Auftreten bekannt sind, ist Gewalt heute in den Straßen Barcelonas programmiert.

Schulterschluss

Auf politischer Ebene rücken nicht nur die Parteien der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zusammen, sondern es kommt nun zu einem Schulterschluss zwischen verschiedensten Parteien, die das Selbstbestimmungsrecht verteidigen.

11 Parteien aus insgesamt sechs Autonomiegebieten, darunter auch die Republikanische Linke Kataloniens (ERC), JxCAT und die linksradikale CUP, aus dem Baskenland EH Bildu (Baskenland vereinen) und der Linksblock aus Galicien, dazu diverse kleinere Parteien aus Valencia und den Balearen, rücken zusammen.

Gruppenbild zur gemeinsamen Erklärung von 11 Parteien. Foto: Ralf Streck

Gemeinsam kritisierten sie am Freitag die "autoritären Rückschritte" im spanischen Staat, die ständigen Drohungen und die Repression. Dem halten die Unterzeichner der Erklärung der Llotja del Mar das "Recht auf Selbstbestimmung" und den "demokratischen friedlichen Charakter" der Organisationen zur Umsetzung der Ziele entgegen. Gefordert werden die "Freiheit der politischen Gefangenen, die Rückkehr der Exilierten" sowie die Umsetzung aller politischen und sozialen Rechte.

Mehr als 40 Jahre nach dem Tod des Diktators, der gerade erst umgebettet wurde, wird "die Unmöglichkeit, einer vollständigen Demokratisierung" vonseiten der großen spanischen Parteien beklagt. Obwohl Spanien den UN-Sozialpakt unterzeichnet und ratifiziert hat, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker schon in Artikel 1 als Menschenrecht definiert, gäbe es keinen Respekt vor den Nationen im Staat, deren Rechte im Rahmen einer Dezentralisierung weiter beschnitten werden.

Klar ist, dass die Proteste nicht abreißen. Und das gilt auch für das Baskenland, wo in den letzten Tagen immer wieder - wie am gestrigen Samstag in Pamplona - Zehntausende Menschen gegen die Repression und für die Freiheit auf die Straße gehen.

Tsunami Democràtic

In Katalonien ist mit massiven weiteren Protesten zu rechnen. Dafür sorgen zum Beispiel zwei neue Streiktage an den Schulen und Universitäten, die für den 30. und 31. Oktober angesetzt wurden. Tsunami Democràtic hat die Bevölkerung aufgefordert, sich am Tag vor den vorgezogenen Neuwahlen zum spanischen Parlament für eine neue spektakuläre Aktion bereit zu halten.

Foto: Ralf Streck

400.000 Menschen folgen der Organisation auf Telegram. Die erste erfolgreiche Aktion bildete die Blockade des Flughafens nach Vorbild aus Hongkong am Tag der Urteilsverkündung. Jeder neu gewählten Regierung will Tsunami Democratic mit neuen spektakulären Massenaktionen zu Land, zu Wasser und in der Luft für den 11., 12. und 13. November begegnen.

Denn dass der spanische Regierungschef Pedro Sánchez eine Mehrheit mit den rechten Ciudadanos (Bürger) hinbekommt, um von Stimmen von Podemos und katalanischer und baskischer Formationen unabhängig zu sein, ist ziemlich unklar. Nach Umfragen ist es derzeit eher möglich, dass die drei rechten und ultrarechten Parteien das Modell Andalusien und Madrid auf ganz Spanien ausbreiten können.