Norwegens Kinderschutzbehörde auf der Anklagebank in Straßburg

Kläger beanstanden Eingriffe in das von der Verfassung geschützte Recht auf Familienleben

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Politiker von drei Oppositionsparteien in Norwegen haben am Freitag den Minister für Kinder und Familien Kjell I. Ropstod in Oslo bezüglich des staatlichen Kinderhilfswerks zum Handeln aufgefordert. Der Minister sehe die "ernsthaften Herausforderungen, die im Bereich des Kindeswohls bestehen, nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit". Heißt es in dem offenen Brief.

Grund für die Initiative ist die Meldung, dass sich der Menschengerichtshof in Straßburg mit neun weiteren Klagen gegen die Behörde befassen wird, die auf norwegisch "Barnevernet" heißt. Kritiker werfen der Behörde vor, schon bei dem geringsten Verdacht, Eltern das Sorgerecht zu entziehen und die Kinder zur Adoption freizugeben. Vor zwei Jahre beschwerten sich 170 Anwälte, Psychologen und Sozialpädagogen in einem offenen Brief über die Praktiken der Behörde (Kindergehirnschutz auf Norwegisch).

Das Gericht in Straßburg hat in der letzten Zeit mehrere Fälle über das Barnevernet aufgenommen, in zwei Fällen kam es zur Verurteilung Norwegens wegen Menschenrechtsverletzungen, in zwei zu Freisprüchen; 31 Beschwerden werden derzeit noch geprüft.

Aufgrund dieser Beanstandungen um die Kinderbehörde steht Norwegen von 47 europäischen Staaten bei dem Gerichtshof in Straßburg auf Platz neun, was Klagen gegen Menschenrechtsverletzungen angeht. Gegen Schweden beispielsweise gibt es nur zwei Beschwerden.

Allen neuen aktuellen Fällen sei gemeinsam, dass die Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Artikel 8 zum Recht auf Familienleben geltend machen. In einigen Fällen ging es zudem um Artikel 6, das Recht auf ein faires Verfahren, schreibt die norwegische Zeitung "Dagbladet".

Diese Praktiken sorgten immer wieder international für Aufsehen. So wurde 2016 einer norwegisch-rumänischen Familie wegen angeblicher Misshandlung fünf Kinder entzogen, worauf diese in mehreren europäischen Ländern Proteste organisierten und die Kinder zurück bekamen.

Stärker auf Prävention ausgerichtet

Seit einer Gesetzesnovelle von 2000 wird ein größerer Fokus auf präventive Maßnahmen gesetzt, um so die Kinder recht früh vor möglichem Missbrauch zu schützen. Dabei werden Eltern generell unter Verdacht gestellt.

So läuft seit 2016 im Verwaltungsgebiet Oslo ein sogenanntes Kindergehirnschutz-Projekt, bei dem im Kindergarten den Kleinen genaue Fragen zum Verhalten der Eltern gestellt werden, um gegen eine Schädigung gleich einschreiten zu können.

Das Barnevernet hat im vergangenen Jahr über 55.000 Mal interveniert, bei über 15.000 Fällen kam es zu einer temporären oder langfristigen Ortsveränderung bei dem betreffenden Kind oder dem Jugendlichen.

Die Oppositionspolitiker haben den zuständigen Minister nun aufgefordert, sich im norwegischen Parlament einer Debatte zu stellen. Die liberale Senterpartiet verlangt eine umfassende Reform der Einrichtung, die auch deswegen kritisiert wird, da ihr es an qualifizierten Mitarbeitern mangele.

Besonders ausländische und ärmere Familien sind betroffen

Besonders Familien aus dem Ausland oder gemischte Ehen sind betroffen, da sie ein anderes Verhältnis zu Kinderrechten durch ihren kulturellen Hintergrund mitbringen. Aber wohl auch weniger begüterte Eltern, die sich die Anwälte, die sich mittlerweile auf Barnevernet-Fälle spezialisiert haben, nicht leisten können. Wenden können sich Betroffene an inländische und internationalen Organisationen, oder sich auf Facebookseiten äußern, die sich gegen die Behörde aussprechen.

Darum gibt es in Norwegen auch Stimmen, die in der Wut der Eltern und deren Anhänger ein gesellschaftliches Problem sehen, wie etwa die Jura-Professorin Elisabeth Gording Stang, welche eine kollektive Hetze gegen die Behörde und auch gegen die Adoptiveltern, die Kinder aufgenommen haben, am Werk sieht. Besonders in einem Fall, wo das Gericht in Straßburg den Kindesentzug und die Adoption als Menschenrechtsverletzung verurteilt hat, verlangen nun die Betroffenen und Kritiker die Rückgabe des Kindes an die leiblichen Eltern. Auch gibt es Kommentare in den Zeitungen, die sich für eine größere Kompetenz der Behörde aussprechen, um wirklich jedes mögliche Leid der Kinder abwenden zu können.

Nach Marius Reikeras, dem bekanntesten norwegischen Aktivisten gegen das Barnevernet, ist in den anderen skandinavischen Ländern der Fürsorge-Entzug vornehmlich temporär, während es in Norwegen lange Zeit bei einer Wegnahme des Kindes keine Chance gegeben hätte, dieses wieder zurück zu bekommen. Erst durch den öffentlichen und internationalen Druck, vor allem nach dem Fall Trude Lobben, habe sich etwas geändert.

Der ehemalige Anwalt, dem die Lizenz entzogen wurde, erklärte auf Anfrage, dass Norwegen sehr viel Geld in den sozialen Sektor pumpe, "um vielen Menschen Arbeit zu verschaffen, gleichzeitig gibt es eine Arroganz in der norwegischen Politik gegenüber europäischen Institutionen". Nach seiner Ansicht wird das Ministerkomitee des Europarates Norwegen jedoch zwingen können, die Urteile von Straßburg umzusetzen.

Astrid Lindgren und die Kinderrechte

Die Idee der Kinderrechte ist in Skandinavien jedenfalls stärker ausgeprägt, als in anderen Ländern. Dies liegt auch an der schwedischen Autorin Ellen Key, die sich in dem damals sehr populären Buch "Das Jahrhundert des Kindes" (1900 in Schweden verlegt, 1902 in Deutschland) , vehement gegen die Prügelstrafe einsetzte, da es das Kind zu einem Sklaven erziehe.

Die Eltern müssten jedoch unter einer Auslese "Survival of the fittest" stehen, sie beruft sich dabei direkt auf Darwin und Nietzsches Idee vom Übermenschen. Nur wirklich geeignete Eltern soll die Erziehung möglich sein, heißt es in dem Kapitel "Das Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen". Die Schriftstellerin Astrid Lindgren, ein großer Fan der Theoretikerin, illustrierte deren Ideen mit ihren Kinderbüchern, in denen Eltern zumeist nur Nebenrollen spielen und die Kinder ihre Probleme selbst lösen und den Erwachsenen meist überlegen sind.