Wendepunkt in Chile

Über eine Million Chilenen demonstrieren am Freitag in Santiago. Bild: Twitter

Der Ausnahmezustand ist beendet. Massendemonstrationen zwingen Piñera, seinen Ton zu ändern, das Kabinett soll neu besetzt werden

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Die Proteste in Chile für tiefgreifende Reformen zeigen ihre Wirkung. "Eine harte und ernüchternde Woche" resümiert Präsident Sebastian Piñera und zieht Konsequenzen aus der knapp zweiwöchigen Staatskrise. In einer Ansprache am Samstag sagte er, es sei an der Zeit, Änderungen im Kabinett vorzunehmen, er habe alle Minister zum Rücktritt aufgerufen. Am Sonntag verkündete er zudem die Aufhebung des Ausnahmezustands und das Ende der Ausgangssperre. In wenigen Wochen findet in Chile der Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) statt, kurz darauf der Weltklimagipfel. Piñera will schnell zurück zur Normalität.

Ausgelöst durch eine Tariferhöhung der U-Bahntickets entwickelten sich binnen kürzester Zeit erste Proteste zu landesweiten Unruhen und Streiks. Der Unmut über die Ticketpreise wandelte sich binnen weniger Tage in massive Proteste gegen soziale Ungleichheit und aus wachsender Frustration über steigende Kosten in vielen Bereichen, wie Gesundheit, Bildung, Strom- und Wasserversorgung, aber auch zunehmend gegen die staatliche Gewalt. Präsident Piñera sprach zunächst von "Krieg" und schickte das Militär auf die Straße. Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen und eine Ausgangssperre verhängt. Es gab über 7.000 Festnahmen. Mindestens 19 Menschen kamen bisher ums Leben. Vier wurden von Polizisten oder Soldaten erschossen.

Berufsverbände schlossen sich vergangene Woche den Protesten an, Lehrer, Krankenhauspersonal, und vor allem Bergbauarbeiter streikten. Autobahnen wurden blockiert, wichtige Verkehrsadern lahm gelegt. Der Stillstand der für Chile wichtigen Lithium- und Kupferproduktion drohte. Statt mit noch mehr Militär reagierte Piñera mit Zugeständnissen und näherte sich den Forderungen der protestierenden Bürger an. Er versprach eine Sozialreform, höhere Steuern für die Reichen und eine Erhöhung des Mindestlohns sowie der Renten um 20%.

Doch die Proteste ließen sich dadurch nicht eindämmen. Es werden Forderungen nach grundlegenden Änderungen des politischen und wirtschaftlichen Systems laut. Am Freitag ging über eine Million Chilenen, knapp ein Fünftel der Stadtbevölkerung, in Santiago auf die Straße, um weiter für Reformen des Sozial- und Wirtschaftsmodells des Landes zu demonstrieren. Viele fordern auch den Rücktritt des Präsidenten, der als einer der reichsten Chilenen gilt.

Piñeras Umfragewerte liegen im Keller

Piñera will nun sein Kabinett komplett austauschen, doch mit wem, ist noch unklar. Viele Optionen bleiben nicht, denn seit seinem Amtsantritt im Frühjahr 2018 hat er es bereits zweimal umgebildet. Fest stehen bisher die Rücktritte des Finanzministers Felipe Larraín, der Regierungssprecherin Cecilia Pérez und des Innenministers Andrés Chadwick, Piñeras Cousin und glühender Pinochet-Anhänger. Dies sei ein Signal, das von einer strukturellen und tiefgreifenden Veränderung zeuge, die vor einigen Wochen noch als undenkbar galt, kommentiert die Tageszeitung La Tercera. Neuwahlen werde es jedoch nicht geben. Auch das Amt des Präsidenten stehe nicht zur Disposition. Noch nicht.

Einer am Sonntag veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Cadem zufolge lehnen jedoch drei Viertel der Chilenen die Mitte-Rechts-Regierung von Piñera ab. 80% der Chilenen halten wenig von den angekündigten Reformen. Piñera selbst kommt nur noch auf 14% Zustimmung. Das sei ein "historisches Minimum", der niedrigste Zuspruch in der Bevölkerung seit der Rückkehr Chiles zur Demokratie.

Zwar wird bei der Neubesetzung des Kabinetts auch das übliche Personalkarussell befürchtet, doch scheinen die Proteste auch die Stimmung unter den Privilegierten des Landes zu verändern. Evelyn Matthei, Bürgermeisterin von Providencia und Spitzenkandidatin der ultrarechten Pinochet-Partei UDI bei den Präsidentschaftswahlen 2013, fordert eine "tiefgreifende Veränderung". Sie rief dazu auf, Menschen aus der Mittelschicht oder den Provinzen ins Kabinett zu bringen, Leute mit einer "Straßen"-Biografie und nicht nur von Privatschulen oder der katholischen Universität. Matthei ist selbst Absolventin der Päpstlichen Katholischen Universität von Chile.

Offen bleibt auch die Frage, mit welchen Mitteln Piñera sein Versprechen, einlösen will, "eine breite, tiefe, fordernde und verantwortungsvolle Sozialagenda zu fördern", die unter anderem vorsieht: Erhöhung der Renten, bessere öffentliche Dienstleistungen, bezahlbare Krankenversicherungen, ein garantiertes Mindesteinkommen der Arbeitnehmer, territoriale Gerechtigkeit zwischen den Gemeinden, höhere Steuern für einkommensstarke Sektoren, Diätensenkung für Abgeordnete und höhere Gehälter im öffentlichen Sektor.

Viel Zeit bleibt ihm nicht, das Land zu beruhigen. Zur Weltklimakonferenz Anfang Dezember werden 30.000 Teilnehmer erwartet. In drei Wochen beginnt das APEC-Treffen, zu dem auch Donald Trump, Xi Jinping und Wladimir Putin eingeladen sind. Und aus dem seit über fünf Monaten von Ausschreitungen gebeutelten Hongkong Carrie Lam.

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