Nichts wird so bleiben wie es ist

Malé, Hauptstadt der Malediven, liegt knapp einen Meter über dem Meeresspiegel. Bild: Shahee Ilyas/CC BY-SA-3.0

Vom gescheiterten Versuch, Klimaprobleme durch Wegschauen zu vertreiben - Zwischenruf eines Richters

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wer unerschütterlich der Meinung ist, alles könne so weiter gehen wie bisher, kann sich die Lektüre dieses Textes sparen, sie brächte ihm nur schlechte Laune. Gleiches gilt für diejenigen, die glauben, mit Beruhigungspillen der Machart "GroKo Klimapaket" sei das Notwendige getan. Im Folgenden findet sich ein Denkangebot für diejenigen, die die Courage haben, die Zukunft ohne rosarote Brille zu betrachten. Das wird nicht ohne tiefe Einschnitte in vertraute Denkweisen abgehen.

Es geht um alles oder nichts

Zugespitzt geht es heute um zwei Fragen: Soll der homo sapiens ("weiser Mensch") als Teil der Natur auf diesem Planeten überleben können (Variante A)? Oder soll ein - bisher äußerst erfolgreiches - Wirtschaftssystem erhalten bleiben (Variante B)? Beides zusammen geht nicht.

Wer sich für Variante B entscheidet, muss wissen, dass dieses Modell am Tropf der (endlichen!) Naturgüter hängt und spätestens dann kollabieren wird, wenn die Ressourcen Luft, Wasser, Boden (-schätze), Klima erschöpft bzw. zerstört sind.

Zeugen kommenden Unheils

Einige Inselstaaten in der Südsee wissen es heute schon, ebenso die Eisbären im Polargebiet. Unsere Welt steht am Abgrund. Auch Millionen sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge, die durch klimatische und ökologische Verwerfungen ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden, sind Zeugen kommenden Unheils.

Entwicklungshilfeminister Gerd Müller sagte kürzlich, die wichtigsten sieben Industriestaaten müssten sich auf verbindliche Klimaschutz-Ziele verständigen. "Wenn wir das Zwei-Grad-Ziel nicht erreichen, müssen wir mit 200 Millionen Klimaflüchtlingen rechnen." Andere Studien gehen davon aus, dass es bis zum Jahr 2100 bis zu zwei Milliarden Klimaflüchtlinge geben könnte.

Alles nur Panikmache? Nein, die Weltbank, grüner Verirrungen unverdächtig, warnte bereits 2012, dass die Welt bis zum Jahrhundertende auf eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um vier Grad zusteuere.

Die Gegenmaßnahmen der Regierenden sind Augenwischerei. Mit Strohhalmverbot, Blühstreifen am Autobahnrand, CO2-Steuer im unteren Cent-Bereich und jahrzehntelangen Auslauffristen für Kohlekraftwerke werden wir das Klima - genauer gesagt: uns selbst - nicht retten. Das Klimapaket der deutschen Bundesregierung ist bereits jetzt ein historisches Dokument. Es ist nämlich ein Beleg für das Unvermögen zu entschiedenem Handeln. Das Papier gleicht dem alttestamentarischen Menetekel, der Feuerschrift an der Wand, die den drohenden Untergang ankündigt: gezählt, gewogen und zu leicht befunden.

In augenfälligem Widerspruch zur Dramatik der Klimasituation war das Bemühen der Kanzlerin, bei der Vorstellung ihres Klimapakets nicht einzuschlafen. So nachvollziehbar das Schlafbedürfnis nach einem 19-stündigen Verhandlungsmarathon war, so zwergenhaft mutet das unter Merkels Richtlinienkompetenz ausgefeilschte Klimapaket an. Es ist ein Kotau vor den Wünschen der Wirtschaft und vor dem Wahlvolk, dem man Opfer nicht zumuten will.

Der Klimawandel ist längst da

Ein gefährliches Täuschungsmanöver besteht darin, dass so getan wird, als gelte es, einen künftigen Klimawandel zu verhindern. Die Wahrheit ist, dass der Klimawandel längst da ist. Neue wissenschaftliche Daten zeigen, dass sich der Golfstrom seit Mitte des 20. Jahrhunderts um 15 Prozent verlangsamt hat mit großen Auswirkungen auf das Klima.

Gleichzeitig beobachten wir ein rapides Abschmelzen des arktischen Meereises und des Grönlandeises. Damit verbunden ist ein kontinuierlicher Anstieg des Meeresspiegels mit existenziellen Bedrohungen für niedrig gelegene Inseln und für die zahlreichen Megastädte an Meeresküsten. Unübersehbar ist die Zunahme verheerender Wirbelstürme in der Karibik und im nördlichen Pazifik. Der Bericht der World Meteorological Organization (WMO) von 2018 besagt, dass die 20 heißesten Jahre weltweit in den letzten 22 Jahren waren. Die vergangenen vier Jahre waren zudem die vier wärmsten, seit gemessen wird.

Auch in unserer engeren Heimat erleben wir den Klimawandel hautnah. Ein Hitzerekord jagt den anderen. Am 24. Juli 2019 wurden in Geilenkirchen (NRW) 40,5 Grad gemessen. Damit war der bisherige deutsche Allzeitrekord von 40,3 Grad (2015 in Kitzingen) gebrochen. Der neue Rekord hielt genau einen Tag. Am 25. Juli hat der Deutsche Wetterdienst für das niedersächsische Lingen eine Temperatur von 42,6 Grad bestätigt. Der Rekord wird vermutlich nicht lange halten. Begleitet wird die Aufheizung durch geringere Niederschlagsmengen und längere Trockenperioden. Die ersten Bäche trocknen aus und kommunale Wasserversorgungen leiden an Wassernot. Außerdem sind wir Zeugen immer häufigerer und heftigerer Sturmereignisse sowie des rapiden Abschmelzens der alpinen Gletscher.

Bittere Wahrheit ist, dass wir mitten in einem menschengemachten Klimawandel stehen. Nur noch Großdenker vom Format eines Donald Trump leugnen das.

Mit dem Klima lässt sich nicht verhandeln

Wir wissen spätestens seit den frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in welch prekärer Situation unser Heimatplanet ist (z. B. Meadows Report an den Club of Rome: "Grenzen des Wachstums", 1972; Haber: "Stirbt unser blauer Planet", 1973; Eppler: "Ende oder Wende", 1975; Gruhl: "Ein Planet wird geplündert", 1975). Systemhöflinge hatten jedoch nichts Besseres zu tun, als an diesen Wegmarken für ein zeitgemäßes Weltverständnis herumzumäkeln und nach Ungenauigkeiten zu suchen. Heute weiß man, dass die Kernaussagen der genannten Autoren stimmen.

Ende des letzten Jahrhunderts sprach die etablierte Politik dann scheinheilig von einer Versöhnung von Ökonomie und Ökologie. Tatsache ist, dass der vermeintliche Interessenausgleich zumeist zu Lasten von Natur, Umwelt und Klima ausfiel.

Das Geschehen erinnert an das Märchen vom Hasen und dem Igel. Immer wenn der Hase Umweltschutz kurz vor dem Ziel war, sprang der Igel Wirtschaft aus der Ackerfurche und rief "Ich bin schon hier" und machte mit neuen Produkten und Verkaufsrekorden die angestrebten Umweltverbesserungen zunichte. Beispiel: Der Umweltgewinn durch sparsamere Motoren wurde durch höhere PS-Zahlen und größere Fahrleistungen entwertet. Die Politik stand am Ackerrand und sah zufrieden zu, wohlwollend begleitet von den Wirtschaftsverbänden. Das Ergebnis dieses Vabanquespiels sehen wir heute. Versäumnisse der Vergangenheit beginnen sich zu rächen. Das Klima hat ein langes Gedächtnis. Es lässt nicht mit sich verhandeln.

Zeit zum Handeln

Wir wissen heute, dass die Kosten für die Reparatur von Umweltschäden um ein Vielfaches höher sind als die Kosten der Schadensvermeidung. Das Umweltbundesamt hat errechnet, dass die durch den deutschen CO2-Ausstoß verursachten Umweltschäden allein im Jahr 2016 satte 164 Milliarden Euro betragen. Noch schlimmer sind Klimaschäden, denn sie sind praktisch irreparabel. Der Weltklimarat warnt eindringlich, dass wir vor einem planetaren Notstand stehen, weil sich das Zeitfenster für Gegenmaßnahmen schnell schließt. Die Experten sagen außerdem, dass die Kosten weiterer Untätigkeit katastrophal sein werde.

Die Erkenntnis hieraus lautet: Wachstumsphantasien, kurzatmige Konjunkturprogramme und populistische Wohlstandsversprechen sind ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das uns in diese Katastrophe geleitet hat, ist klimapolitisch keine Zukunftsoption mehr. Die Perversität des Systems zeigt sich am deutlichsten darin, dass seine wirtschaftlichen Erfolge mit Blick auf die Zukunft noch zerstörerischer wirken als seine Misserfolge.

Trotz apokalyptischer Bedrohungsszenarien werden Umwelt- und Klimaprobleme noch immer wie Plagegeister behandelt, die man glaubt durch beharrliches Wegschauen vertreiben zu können. Wir sägen emsig an dem Ast, auf dem wir alle sitzen, und messen voll Stolz die wirtschaftliche Leistung des Sägens, ohne zu bedenken, daß der Ast umso schneller abbrechen wird, je fleißiger wir sägen.

Wir müssen endlich aufwachen. Die Zeit für Klimaprogramme, die ihre volle Wirksamkeit erst Mitte des Jahrhunderts entfalten sollen, ist vorbei. Wir müssen handeln, nicht irgendwann, sondern jetzt. Mit aller Entschlossenheit. Das ist eine zutiefst moralische Verpflichtung. Denn die Zeche für weiteres Zuwarten zahlen die, die sich nicht wehren können, unsere Kinder und Kindeskinder.