"Die Klimabewegung muss raus aus der Moralfalle"

Matthew Huber über Umweltbewegungen in der Moralfalle, marktwirtschaftliche Reformen und die Chancen für einen "Green New Deal"

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Der Geograf Matthew Huber unterrichtet an der Syracuse University im Bundesstaat New York. Er ist Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA), einer linken Strömung innerhalb der Demokratischen Partei. Dort engagiert er sich vor allem in der "Arbeitsgruppe Ökosozialismus".

Matt Huber, Sie kritisieren die bestehenden ökologischen Protestbewegungen. Warum?

Matthew Huber: Ihre Anstrengungen finde ich durchaus anerkennenswert. Aber wir müssen leider feststellen, dass sie nicht genügen. Wir verlieren diesen Kampf. Die Emissionen von Treibhausgasen waren im Jahr 2018 auf einem Rekordniveau und steigen weiter. Das Artensterben geht ungebremst weiter. Deswegen müssen wir strategisch überlegen, wie wir das Steuer noch herumreißen können - und das geht meiner Meinung nach nur, wenn wir nicht nur die Klimafrage, sondern gleichzeitig die soziale Frage angehen.

Aber die Klimakrise bedroht doch uns alle, ob nun arm oder reich. Umweltbewegungen müssen versuchen, breite Mehrheiten für ihr Anliegen zu finden. Es geht ja um nicht weniger als um das Überleben unserer Gattung - oder nicht?

Matthew Huber: Umweltschutz interessiert vor allem Mittelschichten. Er ist ein Kernanliegen von Angestellten aus der "professional-managerial class", wie die Soziologen Barbara und John Ehrenreich sie genannt haben, akademisch vorgebildete Lehrer und Dozenten, Juristen, Journalisten, Sozialarbeiter. Sie stellen die soziale Basis der ökologischen Bewegung, aber natürlich nur eine Minderheit in der Bevölkerung.

Aber wir brauchen eine Massenbewegung, um die Erderwärmung abzumildern. Nur sie kann die mächtigsten Kapitalgruppen zu Zugeständnissen zwingen, die das gegenwärtige System aufrecht erhalten wollen. Aus der Geschichte wissen wir, dass dazu nur die Arbeiterklasse in der Lage ist.

Nun wollen auch die dicke Autos fahren und zweimal im Jahr in den Urlaub fliegen. Wenn wir die Treibhaus-Emissionen senken wollen, geht das einfach nicht mehr. Wieso sollten sich Arbeiterinnen und Arbeiter dafür einsetzen, die Emissionen zu senken, obwohl sie damit ihren eigenen Lebensstandard gefährden?

Matthew Huber: Eben das darf nicht passieren. Die Industrie konnte Generationen lang alle wirksamen Reformen verhindern, indem sie den Leuten eingeredet hat, dass mehr Umweltschutz sie teuer zu stehen kommt. Wir brauchen eine Klimabewegung, die der Bevölkerungsmehrheit nutzt, nicht sie belastet.

"Wir sollten die Reichen besteuern, nicht CO2-Moleküle"

Wir wissen aus empirischen Studien, dass in Deutschland Umweltbewusstsein und Ökobilanz umgekehrt korreliert sind: Je stärker das Problembewusstsein ausgeprägt ist, umso mehr Emission durch den eigenen Konsum. (Dies liegt insbesondere an den höheren Heizkosten durch größere Wohnungen und den Fernreisen.) Trotzdem propagieren gerade Wohlhabende einen "ethischen Konsum" und erklären Umweltzerstörung zu einer Frage der persönlichen Verantwortung. Mittlerweile nehmen einige Fluggesellschaften Spenden an und leiten sie an Projekte zur Wiederaufforstung weiter, um die entstandenen Emissionen auszugleichen. Ein gutes Gewissen kann man sich leisten - wenn man es sich leisten kann.

Matthew Huber: Bei meinen Studierenden erlebe ich immer wieder, dass Konzepte wie "ökologischer Fußabdruck" oder "persönliche Ökobilanz" völlig selbstverständlich geworden sind. Aber in Wirklichkeit sind sie das überhaupt nicht. Diese Begriffe entsprechen der neoklassischen Lehre, die bekanntlich alles auf die Vorlieben von Konsumenten zurückführt und außer der Dynamik von Angebot und Nachfrage keine Triebkräfte kennt.

Aber die Art der Mobilität beispielsweise oder das Angebot von Nahrungsmitteln sind gesellschaftliche Fragen. Wer kontrolliert die Produktion der Nahrungsmittel? Wer profitiert von der Herstellung des Autos? Wir sind eben nicht alle gleich - und daher auch nicht gleichermaßen verantwortlich. Nur eine vergleichsweise kleine Gruppe hat die Macht und den Einfluss, das Energiesystem und unser ganzes Verhältnis zur Natur zu prägen. Sie beruhen nicht auf Kaufentscheidungen im Supermarkt. Daher bin ich auch gegen CO2-Steuern: Wir sollten die Reichen besteuern, nicht Moleküle.

Warum gelten dann Emissionshandel und Besteuerung als umweltpolitischen Königsweg?

Matthew Huber: So ließ sich eine staatliche Regulierung vermeiden. Sie entsprechen zudem der Logik nach Endverbraucher für die umweltschädliche Produktion verantwortlich sind. Als in der 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten ein Recycling-System eingeführt wurde, stand zur Debatte, wer eigentlich dafür bezahlen muss. Damals argumentierte der Verband der Verpackungsindustrie: "Wenn ich ein Produkt kaufe, bin ich der Verschmutzer. Daher sollte ich auch verantwortlich für die Entsorgung sein." Genau das ist die Logik der individuellen Ökobilanz.

In Deutschland und Großbritannien kritisieren viele Linke die Bewegung Extinction Rebellion (XR), die Blockaden organisiert. Was halten Sie von denen?

Matthew Huber: Diese Bewegung ist in den Vereinigten Staaten nicht sehr aktiv, und ich habe mich mit ihnen auch nicht intensiv befasst, daher sind meine Eindrücke mit Vorsicht zu genießen. Gut finde ich, dass sie den Ernst und die Dringlichkeit betonen, weil uns die Zeit tatsächlich davon läuft. Gut finde ich auch, dass sie auf direkte Aktionen setzen, um politischen Druck aufzubauen. Mir scheint allerdings, dass auch diese Bewegung eine Schlagseite zur Mittelschicht hat. Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie sehr sie die wissenschaftliche Wahrheit betonen und sich an den Klimaleugnern abarbeiten.

"Wir brauchen eine disruptive Macht, um den Klimawandel zu begrenzen"

Naomi Klein und US-amerikanische Aktivisten haben den Begriff Blockadia geprägt. Dabei dachten sie an Aktionen entlang der Wertschöpfungskette der Industrie, die fossile Brennstoffe fördert oder besonders stark auf ihr beruht. In Deutschland entsprechen dem die Proteste von "Ende Gelände" und ähnlichen Gruppen. XR versucht, den Alltag lahm zu legen, statt eine Bank, eine Aktionärsversammlung oder einen Konzern.

Matthew Huber: Wir müssen vorsichtig sein, dass unsere Blockaden nicht die Bevölkerung gegen uns aufbringen. Wobei ich diese Aktionsform trotzdem für legitim halte, nur muss sie eben strategisch funktionieren. Das Problem an Blockadia insgesamt ist, dass solche Aktionen nicht auf die Macht von Beschäftigten setzen, sondern von außen kommen. Damit meine ich nicht, dass die Beschäftigten im Bergbau oder einer Ölraffinerie ihr eigenes Unternehmen bestreiken sollen, obwohl das natürlich ideal wäre. Bei uns in Amerika haben die Lehrerstreiks in West-Virginia - übrigens ein erzkonservativer Staat - innerhalb von nur zwei Wochen enorme Erfolge erzielt, einfach weil sie die Schulen und damit die Arbeit der Eltern zum Stillstand brachten. Diese disruptive Macht brauchen wir, um den Klimawandel zu begrenzen.

Viele in den Klimabewegungen fordern, Umweltschäden bei der Produktion einzupreisen. Das bekannteste Beispiel ist die CO2-Steuer. Sie lehnen dagegen umweltpolitische Maßnahmen, die auf Marktmechanismen setzen, ab. Warum?

Matthew Huber: Abgesehen davon, dass sie bisher in der Praxis offensichtlich versagt haben? Die marktwirtschaftlichen Öko-Reformen beruhen auf der Vorstellung, derzufolge der Markt effizienter, flexibler und schneller ist als Gesetze und Vorgaben. Aber in der Rückschau stellen wir fest, dass die zentralstaatliche Regulierung wirklich erfolgreich war, wenigstens in den USA. Der "Clean Air Act" und der "Clean Water Act" haben Wirtschaftsbranchen von Grund auf umgestaltet und die Unternehmen gezwungen, die Umwelt deutlich weniger zu verschmutzen. Beim Klimawandel ist es genauso.

Gut, ich gebe zu, vielleicht wäre es in den 1980er Jahren möglich gewesen, mit einem ausgefuchsten System einen Preis für Kohlenstoffdioxid festzulegen oder einen Emissionshandel aufzubauen, der das Problem gelöst hätte. Jetzt ist es dafür zu spät. Laut dem Weltklimarat (IPPC) haben wir noch elf Jahre Zeit, um eine durchschnittliche Erwärmung von mehr als 1,5 Grad Celsius abzuwenden.

Um die Emissionen zu senken, müssen wir unsere Gesellschaft von Grund auf umgestalten. Wir brauchen Maßnahmen wie im 2. Weltkrieg, als die Regierung ganze Industriezweige unter Aufsicht stellte und lenkte, wir brauchen klare Vorgaben für die Dekarbonisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Noch wichtiger als der Zeitdruck scheint mir aber ein anderes Argument: Diese Reformen treffen in der Regel die Falschen. Um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen, sagt das IPCC, müsste pro emittierter Tonne Kohlendioxid ein Preis zwischen 135 bis 5 500 US-Dollar bezahlt werden (entspricht 121 bis 4926 Euro). Dagegen würden nicht nur die Unternehmen, sondern auch die einfachen Leute rebellieren. Der Preisanstieg würde besonders besonders diejenigen belasten, die ohnehin genug Probleme haben. Leute in der Arbeiterklasse hören das Wort "Steuer" oder "Obergrenze" und denken sofort, sie werden darunter leiden müssen. Im liberalen, ökologisch bewussten Bundesstaat Washington ist genau aus diesem Grund eine Volksabstimmung für eine CO2-Steuer zweimal klar gescheitert.

"Wie in den 1930er Jahren müssen wir wieder den Kapitalismus vor sich selbst retten"

Sie gehören zu den Linken die auf den "Green New Deal", setzen, eine Wirtschaftspolitik, die sich an das historische Investitionsprogramm des US-Regierung in der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren anlehnt. Warum?

Matthew Huber: Ob Umweltaktivisten es wollen oder nicht, ihre ökologische Forderungen klingen oft nach Austerität. Sie sagen zu den Leuten: "Du musst dich einschränken du sollst weniger konsumieren, sonst musst du dich schämen " Der "Green New Deal" ist anders. Er beinhaltet auch eine radikale Senkung der Emissionen, aber eben auch Jobs und eine allgemeine Krankenversorgung, Dinge, die den Menschen unmittelbar nutzen.

Ein Beispiel: Wir haben viel zu wenig bezahlbare Wohnungen, weil die Mieten hierzulande durch die Decke gehen. Mit Investitionen im Rahmen des "Green New Deal" können wir moderne Wohnungen bauen, um Heizkosten zu sparen und die Heizsysteme auf Strom umzustellen, Gebäude, die extremere Wetterlagen aushalten und so weiter. Wir müssen den öffentlichen Nahverkehr ausbauen und billiger machen.

Wir brauchen Stromleitungen für die erneuerbaren Energiequellen - aber warum soll der Strom dann teurer sein als zuvor statt billiger? Ich lebe in einem wirklich armen Viertel in meiner Stadt, aber ich bin mir sicher, meine Nachbarn kapieren, wenn ihre Stromrechnung sinkt, selbst wenn sie nicht den Treibhauseffekt verstehen. Für all das brauchen wir einen Haufen Geld, und das heißt: Umverteilung.

Sie fordern nicht nur staatliche schuldenfinanzierte Investitionen - was ja wegen der abflauenden Weltkonjunktur beispielsweise der Weltwährungsfonds und viele Mainstream-Ökonomen ebenfalls wollen -, sondern auch ein ziemlich radikales politisches Programm inklusive einer öffentlichen Kontrolle der entscheidenden Infrastrukturen Wasser, Energie und Verkehr, die gemeinnützig statt profitabel wirtschaften sollen.

Matthew Huber: Wie in den 1930er Jahren müssen wir wieder den Kapitalismus vor sich selbst retten. Während des "New Deal" wurden gewaltige Wasserkraftwerke und Dämme errichtet. Das "Rural Electrification Program" brachte Stromnetze auch in ländliche Gegenden, die für die privaten Unternehmen uninteressant waren. Diese Politik war außerordentlich populär. Die Leute haben erlebt, wie in ihrer Nachbarschaft investiert und gebaut und ihr Alltag dadurch besser wurde. Der "Green New Deal" muss genauso funktionieren. Die Menschen müssen sagen: "Ach ja, Green New Deal, das ist doch dieses Ding, wo mein Onkel diesen Job gekriegt hat!"

Sie engagieren sich im Vorwahlkampf für Bernie Sanders. Glauben Sie wirklich dass er als Präsident ein solches Programm umsetzen würde? Selbst wenn er es wollte, wäre er innerhalb der Demokratischen Partei dazu in der Lage?

Matthew Huber: In vielen Reden betont Sanders, dass er selbst als Präsident diese Forderungen nicht alleine umsetzen könnte, sondern nur unterstützt von einer aktiven und konfliktbereiten Massenbewegung. Wer weiß? Natürlich müsste sich die Demokratische Partei von Grund auf verändern und ganz neue Wählerschichten gewinnen.

Viele würden einwenden, dass die Hölle zufriert, bevor das passiert.

Matthew Huber: Wir dürfen nicht unterschätzen, wie tief die gegenwärtige ökologische und wirtschaftliche Krise ist und welche katastrophalen Folgen sie noch haben wird. Immer mehr Menschen wird klar werden, dass wir schnelle Lösungen und eine echte Transformation brauchen.