Sisyphos und der Aktenzugang

Adolf Eichmann im Prozess in Israel 1961. Bild: GPO/USHMM

Es gibt kein Recht auf die historische Wahrheit - Neues vom Mai 1960 - Teil 2

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In Argentinien wurde zu Zeiten der peronistischen Regierungen die schreibende Zunft wahrlich malträtiert: ohne Pressekonferenzen, kaum Auskünfte aus den Ministerien und kein Gesetz für Informationszugang, wie in Chile und Uruguay. Ich hatte es trotzdem versucht und, unter Berufung auf die Verfassung, auf Auskunft geklagt, und war vor Gericht kläglich gescheitert. 2015 trat Präsident Mauricio Macri sein Amt an und versprach vollmundig Transparenz. Kurze Zeit später verabschiedete er das "Gesetz für den Zugang zur öffentlichen Information". Nun sollte die Verwaltung grundsätzlich zur Auskunft verpflichtet sein, nur wenige Ausnahmen wurden erlaubt; im Zusammenhang mit Völkermord sollte es gar keine Einschränkungen geben.

Ich recherchiere schon länger zu der Eichmann-Entführung, die ich für die Mutter aller Fake News halte. Laut offizieller Geschichtsschreibung will der Mossad den Kriegsverbrecher Adolf Eichmann im Mai 1960 nach Israel entführt haben (Teil 1: Der gescheiterte Abrüstungsgipfel in Paris, illegale Atomwaffentests der USA in Patagonien und Adolf Eichmann).

Mossad-Chef Isser Harel schrieb über seine "Heldentat" einen Roman, ohne Fußnoten und Belege. Wissenschaftler nahmen das Machwerk als seriöse Quelle an, ohne Originalunterlagen einzufordern oder selbst den Sachverhalt zu ergründen. Andere Historiker schrieben ab, es entstand eine regelrechte Eichmann-Forschung, Filme und Dramen mit großer Besetzung entzücken weltweit die Herzen. Und nicht zuletzt setzte die Mär eine internationale Diskussion über Menschenrechte in Gang. Wenigstens in Sachen Desinformation hat der Mossad ganze Arbeit geleistet.

Kein Recht auf historische Wahrheit

Wie können mediale Großbetriebe gezwungen werden, ihre falschen Darstellungen zu widerrufen? In der ganzen Welt fallen die journalistischen Standards. Dabei gilt nach wie vor: Ein guter Journalist unterscheidet sich von einem schlechten darin, indem der Gute versucht, sich der Wahrheit zu nähern, indem er sich aus möglichst vielen und unterschiedlichen Quellen informiert. Ein schlechter Journalist schreibt ab, aus den Pressemitteilungen oder aus dem Internet, lässt sich von Politikern zu Empfängen mit Häppchen und Sekt einladen und wird Chefredakteur.

Das Widerlegen der herrschenden Geschichtsschreibung besteht im zeitraubenden Sammeln von Belegen, bis jemand der Lüge überführt werden kann - wie bei einem Puzzle. Und selbst, wenn die "smoking guns" vorliegen, folgt daraus noch lange nicht der Widerruf der offiziellen Geschichtsschreibung. Die katholische Kirche predigt bis heute die unbefleckte Empfängnis und über eine Milliarde Menschen glauben an sie.

Galt es früher als Professionalität, Fehler richtig zu stellen, werden heute "rauchende Colts" einfach ignoriert, ausgesessen. Dies passiert gerade beim Thema "Einzeltäterschaft beim Reichstagsbrand", auch keine Nebensächlichkeit für die deutsche Geschichtsschreibung. Da tauchte vor kurzem die eidesstattliche Versicherung eines Mittäters auf. "Der Spiegel" und die Springer-Presse, die die Einzeltäterthese in die Welt gesetzt hatten, schweigen weiter. Niemand kann sie zur Richtigstellung zwingen, denn es gibt kein Recht auf die historische Wahrheit.

2008 hatte ich den BND auf Herausgabe seiner Eichmann-Akten verklagt - das erste Verfahren dieser Art - und erhielt von 4000 Blatt etwa 3900. In den USA habe ich diverse Archive eingesehen, nachdem ich 2010 Einreiseverbot erhielt, halfen mir dort Historiker. In Russland versucht "Team 29" an die Dokumente vom Mai 1960 heranzukommen, eine beschwerliche Aufgabe. In Israel hat Rechtsanwältin Lea Tsemel für mich Einsicht beantragt und erhielt vom Prime Minister's Office die Auskunft (deutsch), dass die Eichmann-Akte geheim sei und ihre Freigabe die nationale Sicherheit gefährde.

Neues Gesetz zur Informationsfreiheit in Argentinien

Nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes stellte ich in Buenos Aires erneut einen Antrag beim Außenministerium. Für Rechercheure besteht das Hauptproblem darin, dass man uns die Beweispflicht auferlegt: Wir sollen angeben, welche konkreten Akten wir wollen und wo sie liegen, am liebsten mit Aktenzeichen. Gleichzeitig verweigern uns die Verwaltungen den Zugang zu den Findmitteln, den Registern.

Ich hatte aber zuvor in den Unterlagen des Geheimdienstes DIPPBA, die nach der letzten Militärdiktatur beschlagnahmt wurden und in einer Gedenkstätte aufbewahrt werden, einen Bericht gefunden, in dem Details sowie die Namen der Eichmann-Entführer - hohe Mitglieder der argentinischen Regierung (dazu mehr am Mittwoch "Onkel Arturo und der Mossad) - aufgelistet sind und ein Vertrag ("tratado") zwischen Argentinien und Israel erwähnt wird. Der Vermerk hatte wahrscheinlich die Zensur überlebt, weil er in einer Akte lag, die sich gegen die katholische Kirche richtete. Im öffentlichen Archiv des Außenamtes fand ich zudem eine Liste über den Telex-Austausch zwischen dem Ministerium und dem Konsulat in Tel Aviv. Danach sind ab Mitte Mai 1960 zahlreiche Depeschen geheim, "cifrado".

Das Ministerium teilte mit, dass es die Papiere leider nicht finde. Es folgte der Widerspruch. Das dauert, Fristen müssen eingehalten werden. Zum Glück unterstützt mich der Verein der Auslandskorrespondenten, sein Präsident Dante Reyes schreibt für chilenische Medien und unterrichtet Jura an der Universität.

Ich bat um ein Gespräch im Außenministerium und nahm Rechtsanwalt Reyes und eine Notarin mit, die das Ergebnis amtlich protokollierte. Der Abteilungsleiter für den Nahen Osten, Germán Domínguez, servierte cafecito und meinte, dass er die erwünschten Papiere nicht kenne und nicht über sie verfüge. Auf meinen Hinweis, dass sich mein Antrag nicht an ihn, sondern an das Ministerium gerichtet hatte, antwortete er, er könne nicht ausschließen, dass sie in einer anderen Abteilung des Ministeriums liegen.

2018 reichte Rechtsanwalt Reyes Klage vor dem Verwaltungsgericht in Buenos Aires ein und benannte Zeugen: die beiden Archivarinnen und die vereidigte Dolmetscherin für Hebräisch. Das ist in Argentinien alles sehr umständlich und dauert wieder sehr lange. Die Archivarinnen bestätigten, dass die von mir vorgelegten Papiere aus ihrem Archiv stammten. Die dort erwähnten Unterlagen müssen sich im Ministerium befinden, nicht in ihrem öffentlichen Archiv.

Das Außenamt benannte Domínguez als Zeugen, der sich weigerte, vor Gericht zu erscheinen. Er äußerte sich schriftlich. Auf unsere eingereichten Fragen gab er zu, dass es in seinem Haus Bereiche gebe, zu denen er keinen Zugang habe und deren Unterlagen er nicht kenne. Er selbst komme nur, obwohl er Ministerrang besitze, an Dokumente mit der Geheimhaltungsstufe "reservado" und "confidencial" heran, das entspricht "nur für den Dienstgebrauch" und "vertraulich". Aber nicht an "Geheime", und schon gar nicht an solche aus dem Jahr 1960.

Die Beweisaufnahme ist beendet, wir haben das Gericht aufgefordert, das Ministerium zur Herausgabe der Unterlagen zu verurteilen; sollte es sie nicht finden, dann solle es sie wiederbeschaffen, Prime Minister's Office hat ja eine Kopie. Ein Urteil erwarte ich noch in diesem Jahr.

Die Suche in den Archiven und die Prozesse in verschiedenen Ländern auf Herausgabe der Akten - alle finanziert durch Crowdfunding - haben ein ganzes Arsenal von "smoking guns" hervorgebracht. Aber die heldenhafte Eichmann-Entführung flimmert immer noch über die Leinwände und Bildschirme, sie ist ja eine hübsche Erzählung.

Man sollte es aber positiv sehen. In Deutschland gibt es erst seit 2006 das Informationsfreiheitsgesetz, in Argentinien seit drei Jahren. Seitdem ist sehr viel passiert. In Deutschland helfen zahlreiche NGOs Bürgern, die den Staat verklagen wollen. Gewiss, die Prozesse sind mühsam, und die Richter zeigen sich einsichtig, wenn Verwaltungen die Peinlichkeiten der Politik und Exekutive zu Staatsgeheimnissen erklären und verstecken wollen. Das Recht auf Wahrheit landet nicht in der Waagschale. Trotzdem gibt es kein Zurück mehr.

Schon Sisyphos wusste, dass der Felsblock, den er ewig den Felsblock hochrollte, irgendwann wieder zurückkam. Trotzdem bemühte er sich weiter. Der französische Schriftsteller Albert Camus hatte seinen "Kampf gegen Gipfel" als "ein Menschenherz ausfüllend" und Sisyphos als einen glücklichen Menschen beschrieben.

Am Mittwoch Teil 3: Onkel Arturo und der Mossad. Wer Eichmann wirklich entführt hat.

Homepage für weitere Infos von Gaby Weber.

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