Die Vereinigten Staaten des Organisierten Verbrechens

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Es war einmal in Amerika: Martin Scorsese Meisterwerk "The Irishman" ist ein Nachruf aufs 20. Jahrhundert

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You don’t know how fast time goes by until you get there.
Frank Sheeran; in: "The Irishman"

Dies ist ein Abgesang. Ein Requiem und bittere Totenmesse. Man trauert nicht um den Toten, sondern um den Traum, den er repräsentierte. Den Traum von Amerika als Land der Gleichheit. Dies ist unter der Maske einer persönlichen Geschichte aus dem Mafiamilieu eine alternative, ergänzende, geheime Geschichte Amerikas.

Eine Geschichte, die am Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt, als die Kämpfer wiederkehren und auf eine gewisse Weise ähnlich kaputt sind - "traumatisiert" ist da eher das diagnostische Modewort unserer Therapie-Gesellschaft - wie die Wehrmachtsangehörigen der besiegten Deutschen. Sie kulminiert in den frühen sechziger Jahren mit der Wahl John F. Kennedys und nur wenige Wochen später mit dem Desaster des gescheiterten CIA-gestützten Landungsunternehmens exilkubanischer Söldner in der kubanischen Schweinebucht, der darauffolgenden Kuba-Krise und der Jagd seines Bruders, des Justizministers Robert Kennedy, auf den mafiösen Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa. Es folgen die Morde an den Kennedys (war es doch die Mafia?) und Watergate.

Dies ist eine komplizierte Geschichte, die die Einsichten des bedeutenden USA-Deuters Alexis de Tocqueville ("Über die Demokratie in Amerika") bestätigt, dass der demokratische Staat seine eigene Aristokratie ausbildet. Nicht alles ist neu, vor allem Sergio Leones "Once Upon a Time in America" hatte die Cuba-Connection bereits angedeutet, und die Liebe der Mafia zu Florida stark betont.

Mafia - ein Organisationsprinzip aller Minderheiten

Die Essenz des Mafiafilms ist nicht in erster Linie das organisierte Verbrechen oder die Gewalt, die sein Fundament ist, sondern die ethnische Formatierung der US-amerikanischen Gesellschaft. Auch dies sah bereits Tocqueville mit Präzision: "Der Grundsatz der Gleichheit begünstigt die Aufsplitterung der Amerikaner in eine Masse kleiner Gruppen."

The Irishman (10 Bilder)

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Der "Schmelztiegel" mag nicht nur ein Mythos sein, er funktioniert auch nicht unmittelbar, sondern nur mittelfristig und unter bestimmten Bedingungen. Schon Leone hatte das im Kino gezeigt, indem er die Selbstverständlichkeit, mit der "Mafia" mit "italienisch" gleichgesetzt wurde, aufhob. Es folgte Brian De Palmas "Scarface", dann Scorsese selbst, dann andere.

Nun wussten die Kinogänger: Es gab auch eine irische, eine jüdische, eine russische, eine Latino-Mafia, es gab die Chinesen und die Japaner. Spike Lee vermied es leider, von der schwarzen Mafia zu erzählen. Das übernahm fürs allgemeine Bewusstsein dann der Brite Ridley Scott mit "American Gangster", dessen Drehbuchautor Steven Zaillian jetzt auch das Script zu "The Irishman" geschrieben hat. Vorher hatte es das nur im Undergroundkino des "Blaxploitation" gegeben und in einzelnen Filmen wie John Sigletons "Boyz n the Hood", wie "Deep Cover" (1994, von Bill Duke) und "Juice" von Ernest Dickerson.

Am Ergebnis ändert das nichts. Mafia war, kurz gesagt, ein Organisationsprinzip: Das Organisationsprinzip aller Minderheiten; aller, die nicht weiß und protestantisch waren. Mafia ist der Name für die Machthaber der Gesellschaft der Outsider. Hier herrscht archaische Stammesmentalität vor, die die Behauptungen des amerikanischen Universalismus negiert.

Glamour und Verderben

Der Film beginnt mit einer einzigen großartigen, wunderschönen langen Kamerafahrt: Die Kamera fließt. Sie fließt wie ein langer ruhiger Fluss, verlässlich, nie stehenbleibend, mal schnell und zuckend wie ein Gebirgsbach um kleine Stromschnellen, dann wieder verbreitert sie sich zu einem Delta, dreht sich um sich selbst und der Blick des Zuschauers erfasst die ganze Szene. Es ist die minutenlange Auftaktsequenz zu einem Film, der sich alle Zeit nimmt und sich auch sonst den Gesetzen des Gegenwartskinos verweigert.

Die Kamera fließt durch Korridore und um Ecken, begleitet von einem Radiohit aus früheren Jahren, dem Lied "In the Still of the Night". Aber im Gegensatz zu einigen sehr ähnlichen Sequenzen aus früheren Filmen Martin Scorseses, die zur unverwechselbaren Handschrift dieses Regisseurs und seiner Kameramänner Michael Ballhaus und Robert Richardson gehören - befinden wir uns weder in einem Nachtlokal noch in einer Spielhölle, sondern in einem Altenpflegeheim. Statt Kellnern und Musikern, statt dienenden Männern und Frauen sieht man Ärzte und Pfleger. Das Leben zeigt sich von seinen unangenehmsten Seiten. Scorsese wendet in diesem Film das Innere all seiner früheren Filme gegen diese selbst.

In dem Raum, in dem die virtuose Kamerafahrt schließlich zum Stillstand kommt, wartet ein alter Mann in einem Rollstuhl. Der Tod ist nahe. In den nächsten dreieinhalb Stunden wird er diesen Tod noch einmal aufhalten, indem er seine Geschichte erzählt. Mal witzig, mal schrecklich, vor allem absurd in ihrem Ineinandergreifen von Witz und Schrecken. Aber immer dunkel. Schluß mit lustig. Scorsese stülpt in diesem Film das Innere all seiner früheren Filme und wendet es - zumindest ein wenig - gegen diese selbst. Der Tod ist nahe.

Man sollte daher alles vergessen, was man zu wissen glaubt und erwartet von einem Film von Martin Scorsese. Zwar löst "The Irishman" alles dies ein. Der 25. Spielfilm des italoamerikanischen New Yorker Meisterregisseurs, der seit 45 Jahren, seit seinem Welterfolg "Taxis Driver", zu den besten Kinokünstlern seines Landes gehört, der ein Dutzend maßgeblicher, auch stilprägender und stargespickter Werke gedreht hat und trotzdem immer auf Distanz zu Hollywood blieb, ist über zweieinhalb Stunden ein sehr unterhaltsamer Gangsterfilm. Intelligent und kurzweilig, bezaubernd charmant - und bezaubernd altmodisch.

Vor allem darin, wie er ungerührt, so romantisch und liebevoll wie zugleich klarsichtig und kritisch von einer Handvoll knallharter Männer erzählt, deren Leben aus Männerrivalitäten besteht, aus Protzen und Angeberei, aus schicken Anzügen, glänzenden Autos und schönen Frauen, aus Drinks und Knarren. Und aus einem immer schon fragwürdigen Ehrbegriff, der nicht nur viel mit Frauen und Verbrechen zu tun hat, sondern noch viel mehr und vor allem mit der Fähigkeit zu schweigen.