Amri und die V-Leute

Im Untersuchungsausschuss des Bundestages gibt ein Führungsbeamter Auskunft zu einer Quelle - und im Berliner Ausschuss kann der stellvertretende Generalbundesanwalt viele Fragen nicht beantworten

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Der Fall Amri ist vieles - aber vor allem ein Geheimdienst- und Staatsschutzfall. Schon bald nach seiner Einreise im Juli 2015 hatte der Tunesier Anis Amri Kontakt zu einem der Hotspots der gewaltbereiten islamistischen Szene in Deutschland um die Figur Abu Walaa, die als IS-Vertreter in Deutschland galt.

In dessen Netzwerk bewegten sich auch zahlreiche Quellen von Sicherheitsbehörden. Bekannt ist die sogenannte Vertrauensperson (VP) 01 namens "Murat", geführt vom Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen. Es gab aber mindestens drei weitere V-Personen sowie einen hauptamtlichen Verdeckten Ermittler in der Gruppierung. Hinzu kommt das Mitglied Alexander B., das für einen jordanischen Geheimdienst tätig war.

Der Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestages konnte jetzt den Führungsbeamten der VP 01 hören - und zwar in öffentlicher Sitzung. Das Innenministerium des Landes NRW machte damit möglich, was das Bundesinnenministerium dem Ausschuss bisher kategorisch verweigert: nämlich den V-Mann-Führer jener Quelle zu hören, die das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in der Berliner Fussilet-Moschee, die zu Amris näherem Umfeld zählte, plaziert hatte. Deshalb ist beim Bundesverfassungsgericht eine Klage des Bundestages gegen die Bundesregierung anhängig - Ende nicht absehbar.

"Murat" war die erste V-Person, die das LKA im Deutschsprachigen Islamkreis (DIK) und der DIK-Moschee in Hildesheim einsetzte, wo Abu Walaa als Prediger auftrat. Deshalb erhielt sie die Nummer "01". Sie wurde 2015 gezielt dort platziert. Der Agent arbeitete bereits seit Jahren inoffiziell für die Polizei in einer nicht näher benannten Stadt in Nordrhein-Westfalen. Allerdings nicht im Bereich Islamismus, sondern im Bereich Organisierte Kriminalität (OK). Für die neue Spitzelarbeit wurden er sowie sein lokaler V-Person-Führer (kurz: VPF) zum LKA und der Ermittlungskommission (EK) Ventum abgeordnet. Die VP 01 wurde von insgesamt drei Beamten geführt: VPF-1, VPF-2 und VPF-3 - so die entsprechende Staatsschutznomenklatur. Als Zeuge im Bundestag erschien VPF-2, ein 43jähriger Kriminalhauptkommissar, dessen dienstliche Aufgabe ausschließlich Quellen-Führung ist und der mehrere Quellen führt.

"Radikal" und "brandgefährlich"

Mitte November 2015 soll "Murat" dann auf Anis Amri gestoßen sein. Der Kontakt soll bis Mitte 2016 bestanden haben und dann abgebrochen sein, weil Amri nicht mehr in der Gruppierung um Abu Walaa verkehrt haben soll. Amri, so die VP 01 nach dem VP-Führer, soll von Anfang an "rigoros" aufgetreten sein. Sie bezeichnete ihn als "radikal" und "brandgefährlich". Am 3. Dezember 2015 beispielsweise berichtete sie, Amri sei fest entschlossen in Deutschland einen Anschlag zu begehen. Er habe erklärt, er könne aus Paris Waffen beziehen. Ein anderes Mal, er könne einen Sprengstoffgürtel auftreiben.

Zwischen BKA, LKA NRW und Bundesanwaltschaft (BAW) war die Glaubwürdigkeit von "Murat" umstritten. Ein BKA-Beamter formulierte Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Anschlagsplanung Amris, so wie sie die VP 01 mitgeteilt hatte. Fragwürdig sei, dass Amri ihr überhaupt diese Planung anvertraut habe. Der Führungsbeamte VPF-2 dagegen bezeichnet seine Quelle als "absolut glaubwürdig", sie sei über zehn Jahre lang für die Polizei in Nordrhein-Westfalen in "herausragender Funktion und Qualität" tätig gewesen. Auch die Leitung der EK Ventum sowie die Bundesanwaltschaft hätten das geteilt.

Auf Nachfragen räumte der Kriminalbeamte ein, seine Quelle habe im Einsatz auch Straftaten begangen. Was für welche wollte er in öffentlicher Sitzung nicht sagen. Es sei aber nicht so weit gegangen, dass sie nicht mehr geeignet gewesen sei. Er bestritt außerdem, dass die Quelle vor Strafverfolgung geschützt worden sei. Etwas, was die sogenannten Zusammenarbeitsrichtlinien zwischen Geheimdiensten, Polizei und Staatsanwaltschaften möglich machen und aus dem NSU-Komplex bei V-Leuten im rechtsextremistischen Bereich zur Genüge bekannt ist.

Die V-Person berichtete ihrem VP-Führer etwa dreimal wöchentlich bei konspirativen Treffen über ihre Einsätze. Das ist ungeheuer häufig und sieht nicht nach einfacher privater Informantentätigkeit aus, sondern eher nach einer hauptamtlichen Beschäftigung. Für den Abgeordneten Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) klang es nach der eines "verdeckten Ermittlers", nur eben nicht verbeamtet. Der VP-Führer widersprach dieser Beschreibung nicht, erklärte aber, die VP habe trotzdem noch ihr eigenes Leben geführt.

Die Frage allerdings, wie die berufliche Legendierung aussah, damit das nicht auffiel, blieb unbeantwortet. Das sei Polizeitaktik. Das Ausschussmitglied Martina Renner (Linke) rechnete hoch: Drei Treffen pro Woche heiße 12 Treffen pro Monat. Bei einem Honorar von 200 Euro pro Einsatz mache das 2400 Euro im Monat. Der Zeuge wollte diese Zahlen nicht kommentieren, sondern erklärte nur, eine Quelle dürfe nicht überwiegend von ihrer Quellentätigkeit leben.

Das Verhältnis von VP 01 und Amri war eng. Ende Februar 2016 chauffierte der Spitzel den Tunesier persönlich im Auto nach Berlin. Einmal half "Murat" Amri ein Handy zu kaufen, ein andermal begleitete die Quelle den Gefährder zum Sozialamt in Oberhausen. Durch eine Indiskretion seitens der Polizei wäre "Murat" dabei beinahe aufgeflogen. Dasselbe drohte, nachdem Amri am Zentralen Omnibusbahnhof in Berlin bei seiner Ankunft durch die Polizei kontrolliert wurde. Einer derjenigen, die von der Busfahrt wussten, war "Murat".

Diese wiederholt fahrlässige Führung der Quelle ist auffallend. Jedenfalls wuchs bei Amri der Verdacht, dass "Murat" ein Spitzel sei. Er beschimpfte ihn und drohte ihm, ihn zu "schlachten".

Warum wurde Amri aus der Beobachtung ausgeschlossen?

Im Sommer 2016 wurde der Informant "Murat" aus dem Umfeld von Abu Walaa abgezogen - vorsorglich, um ihn nicht in Verbindung mit den vorbereiteten polizeilichen Maßnahmen gegen Leute aus der Gruppe bringen zu lassen. Das passierte dann aber doch, weil die Maßnahmen auf Quellen-Informationen gestützt waren. Der VPF 02 sprach im Ausschuss davon, dass das eine "erwartbare Situation" gewesen sei. Das aber hieße: Die Polizei hat die V-Person sehenden Auges geopfert. Warum? War das der Preis für den Prozess gegen Abu Walaa?

Die Ermittler waren gegenüber der Abu-Walaa-Gruppierung in die sogenannte "offene Phase" getreten, wie sie genannt wird: Es kam zu Durchsuchungen und ersten Festnahmen und im November 2016 schließlich zu Verhaftungen von fünf Beschuldigten. Seit September 2017 läuft der Staatsschutzprozess gegen Abu Walaa, Boban S., Hasan C., Mahmoud O sowie Ahmed F.Y. Nachdem "Murat" enttarnt war, rief Abu Walaa dazu auf, ihn zu töten.

Amri war nicht unter den Beschuldigten, obwohl er der Polizei als einer der Gefährlichsten in den DIK-Strukturen galt. Ab Juni 2016 war Amri aus der Bearbeitung durch die EK Ventum wieder herausgenommen genommen. Warum? Weil der Zugriff auf Abu Walaa und Co. vorbereitet wurde? Auf Amris Funktion als "Nachrichtenmittler" im Deutschsprachigen Islamkreis, dessen Telefon abgehört wurde, wurde wieder verzichtet. Warum? Weil sie verzichtbar war? Unbeantwortete Fragen, wie die, wer danach für ihn, der doch als der vielleicht Gefährlichste in der Gruppierung galt, zuständig war.

Nach dem Rückzug der VP 01 sei von der EK Ventum erwogen worden, andere Spitzel auf Amri anzusetzen, so VPF-2, was daraus wurde, wisse er aber nicht. Ein solcher Plan passt allerdings nicht so ganz mit der Erklärung zusammen, man habe Amri Ende Mai 2016 aus der EK Ventum herausgenommen und in einer anderen Ermittlungsgruppe "geparkt". Wollte man ihn nun weiter bearbeiten oder nicht?

Aus den Ermittlungsakten zum Abu-Walaa-Verfahren geht hervor, wie Martina Renner erklärte, dass es nach der VP 01 mindestens die V-Personen 02, 03, 04 sowie einen verdeckten Ermittler in dem dschihadistischen Netzwerk gegeben hat. Der verdeckte Ermittler sollte ein Ladengeschäft anmieten, über das Ausschleusungen organisiert werden sollten, eine der VPs sollte ihn absichern. Die VP 02 war bereits einmal vom hessischen LKA eingesetzt worden, VP 03 wurde vom nordrhein-westfälischen LKA geführt, ebenso wie die VP 04, die zusätzlich für belgische Behörden gearbeitet haben soll. Bei fünf Beschuldigten eine relativ hohe Quellendichte, so Renner, die die Frage aufwirft: Haben alle diese Informanten auch über Amri berichtet?

Man kann auch den Spion Alexander B. noch dazu zählen, weil dessen Informationen für einen jordanischen Dienst an deutsche Dienste zurückgeflossen sein könnten. Immerhin hatte es auch von marokkanischen und tunesischen Stellen Hinweise zu Amri an deutsche Behörden gegeben.