Noch ein Video und noch ein Video und noch ...

Screenshot aus dem von RBB24 veröffentlichten Video einer Überwachungskamera

Im Untersuchungsausschuss des Bundestages tauchen Aufnahmen auf, die vor dem Anschlag vom Breitscheidplatz gemacht wurden und den späteren Tatort zeigen

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In den Händen mehrerer Sicherheitsbehörden befindet sich ein Video, das Anfang Dezember 2016, mehrere Tage vor dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, aufgenommen wurde und den späteren Tatort sowie die Zufahrtsstrecke zeigt, die der Tat-LKW am 19. Dezember 2016 genommen hat. Auch die Bundesregierung soll seit langem davon wissen. Das wurde am Donnerstag vor Beginn der Ausschusssitzung im Bundestag bekannt. Die Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) waren vor einigen Tagen darauf gestoßen und konnten das Video sowie drei weitere Videos vor zwei Tagen in Augenschein nehmen.

Dieses sogenannte "Breitscheidplatz-Video" wurde vom parallel zum Platz an der Gedächtniskirche verlaufenden Bikini-Hochhaus aus aufgenommen. Nach Auskunft von Ausschussmitglied Martina Renner (Linke) halte ein Schwenk des Urhebers die Einfahrtsstrecke des LKW fest und markiere einen Punkt am anderen Ende des Platzes, zu dem der LKW wohl hätte fahren sollen, aber nicht so weit gekommen ist, weil er vorher nach links auf die Straße ausgebrochen ist. Wer das Video aufgenommen hat und wann genau es aufgenommen wurde, ist bisher nicht bekannt.

Es kann aber ein relevantes Indiz dafür sein, dass der Anschlag mit 12 Toten und dutzenden Verletzten eben nicht von einem Alleintäter und relativ spontan begangen wurde, sondern eher von einer Gruppe mit einer langen Planungsphase vorher. In gewisser Weise korrespondiert das "Breitscheidplatz-Video" mit den "Breitscheidplatz-Fotos", die auf dem Handy des Amri-Komplizen Bilel Ben Ammar nach dem Anschlag gefunden wurden, die aber bereits im Februar 2016 gemacht worden waren. Sie zeigen ebenfalls Straße, Zufahrt, Poller des Platzes und könnten nach Einschätzung von BKA-Ermittlern als Ausspähfotos getaugt haben.

Das jetzt bekannt gewordene Video zählt zu insgesamt vier Videos, die einer deutschen Sicherheitsbehörde Ende Dezember 2016 von einem ausländischen Nachrichtendienst zur Verfügung gestellt worden waren. Die drei anderen Videos zeigen den mutmaßlichen Attentäter Anis Amri. Mit drei Jahren Verzögerung war ihre Existenz Anfang Oktober 2019 bekannt geworden. Eines dieser Videos firmiert als "Drohvideo", weil es Amri mit der Pistole in der Hand zeigt, mit der der polnische LKLW-Fahrer erschossen wurde. Außerdem soll Amri eine Tötungsgeste machen (Ein Terroranschlag, ein Video und die Frage, wer eigentlich die Ermittlungen führt).

Nun also vier statt zwei Videos. Bisher sollen die drei Sicherheitsbehörden Bundesnachrichtendienst (BND), Bundesverfassungsschutz (BfV) und Bundeskriminalamt (BKA) die Videos in ihrem Besitz haben, nicht aber die Bundesanwaltschaft (BAW), weil das Material angeblich von dem befreundeten Partnerdienst nicht für ein rechtsstaatliches Verfahren freigegeben worden sein soll. Die Bundesregierung soll von den Videos mit einigen Wochen Verzögerung im Februar 2017 erfahren haben.

Über das neue, das sogenannte Breitscheidplatz-Video, könnten sie öffentlich reden, so mehrere Abgeordnete aus dem Ausschuss, weil es eine eigenständige Auswertung von Daten aus der Google-Cloud durch das BKA gegeben habe. Allerdings ist eine ganze Reihe von Fragen nach wie vor unbeantwortet. Zum Beispiel wer die jeweiligen Videos aufgenommen hat, wann der ausländischen Nachrichtendienst sie erhielt und um welchen Dienst es sich handelte?

Unklar geworden seien aber auch die genauen Abläufe, welcher deutscher Geheimdienst das Material zuerst erhielt: der BND, der es dem BfV weitergab, oder umgekehrt oder vielleicht beide zeitgleich? - so das Ausschussmitglied Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen). An der Frage hängt möglicherweise die Herkunftsquelle des Materials. Dass das nicht mehr nachvollziehbar sein soll, glaube sie nicht, so Mihalic, für sie sei das ein offensichtliches Konstrukt.

Der Sachverhalt sei der entscheidende Knackpunkt für die gesamte Aufklärung der Frage, ob irgendeine Stelle, die in der Lage gewesen wäre einzugreifen, vor dem Anschlag Kenntnis von den Inhalten der Videos bekommen hatte. Und dass das verunklart werde, sei ein unmöglicher Vorgang.

Exekutive außer Kontrolle?

Die Abgeordneten äußerten ihre Befremdung darüber, dass bei den genannten Sicherheitsbehörden nicht protokolliert worden sei, wer die Videos von wem entgegennahm. Beim BfV sollen auch die Logdaten der Videos nicht mehr vorliegen. Verärgert zeigten sich die Parlamentarier, dass die Vertreter der Bundesregierung so gut wie keine Frage beantworten konnten. Ausschussmitglied Benjamin Strasser (FDP) wählte das Bild: Die Schlinge um den Hals der Bundesregierung ziehe sich enger, was das Thema Verantwortung angehe.

Für die Abgeordneten stellt sich aber auch die Frage, ob Sicherheitsbehörden ihre Informationspflichten gegenüber den verantwortlichen Ministerien verletzt haben. Im Klartext: Hat der Sicherheitsapparat an der politischen Führung vorbei gehandelt beziehungsweise gegen sie. Das hieße, eine Exekutive außer Kontrolle.

Wenn schon eine Regierung nicht von ihren eigenen Behörden informiert wird, dann kann man sich erst Recht nicht darüber wundern, dass mit einem Gremium des Parlamentes drei Jahre lang dasselbe geschieht - die Abgeordneten stehen am Ende der Beutekette. Was dabei aber zu besichtigen ist, ist eine Demokratie, die geopfert wird.

Ganz nebenbei wirft der Vorgang um die Videos für die Abgeordneten aber auch ein fahles Licht auf die offizielle Chronologie des Amri-Komplexes. Sie ist mindestens fehlerhaft, wenn nach dem jetzigen Kenntnisstand nicht sogar eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit - jedenfalls aber wertlos.